Ein gewaltiger Einstand: Da wagt sich ein bis dahin mit Rollern und Mittelklasse-Enduros operierender Hersteller nicht nur in irgendein, sondern gleich mal ins harte Sportsegment um den Vergleichstest gegen teils prominenteste Konkurrenz zu gewinnen. So geschehen im Frühjahr 1998, als die Aprilia RSV Mille ihre Attacke auf Marktanteile und gegen das schlechte Image antrat, das dem italienischen Motorradbau in puncto Verarbeitungsqualität und Haltbarkeit wie ein dunkler Schatten anhängt. Mit Erfolg, wie man heute weiß.
Bis zum Jahr 2000 fand die Mille weltweit über 11000 Käufer, behauptete sich sowohl qualitativ, etwa im MOTORRAD-Langstreckentest (Heft 25/2000), als auch in der Gunst der Fahrer und Fans, gewann nicht nur zahlreiche Vergleichstests, sondern auch so manches Superbike-Rennen, schließlich hatte Troy Corser ja durchaus Titelchancen auf die Krone der 2000er Superbike-Weltmeisterschaft. Ob über 200 Modifikationen für 2001 angesichts einer so guten Ausgangslage noch einen spürbaren Fortschritt bewirken können?
Viel kultivierter, fast vibrationsfrei und mit perfekter Gasannahme agiert der frischzellengestärkte Rotax-V2 mit 60-Grad-Spreizung und zwei Ausgleichswellen. Deutlich sanfter verlaufen die Lastwechsel, kraftvoller und souveräner fühlt sich die Neue im Vergleich an, peitscht auch kaum noch, wie die Alte bei 3000/min und 7000/min, mit der Kette schon mal kein schlechter Anfang.
Die Einlassöffnung der strömungsoptimierten Airbox wuchs von 38 auf 58 Millimeter Durchmesser macht mehr als die doppelte Ansaugfläche. Im Durchmesser um zwei Millimeter gewachsene Einlassventile werden von höheren Nocken weiter geöffnet, das Layout der Einlasskanäle sowie die Kolbenböden und ihre Ventiltaschen passten die Ingenieure den Änderungen an. Ein frisch programmiertes Einspritzkennfeld sowie dickere Krümmer, ein feiner abgestimmtes Sammlerrohr und ein äußerlich nach wie vor eher klobiger, innerlich erleichterter Schalldämpfer runden die Leistungssuche ab.
Gleichermaßen 120 Pferde ECE-korrigierte, an der Kupplung gemessene Pferde bringen die Millen in Schwung, wobei die alte unten herum, die neue oben herum zorniger anreißt. Kaum messbare Fahrleistungsunterschiede bestätigen den Paarlauf der Generationen, die auch nahezu gleichviel Sprit verbrauchen. Viel Lärm um nichts also? Kaum, denn verschiedene Aspekte sprechen eindeutig für die Neue.
So ein Rotax-Twin braucht erfahrungsgemäß ein paar tausend Kilometer, um seine volle Leistungsblüte zu erreichen. Zwei, drei PS sind da sicher noch drin. Zudem reinigt die 2001er ihre Abgase per ungeregeltem Katalysator sicher ein Schritt, der die bei der modifizierung gefundene Leistung (von der ungereinigten Mille R in Heft 2/2001 demonstriert) wieder etwas kastriert, der aber angesichts der jüngst im Europa-Parlament beschlossenen Abgasgesetzgebungen für Krafträder eine Zukunft mit Vollblütern wie der Mille sichert.
Und dann bleibt ja noch das bereits erwähnte Fahrgefühl. Aprilias jüngster Sproß fühlt sich einfach stärker und kultivierter an, ist offenbar im von den Messwerten nicht erfassten Teillastbereich besser abgestimmt, reagiert (noch) spontaner und williger auf Gassignale als ihre Vorgängerin, wirkt antriebsseitig ausgereifter.
