Test Kawasaki ZX-6R neu gegen alt
Verdichtung & Wahrheit

In Millimeterarbeit wurde die ZX-6R revidiert. Stärker sei sie geworden, fünf Kilo leichter und natürlich noch besser – sagt Kawasaki.

Willkommen in der ausgereiztesten aller Motorrad-Welten. Eine Welt ohne Gefühlsduselei und Nostalgie. Willkommen am steilen Ende des 600er-Markts: Vierzylinder-Supersportler! Grenzübergang zwischen Maschinenbau und Mikrochirurgie. Millimeter, die über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Kawasaki weiß da genau Bescheid. Forscht und entwickelt unentwegt, um immer schön bei der Musik zu bleiben. Jüngstes Beispiel: die ZX-6R, Typenkürzel J1. Dritte Neuauflage des Reihen-Vierers in fünf Jahren, klare Antwort auf Yamahas R6. Äußere Kennzeichen: Doppelscheinwerfer und vorgeschobene Unterlippe, damit das Ram-Air-System besser Luft schaufeln kann. Innere Werte: drei PS mehr, fünf Kilo weniger. Steht zumindest im Pressetext. Der in knappen Worten den immensen Aufwand beschreibt, mit dem die Sechser Richtung Highend getunt wurde. Kürzere Einlasskanäle, höhere Verdichtung, leichtere Zylinder, weniger Schwungmasse – und 17 plus vier mal drei weitere Modifikationen.
Im echten Leben merkt man davon erst mal wenig. Ohne kriminalistischen Spürsinn, Leistungsprüfstand und Stethoskop ist den antriebsseitigen Unterschieden zwischen alt und neu kaum beizukommen. Obacht also: Diese Geschichte droht akademisch zu werden.
Noch aber bewegen wir uns in den Niederungen menschlicher Sinnenfreude, wo ganz ungeniert hinausproletet werden darf, dass so eine Sechser, schnurzegal welchen Baujahrs, ein verdammt geiles Teil ist. Mit einer Performance, die noch vor wenigen Jahren jeden ernsthaft begabten Rennfahrer zu einer Wallfahrt gen Akashi veranlasst hätte, um dem allmächtigen Herrn Kawasaki unter lobpreisenden Ehrfurchtsbekundungen eine solche Ikone rauszuleiern. ZX-6R: Dieses Kürzel stand von Anfang an für Power, Dynamik, Präsenz und Präzision. Ein Motorrad für Angefressene – faszinierend, direkt. Frei von jedweder Nebenwirkung.
Genug der Huldigung. Ans Eingemachte. Bereits im Stehen lässt die 2000er-ZX-6R ihre Vorgängerin ein paar Schritte hinter sich. Zündschlüssel auf »on«: patsch – ist der Tacho auf 280. Blitzschnell haut’s die Zeiger im Cockpit auf Anschlag und zurück. Wirkt extrem motiviert. Geht’s ans Anspringen, ziert sich die Neue allerdings. Heult auf, stirbt ab, braucht Zeit, um warm zu werden. Dann aber erwacht das Tier in ihr. Der fauchende Sechzehnventiler – die Kawa an sich. Noch spontaner, noch gieriger, noch drehfreudiger geworden... Nur stärker nicht.
Bei 109 PS ist auf dem Bosch-Rollenprüfstand Feierabend. Damit liegt das aktuelle Sechser ein PS hinter der 1999er zurück, die sich obendrein über den gesamten Drehzahlbereich unter einer fülligeren Drehmomentkurve sonnt. Beim Beschleunigen dasselbe Bild: erst rot, dann grün. Lediglich im Durchzug spielt die Neue der Alten eins auf. Ausgefeiltere Aerodynamik? Wohl kaum – bei fast gleicher Topspeed. Vielleicht die geringeren Schwungmassen. Oder ein ganz ausgefuchster Trick.
