Test MV Agusta F4 Serie d`Oro

Test MV Agusta F4 Serie d`Oro Die Leibhaftige

Seit Jahren liegen wir auf der Lauer, kommt sie - oder kommt sie nicht? Jetzt steht die MV Agusta F4 vor mir - muß fotografiert, getestet und gemessen werden. Und ich darf´s tun.

Damit eines klar ist: Ich hab nix dafür bezahlt und auch keine krummen Dinger gedreht. Es hat mich halt erwischt. Einfach so. Eigentlich sollte ich die neue Yamaha R7 durch die Mangel drehen, aber die ist ausgefallen - vorläufig. Und dann stand eben die F4 in der Tiefgarage. Auch schön. Schon deshalb, weil ich dazu endlich mal die Geschichte loswerden kann, die bis jetzt sowieso keiner hören wollte. Ich in bereits 750er MV gefahren. Vor gut einem viertel Jahrhundert, in einer Zeit, als die Reiter japanischer »Sportler« ihre Wackelkisten beim nicht gestandenen Rodeoritt schaurig in die Landschaft steckten.
Also, irgendwann 1973 stolziert ein graumelierter Herr in meine Werkstatt, so einer mit dem Zack-Zack-Blick. »Können Sie Öl wechseln und `nen neuen Schlappen draufziehen? Metzeler Racing natürlich.« »Natürlich, auf welche Kiste kommt der drauf?« Der Herr, etwas belustigt, mit Betonung auf Kiste: »Auf eine 750er MV-Kiste.« »Oh, ja klar, machen wir, logisch. Um drei Uhr ist alles fertig, ich fahr` Ihnen den neuen Reifen gleich noch ein, damit nix passiert, gell, Herr Vogt.«
Auuuuh, Mann, was für ein Tag. Ich, Werner Agostini, äh Giacomo Koch, der ölige Motorrad-Mechaniker, schmettert in der Mittagspause mit seiner Traum-MV um die Solitude-Rennstrecke.
Klasse, zwölf Uhr, die Mädels von der Haushaltsschule haben gerad Pause, muß ich unbedingt vorbeibrummen. Ich mit meiner MV. Enttäuschung Nummer eins: Es sind Ferien, keine Schule, keine Mädels. Auch egal, raus aus der Stadt. Jedes Schaufenster wird zum Spiegelbild der Eitelkeit. Nur die ölige Mechaniker-Kombi sieht einfach mies aus.
Enttäuschung Nummer zwei: Das große Erlebnis MV Agusta weicht mit jedem Kilometer der Wirklichkeit. Ein raubauziger Motor mit laut mahlenden Stirnrädern und ziemlich schlappen 72 PS entpuppt sich nicht gerade als der Hammer. Dazu ein Fahrwerk, klumpenschwer mit lästigem Fahrstuhleffekt durch den wuchtigen Kardan - ich fall vom Glauben ab.
Zwei Stunden später war der Mythos wieder weg und ich um eine Erfahrung reicher.
Und jetzt geht´s wieder los. Ein bisserl mulmig wird’s einem schon, wenn man den Zündschlüssel ins Schloß fummelt. 72000 Mark fordert MV-Importeur Zupin für eine F4 der Serie Oro, dafür alles nur vom Feinsten. Wuchtige Einarmschwinge, goldene Räder im Sterndesign, handbreite Gabelbrücken, natürlich aus federleichtem Magnesiumguß, garniert mit jeder Menge Kohlefaser und kunstvoll arrangierten Kleinigkeiten.
Tadellos schlüpft die MV durch die City, vom ersten Takt an sauberes Standgas, perfektes Ansprechen, dazu erstklassige Schalter und Instrumente, nur der Leerlauf gestaltet sich als Suchspiel zwischen den Gängen, und mit einem schallenden »Klonck« rückt der erste Gang in seinen Platz. Nobody is perfect, und dazu gehört auch, daß der Vierzylinder im gewaltigen Leistungsloch zwischen 3000/min und 4000/min Umdrehungen hängenbleibt, begleitet von kernigen Motorvibrationen, denen sich schnarrend die Kohlefaserauskleidung im Cockpit anschließt. Mit der schmerzhaften Erkenntnis, daß sich der Pilot bei einer Kehrtwende die Daumen quetscht, beschließen wir die Mängelliste und wenden uns den schönen Dingen des Lebens zu.
Der Sitzposition zum Beispiel. Gnadenlos sportlich, aber perfekt arrangiert. Ähnlich wie bei der Ducati 916 hockt der Pilot nicht auf dem Motorrad, nein, er rastet zwischen ideal gekröpften Lenkerstummeln und schmeichelndem Sitzleder geradezu ein. Zack, das paßt. Nix drückt, nix zwickt auf diesem gertenschlanken Motorrad im 250er Format .
Schlank schon deshalb, weil man dem aufwendigen Vierzylinder (siehe Kasten Seite 15) seine Lichtmaschine nicht auf die Kurbelwelle pfropfte, sondern huckepack hinter der Zylinderbank versteckt hat.
Die121 gemessenen PS reißen heutzutage freilich keinen 750er Treiber mehr vom Höcker. »Lächerlich«, posaunt die GSX-R-Fraktion, »so was machen wir mit Halbgas.« »Macht ihr nicht«, sage ich. Weil es dir eiskalt die Lederkombi runterläuft, wenn der F4-Motor ab 7000/min losbrennt, dir seine gierige Lust auf Drehzahlen in die Ohren brüllt und Sekunden später aufgeregt durch den Schaltblitz stottert. Aha, Begrenzer bei 13 200/min erwischt. Immer schön den Drehzahlmesser im Augenwinkel, sind die sechs akurat wechselnden Gangstufen des Kassettengetriebes ratzfatz durchgesteppt. Spritzig-spontan hängt der F4-Einspritzer an der Gasschnur und pulverisiert im Handumdrehen die aktuellen Topspeedwerte der 750er Klasse. 272 km/h. Und in 9,5 Sekunden auf 200 km/h. Hut ab.
Weil aber der Motor allein noch kein Motorrad ausmacht, strickten die Italiener gleich noch ein Bilderbuch-Fahrwerk drum herum. Stabile Dreicksverbände mit kunstvollen Schweißnähten, angeflanscht an einen Magnesiumträger, in dem sich Schwingenposition und der Drehpunkt der Umlenkwippe variieren lassen. Selbstverständlich, daß auch der Lenkkopf austauschbare Winkel zuläßt. Alles bereit also für den Superbike-Einsatz. Und das Schöne dabei: Die Gitterrohr-Konstruktion funktioniert prächtig. So prächtig, daß keine Landstraße krumm und buckelig genug sein kann, dieses Chassis auch nur annähernd zu fordern. Kein Wackeln, kein Schaukeln, kein Garnichts. Dafür kübelweise Fahrvergnügen mit messerscharfem Einlenken, 600er Handling und Federelementen, die die Magnesiumräder mit aller macht am Boden halten. Wie hingenagelt. Schon deshalb, weil gut 53 Prozent der 207 Kilogramm auf dem Vorderrad lasten und der sensible Öhlins-Lenkungsdämpfer jeglichen Ansatz zum Lenkerschlagen im Keim erstickt. So gehört sich das.
Das Vorderrad in gewaltigen 49er Tauchrohren eingespannt, definiert die MV Agusta den Begriff Lenkpräzision und Stabilität völlig neu. In harmonischer Ausgewogenheit mit dem hinteren Sachs Competition-Federbein gehören die Federelemente zur allerersten Wahl.