Das gilt auch fürs Fahrverhalten. Einzig die etwas stumpfen Bremsen stießen bislang auf lautstärkere Kritik. Die wurde erhört, denn was die Brembo-Anlage mit ihren vier Einzelbelägen pro Sattel an Wirkung und Dosierbarkeit offeriert, ist Referenz-verdächtig. Ganz nach Belieben kann mit einem Finger zwischen sanftem Ausrollen und Wurfankerungen gewählt werden, herrlich linear verläuft die Kennlinie aus Handkraft und Bremswirkung, Tücken wie zu hartes Einsetzen der Bremse oder Fading gibts einfach nicht.
Dass die Mille dieser Bremsleistung tadellose Bremsstabilität und eine adäquate Gabelabstimmung entgegensetzt die eigentlich auch vorbildliche Ur-Mille pumpt schon mal ganz leicht mit der Gabel und sich ganz wie ihre Mutter weder beim Bremsen noch beim Beschleunigen nennenswert aufstellt, unterstreicht ihre Mission zu harmonischem Fahren und schnellen Runden. Handlicher ist sie obendrein geworden. Nicht ganz wie ihre Schwester »R«, aber doch sehr leichtfüßig tanzt die Mille von Schräglage zu Schräglage, verbraucht nur sehr wenig Zeit, um eben diese einzunehmen. Ganz einfach: anvisieren, anbremsen, flupp, genau wie gewollt lenkt sie in den Radius ein.
Wie gesagt, schon immer eine Domäne der RSV, aber nun kurvt sie noch spielerischer. Wie kommts? Geringe geometrische Veränderungen ein halbes Grad kleinerer Lenkkopfwinkel und vier Millimeter längerer Nachlauf gehen einher mit dem um fünf Millimeter höher eingebauten Motor sowie etwas leichteren Bremsscheiben und somit geringerer Trägheit des rotierenden Vorderrades. Dies wiederum hebt der etwas schwerere vordere Dunlop D 207 RR in 120/70 ZR 17 des neuen Modells gegenüber dem leichteren wie kleineren Pirelli MTR 21 Corsa in 120/65 ZR 17 der Ur-Mille wohl wieder auf. Dafür spielt dann die Kontur der Reifen eine Rolle fürs Handling, ebenso das Gesamtgewicht der Neuen, die zum einen vollgetankt sechs Kilogramm leichter ist (18-Liter-Kunststoff- statt 20-Liter-Blechtank, 10-Ah- statt 14-Ah-Batterie, Schalldämpfer 1,5 Kilogramm leichter) und zum anderen sowohl mit als auch ohne Fahrer verhältnismäßig mehr Gewicht auf Vorderrad verlagert.
Ein unüberschaubarer Haufen Kleinigkeiten, der sich dann in leichten Handlichkeitsvorteilen äußert, wobei die Mille 2001 nichts von der bisherigen Präzision und Neutralität bei Kurvenfahrten eingebüßt hat. Dafür etwas von ihrer Fahrstabilität, denn leider fehlt beim aktuellen Modell der Lenkungsdämpfer, der an der Alten nie gestört hat und den die Neue, etwa bei Topspeed-Bodenwellen auf der Autobahn, schon brauchen könnte. Immerhin legten im Gegenzug die Federelemente noch etwas zu, wenngleich das neu abgestimmte, mit neuer Hebelei wirkende hintere Sachs-Federbein auf der Rennstrecke an die Grenzen des Einstellbereichs der Druckstufendämpfung, allerdings nicht darüber hinaus gerät. Und was will man schon mehr?
Vielleicht noch mehr Bewegungsfreiheit gerade für Langbeine, die schon immer Mühe hatten, sich auf der Mille klein zu falten. Der neue, etwas buckligere Tank macht da mit sensationell engem Knieschluss einen großen Schritt, die jetzt längere Sitzbank tut ein Übriges. So gibts massig Spiel-Raum und auch für Große besseren Windschutz hinter der stärker gewölbten Verkleidungsscheibe. Das nennt man Fortschritt.
Der engere Knieschluss und die längere Sitzbank schaffen auch ein ausgeprägteres Raumgefühl, denn irgendwie sitzt es sich weniger beengt oder besser gesagt, noch etwas freizügiger. Denn hat beim Kurvenräubern jemals jemand Bewegungsfreiheit auf der alten Mille vermisst? Eher schon mal den Halt auf den kugeligen Fußrastenenden beim Rennstrecken-Turnen die Aprilia prompt griffiger gestaltet hat.
