Nach Jahren der Zurückhaltung demonstrieren die Techniker aus Hamamatsu den eisernen Willen, jetzt auch der 600er Klasse den symbolträchtigen GSX-R-Stempel aufzudrücken. In direkter Ableitung des 750er Flaggschiffes, das in rennfertiger Version den deutschen Supersport-Cup souverän beherrscht, setzt man auf hochwertigen Leichtbau und exklusive Technik. Statt funktioneller, aber liebloser und plastikumhüllter Stahlgerippe mit der Faszination einer Waschmaschine, wie sie beispielsweise bei der Honda CBR oder Yamaha YZF 600 verbaut werden, begeistert die Suzuki mit einem glänzenden Aluminium-Chassis, dem sich eine piekfeine Profilrohr-Schwinge und ein federleichtes, verschraubtes Rahmenheck anschließen. Ein Blender? Weit gefehlt. Unter der Hülle verbergen sich wahre Technikschätze. Die voluminöse und hohlgegossene untere Aluminium-Gabelbrücke mit breiten Klemmfäusten zum Beispiel. Oder riesige Radachsen, hohlgebohrt und stabil, die über Aluminium-Distanzhülsen die 45 Millimeter-Gabel und die massiven Ausfallenden der Schwinge zu einem verwindungsarmen Paket zusammenspannen. Jede Menge hohlgebohrter Schrauben und cleverer Detaillösungen machen deutlich, daß sich Suzuki das Prädikat der leichtesten Serien-600er mit viel Mühe und Fleiß erarbeitet hat.
Selbst bei der aufwendigen Motorenkonstruktion hatte der Mann mit dem Rotstift nicht viel mitzureden, weshalb MOTORRAD bereits in Heft 25/1996 alle wissenswerten Technik-Details aufgelistet und beschrieben hat.
Doch jetzt stellt sich die Frage: Was ist tatsächlich dran am gerade mal 197 Kilogramm leichten High-Tech Überflieger GSX-R 600. Zur Lösung des Rätsels schlüpfen wir ins Ledergewand und nehmen die fast baugleiche, offen aber 128 PS starke GSX-R 750 ins Schlepptau. Kaum eine Frage ist brennt mehr als die nach dem Unterschied der beiden Extremsportler aus dem Hause Suzuki.
Bereits die erste Sitzprobe macht deutlich, daß sich die Suzuki-Ingenieure am neuen 600er Renner um keinerlei Ähnlichkeit zum Mittelklasse-Alleskönner Honda CBR 600 bemüht haben. Tiefe Lenker, hohe Rasten - Supersport heißt die Devise. Unter diesem kompromißlosen Anspruch geht der Sitzkomfort in Ordnung. Keine Krämpfe, keine bleibenden Haltungsschäden, dennoch sportlich gebückt, streckt sich der Pilot über den flatschig breiten Tank, der der optischen Leichtigkeit einer 600er eher entgegensteht.
Fauchend, ohne große Zaubereien mit Kaltstart und Gasgriff, begrüßt der Vierzylinder den sonnigen Tag, der das Duo vom französischen Sete über die natürlichste Achterbahn der Welt zwischen Port Bou und dem spanischen Rossas entlang den Ausläufern der Pyrenäen begleiten soll. Nur dezente Vibrationen verstreut der Motor über Sitzbank, Fußrasten und Lenkerstummel, die sich auch bei Höchstdrehzahlen nicht als unangenehme Begleiter entpuppen. Dagegen gleitet die akustische Untermalung des wassergekühlten 600er-Vierzylinders mit steigender Drehzahl vom Fauchen in ein blechernes Krächzen ab, das den besorgten Reiter schnellstens zur Ölkontrolle an den Straßenrand zwingt: hört sich irgendwie kaputt an. Ein Blick durchs Schauglas - alles o.k. Das ist auch gut so, denn durch den versteckten und viel zu kleinen Öleinfüllstutzen wird aus einem kurzen Ölnachfüllen ein ziemlich versabbertes Jonglieren mit Trichter und Öldose.
Satter, kerniger in der Leistungsentfaltung und stärker in den Vibrationen schiebt der 750er Motor vorwärts, der zwar auch kein Wunder an Durchzugskraft darstellt, jedoch dem kleineren Bruder in allen Drehzahlbereichen mühelos davoneilt. Zügiges Fahren fordert bei der kleinen 600er einen fleißigen Schaltfuß, um die eng gestuften, weich zu schaltenden Getrieberäder zu sortieren. In den endlosen Geschlängeln der Küstenstraße fällt nach wiederholtem Fahrerwechsel diesbezüglich die erste unflätige Bemerkung: »Luftpumpe«, seriöser ausgedrückt: mangelnde Durchzugskraft unter 10 000/min, gepaart mit verzögertem Ansprechverhalten auf das Gaskommando. Gibt man der Kleinen die Sporen und schnalzt die Gänge bis zum roten Bereich durch, gehts zwar recht munter zur Sache, der leistungsverwöhnte 750er Treiber bleibt jedoch dabei: »Luftpumpe«. Was er meint, wird deutlich, wenn man die 750er wirklich laufen läßt, sofern sich auf der Landstraße die Möglichkeit bieten sollte: Unter 9000/ min marschiert der Motor, na sagen wir »ordentlich los«, um sich kurz danach mit aller Macht und im wahrsten Sinne des Wortes aufzubäumen. Ein spektakuläres Intermezzo, kein Zweifel, doch an der reinen Fahrfreude gemessen, können dabei nur ganz wilde Hunde ein paar Pluspunkte verbuchen.