So, und jetzt das Ganze noch mal auf der Rennpiste. Hockenheim, kleiner Kurs. Ein zerknittertes Waschbrett von vorn bis hinten, auf dem so manches fernöstliche Serienchassis den Offenbarungseid leistet. Auf der MV Agusta dagegen wirkt die Rüttelpiste glatt wie ein frisch bezogener Billardtisch. Ausgang Nordkurve, dort, wo alle mit dem Lenker schlagen: nichts außer satt gedämpften Federbewegungen. Bremsen mit brachialer Wirkung, die selbst unter Hitzestreß nicht kleinzukriegen sind . Leichte Unstimmigkeiten bei der Bereifung. Vorn liefert der Pirelli MTR 21 in 65er Bauhöhe keine glaubwürdige Rückmeldung beim brutalen Einbiegen, hinten schlupft der 190er MTR 22 Corsa zu früh aus der Spur, malt aber dafür schöne schwarze Streifen. Trotzdem, jede Runde die pure Lust. Um Klassen handlicher als die Ducati 996 und noch einen Tick direkter, noch stabiler. Und mit jeder Menge Bodenfreiheit, links wie rechts rum. Die Referenz in Sachen Fahrwerk heißt ab sofort MV Agusta. Für dich und mich leider zu teuer. Wie damals. Mit dem Unterschied, daß mein Traum heute nur deshalb platzt, weil Herr Castiglioni seine F4 wieder zurück haben will. Bleibt also nichts anderes übrig, als auf die F4 750 S zu warten. Um die zehn Kilogramm schwerer, nicht ganz so edel, aber für den halben Preis. Im Herbst soll sie in Produktion gehen. Bis dahin Freunde: Haltet die Groschen beisammen.