Ab auf die Waage. Aaaah – Fortschritt ick hör dir trabsen. 199,2 zu 203,3 Kilogramm. Bravo! Selbstverständlich erwartet man da als Nebenprodukt ein gewisses Plus an Handlichkeit. Gibt’s aber nicht. Wegen des verlängerten Nachlaufs, der etwas mehr Fahrstabilität und Lenkpräzision bringt. Im Wiesengrunde kaum wahrnehmbar, auf Autobahnen und Rennstrecken schon.
Überhaupt hatte Kawasaki bei der Modellpflege eher Orte wie Hockenheim denn Heimerdingen im Sinn. Drum die etwas straffere Fahrwerksabstimmung: erhöhte Dämpfung und Federraten. Da freut sich der Racer, bügelt ungehemmt ums Eck. Brennt beachtliche Rundenzeiten in den heiligen Asphalt und zwingt die Hinterhand allenfalls in ganz verwegenen Schikanen ihre Reserven Aufzubrauchen. Die Gabel hält den Angriffen von Strecke und Vollstreckern stand. Selbst unterm brachialen Zugriff der fabelhaften Sechskolben-Bremse. Kein Zucken, kein Zappeln, kein ZX-9R-Syndrom. Nur ab und an ein kleines, völlig unbedeutendes Zittern. Mal beim Anlegen, mal beim Öffnen der Eisen.
Die Alte macht das übrigens seit Jahren und war bei diversen MOTORRAD-Vergleichstests dennoch immer die schnellste im Ring. Jetzt aber hat sie ihre Meisterin gefunden. Das souveränere Kreiseln der Grünen, hat nicht zuletzt mit den Reifen zu tun: Dunlop D 207 statt D 204. Das heißt so viel wie Pattex statt Pritt-Stift. Und dann ist da noch die sportlichere Sitzposition. Bedingt durch die unter der Gabelbrücke montierten Lenkerhälften, die um zehn Millimeter weiter vorn liegen. Pah, zehn Millimeter! Jetzt wird’s aber echt kleinkarriert. Stimmt. Allerdings kommt da noch ein bisschen was dazu: sieben Millimeter mehr Sitzhöhe und zehn weitere zwischen Fußrasten und Lenker. Daraus ergiebt sich eine Ergonomie, die ganz schön gut zum schnell Fahren taugt. Hinzu kommt ein psychologisches Moment: Durch die höher gezogene Cockpit-Verkleidung fühlt man sich besser ins Fahrzeug integriert.
Fernab von Auslaufzonen und Kiesbetten haben lange Lümmel immer noch mehr Freude im Sattel der 2000er, weil sie ihre Gräten ein bisschen bequemer unterbringen. Zwerge hingegen fühlen sich auf der Alten zu Hause, glauben, diese fester im Griff zu haben. Vor allem auf der Kleinkunstbühne, sprich im Kurvenreich holpriger Landsträßchen. Das hat den einfachen Grund, dass ihnen die versammeltere Sitzpositionen etwas mehr Macht übers Vorderrad verleiht. Was sich auch in lockerer vorgetragenen Wendemanövern zeigt.
Den einstellbaren Kupplungshebel hat Kawasaki aus dem Programm genommen. Dafür gibt’s jetzt eine Vorrichtung für die Montage eines Lenkungsdämpfers. Eindeutiges Indiz für die ersthaften Absichten der Grünen. Viel Erfolg!