Eines haben beide Suzuki-Motoren jedoch gemein: höchst nervige Lastwechselreaktionen und einen abrupten Leistungseinsatz beim Gasanlegen, der selbst routinierten GSX-R-Piloten die angepeilte Ideallinie versauen kann. Zu solchen Mätzchen trägt auch noch der überbreite 190er Schlappen der 750er seinen Teil bei, während sich der 180er Gummi der 600er, aufgezogen auf eine schmälere 5.5 Zoll-Felge, nicht ganz so ungeniert in die Linienwahl einmischt, sich aber beim flüssigen Herumzirkeln in halber Schräglage durch seine kippelige Unentschlossenheit bemerkbar macht. Dabei ist dieser vermeintliche 180er-Pirelli-Pneu in klebriger »Corsa« Mischung in Wirklichkeit ein exakt 176 Millimeter schmaler 170er-Reifen mit dem Zusatzcode »S« (siehe dazu Seite 18/19). Seis wie`s will, die Leichtigkeit und Zielgenauigkeit der 600er, und schon gar nicht die der 750er können auf der Landstraße in dem Maße überzeugen, wie es die Eckdaten von Gewicht und Fahrwerksauslegung vermuten lassen. Breit sein ist eben nicht alles, auch auf die Reifen kommts an, weshalb die ersten Fahreindrücke der Suzuki GSX-R 600 auf Dunlop D 364 Supersport-Reifen (MOTORRAD 25/1996) von einer ordentlichen Handlichkeit geprägt waren.
Die Suche nach positiven Merkmalen der GSX-R 600 im zügigen Landstraßenbetrieb hat wenig Erfolg. Zu wenig Windschutz durch die flache Scheibe, die Fahrern über 175 Zentimeter auch noch die Sicht auf Tacho und Drehzahlmesser verdeckt. Zu hoher Verbrauch, der sich, gemessen am technischen Aufwand und an der aktuellen Konkurrenz bei 5,7 Liter im gemischten Landstraßenbetrieb und bei 7,6/100 km bei konstant 180 km/h einpendelt. Mit der Wirkung der Vierkolbenbremsanlage dagegen kann man sich durchaus arrangieren. Zwar fehlt ihr im Vergleich zum Sixpack der 750er der brutale Biß, doch der hält bei Schreckbremsungen oder glitschigem Asphalt auch seine Überraschungen in Form eines überbremsten und blockierten Vorderrades parat. Und noch eine Überraschung. Bremsen in Schräglage quittieren beide mit einem spontanen Aufrichten beziehungsweise einem störrischen Einlenken in den gewünschten Kurvenradius. Wer dabei auch noch etwas gefühllos und mit zu wenig Zwischengas die Gangsstufen herunterstolpert, sollte sich von dem stempelnden Hinterrad nicht aus der Ruhe bringen lassen. Um das Faß voll zu machen, ärgerte an der Testmaschine noch der 120/70 ZR 17 Pirelli-Vorderradreifen mit spürbarem Lenkerflattern, dem sogenannten Shimmy-Effekt, zwischen 90 und 70 km/h.
Von fast samtiger Natur spendieren die konventionelle 45er-Telegabel und das sensible Zentralfederbein der 600er einen Fahrkomfort, der die kilometerlangen Flickenteppiche spanischer Landstraßen in flauschige Frotteläufer verwandelt. So flauschig, daß der Gabel eine etwas zu geringe Druckstufendämpfung unterstellt wird, ohne dies mit einem handfesten Gegenversuch belegen zu können- denn eine Einstellmöglichkeit fehlt leider gänzlich. Trotzdem bleibt die Suzuki nicht ganz von den Versäumnissen spanischer Straßenarbeiter verschont und setzt bei ganz derben Querrillen zum Lenkerschlagen an. Nicht unbedingt gefährlich, aber ein klarer Hinweis auf die sportlich direkte Lenkgeomtrie. Spätestens jetzt erklärt sich auch der Sinn für den bereits serienmäßig angeschweißten Haltepunkt für einen Lenkungsdämpfer.