Wie sich die Änderungen in der Performance ausdrücken? Ein kleines Beispiel vom kleinen Kurs in Hockenheim: Auf den Ohrläppchen ins Motodrom einfliegen und dann mit Schmackes Richtung Sachskurve. Beide völlig gleich übersetzte RSV stürmen vehement auf den Bremspunkt zu, aber die Neue kommt einfach immer drei, vier km/h schneller, kann zudem später bremsen, zackiger einlenken. Hier ein bisschen, da ein bisschen, so kommen ruckzuck ein paar Zehntel zusammen.
Geblieben ist der Eindruck von einem großen, voluminösen Motorrad. Die Mille nutzt eben ihre Stirnfläche dazu, den Fahrer zu integrieren und so eine gute Aerodynamik zu erzielen. Mit Erfolg, wie die Höchstgeschwindigkeit von 267 km/h belegt, womit die Neue pari mit der Alten rennt allerdings nur mit kleineren Fahrern, denn größere sind mit der neuen schneller.
Bleiben abrundend ein etwas besseres Licht mit H7-Birnen, ein unterer Kettenschutz gegen fiese Fußeinfädler, eine deutlich leichtgängigere Kupplung sowie viele kleine Optik-Retuschen. Eine etwas spitzere, tiefer heruntergezogene Nase zum Beispiel, flankiert von »Luftleitblechen« rechts und links gegen Turbulenzen im Luftstrom zu den Händen hin. Oder das umgemodelte Heck. Was unterm Strich zu der Summe kleiner Schritte beiträgt, die aus der guten RSV Mille eine etwas teurere, indes noch bessere RSV Mille gemacht haben.
Standpunkt
Aprilia hat sich sein tadelloses Image zu recht verdient, findet Axel Westphal, MOTORRAD-Redakteur
Die Rotax-Testfahrer kann ich gut verstehen. Die sich damals - so um 1997 lieber auf die Aprilia-Mille-Prototypen setzten als auf die Ducati, die ebenfalls im Testfuhrpark des österreichischen Motorenbauers liefen. Ich nehme an, die Jungs taten das nicht nur aus lauter Loyalität zu ihrem Brötchengeber. Bis zu diesem Zeitpunkt galt die 916 als das italienische Supersportmotorrad schlechthin. Ich war immer Ducati-Fan - seit meinem 20. Lebensjahr. Allenfalls kam mir mal die eine oder andere Honda in die Garage. Später ließ mich die Yamaha R1 kurzzeitig an meiner tiefen Ducati-Zuneigung zweifeln. So blieb es bis vor kurzem. Und nun der Test der RSV mille, Jahrgang 2001. Jetzt habe ich die Brille gewechselt. Weil mich selten etwas so überzeugt hat wie das, was Aprilia fertiggebracht hat. War die erste RSV Mille der 996 schon ziemlich nahe gekommen, heißt für mich hier und heute der Maßstab Aprilia. Das aggressive Styling der RSV, der bullige Vau Zwo und das präzise funktionierende Fahrwerk allein hätten nicht gereicht, um mich von Ducati abzubringen. Vielmehr die Art und Weise, wie die Ingenieure aus Noale der neuen Mille eine Vielzahl kleiner und kleinster Verbesserungen haben angedeihen lassen. Weil sie Augen und Ohren offen halten, gern Anregungen annehmen. Beispiel: Letzten Herbst stellte Aprilia Claudio Corsetti von der Zeitschrift Moto Sprint drei neue Mille R zur Verfügung und schaute in Imola vorbei, um sich nach ersten Fahreindrücken zu erkundigen. Oder Klaus Nennewitz, der Falco-Entwickler. Der war sich nicht zu schade, Testredakteur Jörg Schüller nach dessen Erfahrungen mit der Falco auszufragen. Die Kritik wird beherzigt. Und dann das: Die Mille geht nicht kaputt. Und ist nicht zu teuer. Da schäme ich mich meiner neuen Brille nicht.