Unsere Highlights

Detailarbeit

Die Reifen der 2000er-ZX-6R, Dunlop D 207 in 120/65 vorn und 180/55 hinten, unterscheiden sich in ihrer tatsächlichen Breite kaum von den D 204 der 1999er in 120/60 und 170/60, wohl aber in Kontur, Seitenwandhöhe und besonders in Aufbau und Gummimischung. Auch bauen sie vorn etwas höher, hinten etwas niedriger. Zum Ausgleich wird die 2000er mit leicht hochgeschraubtem Heck ausgeliefert (per Gewindestange oben am Federbein). Die alte Lenkgeometrie bleibt somit erhalten. Nebenbei steigen Fahrzeughöhe und Bodenfreiheit.Besondere Sorgfalt erfuhr die Gabel. Die neu positionierten Lenkerhälften lassen kürzere, somit leichtere Standrohre zu. Außerdem verändern sie Sitzposition und Gewichtsverteilung mit Fahrer, der jetzt aufrecht wie geduckt etwas weniger Last aufs Vorderrad bringt. Der Versatz der Gabelrohre zur Lenkachse an den Gabelbrücken (Offset) schrumpft von 30 auf 28 Millimeter. Dadurch und wegen des größeren Radhalbmessers wächst der Nachlauf, das Maß also, um den der Reifenaufstandspunkt hinter der Lenkachse herläuft. Ergebnis: Fahrstabilität und Lenkkräfte steigen minimal, das Lenkgefühl wird präziser.

Kawasaki ZX-6R alt gegen neu (T)

Motorseitig erfuhr die Neue etliche sorgfältige Modifikationen: kürzere Ansaugkanäle, geänderte Brennräume, dabei höhere Verdichtung, deshalb vortan Superbenzin. Es lebe der Hochleistungssport. Beschichtete Alu-Zylinder ersetzen die vormaligen Grauguss-Buchsen. Eine gewichtssparende, verschleißarme, zudem leisere Lösung (weniger Kolbenspiel aufgrund gleichmäßigerer Wärmedehnung zwischen Kolben und Zylindern, dadurch weniger Kolbenkippen). Geringere rotierende Massen (etwa dünnere Kupplungs-Stahlscheiben oder eine 890 Gramm leichtere Kurbelwelle ) sorgen für spontaneres Hochdrehen und besseres Ansprechverhalten. Die versprochene Leistungssteigerung bleibt das Testmotorad indes schuldig.

Die Anderen

Honda CBR, Suzuki GSX-R, Yamaha YZF-R6 – allesamt keine schlampigen Motorräder. Fraglich allerdings, ob sie das Zeug haben, die gelungene 2000er-ZX-6R einzubremsen. Die Honda versucht’s mit ihrer sprichwörtlichen Ausgewogenheit, schnorchelt eher unauffällig vor sich hin, kommt damit sogar ziemlich weit. Nur leider geizt sie mit faszinierenden Momenten. Überdies wirkt ihr Motor ein wenig blutleer, kein Vergleich mit der Bombe aus dem letzten Test (Heft 26/1998).Suzuki bleibt sich ebenfalls treu, setzt nach wie vor auf schiere Größe. Die GSX-R ist ein Haus! Kommt daher wie eine 750er und fühlt sich auch so an. Eher unhandlich, dafür kräftig und unheimlich wichtig. Nix für Aufrechtsitzer. GSX-R 600 heißt Wettbewerb. Vor allem im weltmeisterlichen Chambon-Design: Alstare Corona Extra, Bier für Champions, standesgemäß Blau mit etwas Gelb.Yamaha. YZF-R6! Was für eine Granate. Klein, stark, anders. Geduckt, supersportlich. Ein Motor mit der Macht eines Volksbegehrens, ein Getriebe mit der Geschmeidigkeit einer Steinmühle. Und ein Fahrgestell, was für ein Fahrgestell. Agiler als die gesamte 600er-Bagage, stabil bis Topspeed, dabei erstaunlich komfortabel. Eine Konkurrenz für die Konkurrenz? Eigentlich eher eigenständig und sehr individuell.Und wo steht sie nun, die werte ZX-6R? Ziemlich gut da. Eine tolle 600er, allerdings für ziemlich viel Kohle. Mal sehen, was sie im alljährlichen Supersport-Vergleich anstellt, der natürlich noch einen anderen Hauptdarsteller haben wird: die Triumph TT 600.