Keine Probleme machen beide in Puncto Fahrstabilität. Ob schnelle Autobahnkurven oder wellige Topspeed-Passagen, die baugleichen GSX-R-Chassis nehmen´s gelassen, wobei die 750er bei solchen Gelegenheiten eine Spur stabiler und souveräner daher kommt als die kleine Schwester.
Als sich die Sonne hinter den spanischen Bergen verdrückt, ist von den hohen Erwartungen an die neue GSX-R 600 nicht viel übrig geblieben. Daß die Suzuki eine eindeutig sportliche Position einnimmt, die den Ansprüchen im Straßeneinsatz nicht gerecht werden will und kann, ist nicht das Problem. Die Knackpunkte sind vielmehr die schmalbrüstige, unhomogene Kraftentfaltung, das in manchen Lagen tadelige Kurvenverhalten und die ruppige Kraftübertragung. Und das hat mit Sportlichkeit nichts zu tun. Exakt dieselben negativen Eigenschaften wurden bereits im Vorjahr am 750er Modell bemängelt, ohne daß sich die Entwicklungsabteilung in Hamamatsu der Kritik gestellt hätte. Schade drum, aber vielleicht sollte man sich die neue GSX-R 600 etwas herzhafter zur Brust nehmen, um auf etwaige verborgene Qualitäten zu stoßen. Auf der Rennpiste von Calafat, zwei Autobahnstunden vom verwinkelten Gebirgsstreß entfernt, dürfen deshalb beide noch mal ran.
Selbst auf der vertrauten Rennstrecke braucht ´s einige Runden , bis sich Fahrer und GSX-R 600 zusammengerauft haben und sich auf eine gemeinsame Ideallinie einigen können. Beim Umlegen durch die engen Schikanen noch recht quirlig und spontan, muß die GSX-R 600 in den langen Kehren mit klaren Befehlen auf Kurs gebracht werden, segelt dann aber zackig und stabil um die weiten Bögen. Hinderlich bei der Rennstreckenübung: das fehlende Durchzugsvermögen und die verzögerte Gasreaktion. Einziger Ausweg, um auch mit der 102 PS starken GSX-R 600 auf ordentliche Rundenzeiten zu kommen: Drehzahlen bis in den Begrenzer und schalten, schalten, schalten. Alles in allem eine ziemlich nervige und fordernde Angelegenheit, die durch das Bremsstempeln, die weiche Gabelabstimmung und die für diesen Zweck zu schlappe und fadingbehaftete Doppelscheibenbremse noch erschwert wird. Von der erwarteten Leichtigkeit einer 600er nicht die Spur. Also greift man sich die 750er, um bereits nach einer Handvoll Runden zu erfahren, daß brachiale Leistung auch nicht alles ist. Von wegen Durchzug und so. Exakt dieselben Schaltvorgänge und ähnlich hohe Drehzahlen wie bei der 600er sind notwendig, um die R 750 vorwärts zu treiben. Mit dem Unterschied, daß sich dieses Biest kaum auf zwei Rädern bewegen läßt. Wheelie in allen Lagen. Vorn beim Rausbeschleunigen , Stempelnd und Schlingernd beim Anbremsen. Ein schweißtreibender Ringkampf. Auch in Sachen Kurvenwilligkeit muß die GSX-R 750 über ihre 190er Bereifung in extremste Schräglagen gezwungen werden. Es dauert Runde um Runde, bis man sich mit dieser kompromißlosen Seele auf ein gütliches Nebeneinander geeinigt hat. Nein, dann doch lieber die sanftere, die beherrschbare 600er, die trotz aller Abstriche noch in der Lage ist, den Rennstreckenspaß zu vermitteln, den man von einem radikalen, aggressiven und fordernden Supersportler erwartet. Nicht weniger - und auf keinen Fall mehr.
Mein Fazit - Mein Fazit
Der Weg, den Suzuki im Bereich der Supersportler seit Jahren mit Erfolg beschreitet, heißt Kompromißlosigkeit. Die superleichte GSX-R 750 von 1985 war der Anfang, die kleine RGV 250 die Stütze nach unten und der bärenstarke GSX-R 1100-Bolide markierte der Zenit dieser Leistungs-Show. Auch die neue GSX-R 600 macht da keine Ausnahme. Doch leider hat man versäumt, die Sportlichkeit so zu perfektionieren, daß der durchschnittlich begabte Biker das große Grinsen unterm Helm bekommt. Bewundernswerter Leichtbau und kunstvolle Details reichen nicht aus, um den Sportfreaks ihren eigentlichen Herzenswunsch zu erfüllen. Der heißt nicht ungestümes Drauflosheizen, sondern souverän ein spaßiges Gas machen. Das gelingt mit der brandneuen GSX-R 600 zwar allemal leichter als mit der biestigen 750er, aber eben nicht so selbstverständlich wie mit anderen vergleichbaren 600ern.