Technik

Rund neun Jahre laborierte die Cagiva-Crew am Projekt F4. Das Resultat ist ein Motor mit konventionellem Grundaufbau, aber interessantem Innenleben.Der Ventiltrieb sitzt zwischen Zylinder zwei und drei und überträgt die Kurbelwellenrotation über zwei Stirnräder mit Übersetzung 2 : 1 (kehren die Laufrichtung um, halbieren die Drehzahl, ermöglichen kleine Nockenwellenräder = geringe Bauhöhe) und eine anschließende Steuerkette. Konisch geschliffene Nockenprofile (Concam-Patent) beaufschlagen über Tassenstößel die um je zwei Grad schräg zur Senkrechten angestellten Ventilpaare (siehe Funktionsskizze). Vorteil gegenüber parallel angeordneten Ventilen: bessere Strömungsverhältnisse durch einen größeren Abstand der Ventilteller von der Zylinderwand, optimierte Brennraumform. Die Einlaßnockenwellen liegt höher als die Auslaßnockenwelle, das erlaubt längere Ventilschäfte und damit geradlinigere Einlaßkanäle. Das Kassettengetriebe ermöglicht eine seitliche Demontage der Getriebewellen bei eingebautem Motor. Bohrung x Hub sind mit 73,8 x 43,8 mm extrem kurzhubig ausgefallen (Suzuki GSX-R 750: 72 x 46 mm). Vorteil: Hohe Drehzahlfestigkeit, geringe Bauhöhe, große Ventildurchmesser (29 und 25 mm) möglich. Nachteil: weniger Drehmoment. Die Motorbefestigung am Rahmen ist bereits oval ausgeführt, um den höher plazierten Zylinderkopf (längerer Hub) des geplanten 900er Motors aufzunehmen (siehe Foto Seite 16).

Historie

Nichts war dem rennverrückten Grafen Agusta wichtiger als der Erfolg seiner Rennmaschinen. Mit viel Geld und den besten Technikern lockte er auch die besten Fahrer in seine Scuderia. Giacomo Agostini zum Beispiel, 13facher Weltmeister auf MV und das Idol par excellence. Straßenmaschinen produzierte man eher nebenher. 150er Einzylinder-Viertakter für jedermann, eine 350er OHV-Zweizylinder fürs gehobene Publikum und Anfang der 70er Jahre das Highlight für gut Betuchte: die 750 S, die an jedem Motorradtreffpunkt für einen gehörigen Auflauf sorgte. Der Vierzylinder mit den offenen Dellorto-Vergasern basierte auf den Rennmotoren der 60er Jahre und präsentierte sich für damalige Verhältnisse als technischer Überflieger: zwei obenliegende Nockenwellen mit Tassenstößel, über Stirnräder angetrieben. Zur einfacheren Montage wurde das Zylinderbankett mitsamt Nockenwellenantrieb und Kurbelwellenlagerung auf dem einteiligen Motorengehäuse verschraubt (Foto rechts). Die Getriebewellen steckten seitlich im einteiligen Gehäuse, der klotzige Kardan konnte durch einen Umbausatz von Rennchef Arturo Magni auf Kette umgerüstet werden. Und überhaupt wurde viel nach- und umgebaut, denn die 750 S war genau genommen eine - wenn auch bildschöne - Panne. Ende der 70er Jahre stellten die Italiener die Produktion ihrer Motorräder ein.

Fazit

Dieses Monument ist der Traum schlechthin. Ein Traum, der im echten Leben mit erstaunlich hoher Alltagsqualität, perfektem Finish und einer tadellosen Fahrdynamik aufwartet. Die moderne F4 läßt, auch wenn sie mit den klassischen MV Agusta-Rennern nicht mehr gemein hat als zwei Räder und vier Zylinder, den Mythos wieder aufleben. Genius Massimo Tamburini, der bereits mit der Ducati 916 einen Meilenstein setzte, interpretiert das Thema Vierzylinder auf seine Art und Weise. Einfach genial. Doch viel mehr als ein Dutzend MV Agusta F4 der Serie Oro wird es in Deutschland sowie so nicht geben. Zu bestaunen sind die edlen Renner dann wohl eher in staubdichten Vitrinen denn auf gummiverschmierten Rennpisten.

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