Kawasaki ZX-6R alt gegen neu (T)

KAWASAKI Ninja ZX-6R [Modell 1999]

DatenMotor: Wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, zwei obenliegende, kettengetriebene Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Tassenstößel, Nasssumpfschmierung, Gleichdruckvergaser, Ø 36 mm, kontaktlose Transistorzündung, ungeregelter Katalysator, Sekundärluftsystem, E-Starter, Drehstromlichtmaschine 308 W [280 W], Batterie 12 V/8 Ah.Bohrung x Hub 66 x 43,8 mmHubraum 599 cm³Verdichtungsverhältnis 12,8 : 1 [11,8 : 1]Nennleistung 82 kW (111 PS) bei 12 500/min [79 kW (108 PS) bei 12 000/min]Max. Drehmoment 66 Nm (6,7 kpm) bei 10 000/minKraftübertragung: Primärantrieb über Zahnräder, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, O-Ring-Kette, Sekundärübersetzung 15:40.Fahrwerk: Brückenrahmen aus Alu-Profilen, Motor mittragend, Telegabel, Standrohrdurchmesser 46 mm, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Zweiarmschwinge aus Alu-Profilen, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Sechskolbensättel, schwimmend gelagerte Bremsscheiben, Ø 300 mm, Scheibenbremse hinten, Einkolbensattel, Ø 220 mm.Alu-Gussräder 3.50 x 17; 5.50 x 17Reifen 120/65 ZR 17; 180/55 ZR 17 [120/60 ZR 17; 170/60 ZR 17]Fahrwerksdaten: Radstand 1400 mm, Lenkkopfwinkel 66,5 °, Nachlauf 95 mm [91 mm], Federweg v/h 120/135 mm.Service-Daten 2000er-Modell Service-Intervalle alle 6000 kmÖlwechsel alle 6000 km mit Filter alle 12 000 km/4,0 lMotoröl SAE 10 W 40Telegabelöl SAE 10 WZündkerzen NGK CR9E, ND U27ESR-NKette 5/8 x 5/16, 108 RollenLeerlaufdrehzahl 1050±50/minVentilspiel Ein-/Auslaß 0,11-0,19/0,22-0,31 mmReifenluftdruck Solo (mit Sozius)vorn/hinten 2,5/2,9 (2,5/2,9) barGarantie zwei Jahre ohne KilometerbegrenzungFarben Grün, Rot, SilberLeistungsvarianten 25 kW (34 PS), 72 kW (98 PS)Preis inkl. MwSt. 17 720 MarkNebenkosten 270 MarkMOTORRAD-MessungenFahrleistungen1HöchstgeschwindigkeitSolo 250 [249] km/hBeschleunigung Solo 0-100 km/h 3,1 [3,1] sek0-160 km/h 6,9 [6,7] sek0-200 km/h 11,5 [10,9] sekDurchzug Solo60-100 km/h 5,3 [5,5] sek100-140 km/h 5,1 [5,3] sek140-180 km/h 5,9 [6,4] sekTachometerabweichung Anzeige/effektiv 50/47, 100/93, 270/250 km/h [50/49, 100/96, 270/249]DrehzahlmesserabweichungAnzeige/effektiv 14 500/13 500/min [14 000/13 000/min]Kraftstoffart Super [Normal]Verbrauch im Testbei 100 km/h 4,1 l/100 [4,1] kmbei 160 km/h 6,9 l/100 [6,9] kmLandstraße 5,3 l/100[4,8] kmTheor. Reichweite Landstraße 339 [375] kmMaße und GewichteL/B/H 2020/830/1160 [2015/830/1150] mmSitzhöhe 820 [813] mmWendekreis 6630 [6450] mmGewicht vollgetankt 199 [203] kgZulässiges Gesamtgewicht* 380 kgZuladung 181 [177] kgRadlastverteilung v/h 51/49 [51/49] %Tankinhalt/Reserve* 18/5 Liter 1 Meßbedingungen: Temperatur 5 Grad, böiger Wind ; Meßort Jagsttal;2 Leistung an der Kupplung. Messung auf Bosch-Rollenprüfstand FLA 203 Maximal mögliche Abweichung zur DIN-Messung ± 5 %

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023