Vorstellung Ducati 1098
Der Porsche-Effekt

Was Porsche schon vor 20 Jahren mit dem 911 lernen musste, vollzieht Ducati jetzt mit dem Erbe der 916 nach: den schwierigen Spagat zwischen Bewahrung und Weiterentwicklung eines legendären Fahrzeugs.

Der Porsche-Effekt
Foto: Ducati

Ducati bewegt die Gemüter. Nicht nur bei uns in Deutschland, wo von den Adria-Urlaubern der frühen fünfziger Jahre bis zur Toskana-Fraktion der Neunziger jede Generation ihr spezielles Liebesverhältnis zu Italien pflegt. Auch in ihrem Heimatland selbst, als Bestandteil des alltäglichen Lebens entfachen die roten Renner heftige Gefühle.
Die Präsentation der neuen Ducati 1098 auf der Eicma in Mailand war ein nationales Ereignis, der Ducati-Stand, in dessen Mittelpunkt das Superbike paradierte, stets von Menschenmassen belagert, darunter viele Fotografen und Fernsehteams. Alle näherten sich mit gespannten Gesichtern, die meisten waren sofort eingenommen von dem, was sie dort sahen. Schnell war die 1098 in der allgemeinen Meinung zur einzig legitimen Nachfolgerin der legendären 916 gekürt.
In der Tat ist in der bewussten Hinwendung zum berühmten Vorbild 916, nachdem sich die 999 ebenso bewusst von ihm abgekehrt hatte, der wohl größte Unterschied zwischen 999 und 1098 zu sehen. Sie geht über die Rückkehr zu horizontal angeordneten Scheinwerfern und zur Einarmschwinge weit hinaus. Es ist ein großes Verdienst der Entwickler um Produktionschef Claudio Domenicali, dass diese Hinwendung keine oberflächliche oder kritiklose geblieben ist, sondern erstens bis
in die Tiefen des Motorrads reicht und zum zweiten vom unbedingten Willen zur Verbesserung und Weiterentwicklung jedes einzelnen Teils getragen wird.
Zum Beispiel beim Rahmen. Hatte die 999 im Bereich zwischen Schwingenlagerung und Umlenkwippe einen merkwürdig unsortierten Verbund einzelner Rohrstücke gezeigt, nachdem die geplante Verwendung von Schmiedeteilen in letzter Sekunde wegen Festigkeitsproblemen gestoppt wurde, so herrscht bei der 1089 wieder die von früher gewohnte Klarheit. Sie bringt auch den Eindruck von Gediegenheit zurück, der die 916 auszeichnete. Die Steigerung der Rahmensteifigkeit gegenüber dem 916-Chassis wurde durch Hauptrohre mit größerem Durchmesser erzielt, welche dank dünnerer Wandstärke sogar leichter sind als die früheren.
Die gleiche Taktik wandten die Ingenieure bei der Gestaltung der Auspuffanlage an, hier allerdings zur Erhöhung des Durchsatzes bei gleichzeitiger Gewichtsersparnis. Offenbar hat die Technik der Abgasreinigung in den letzten vier Jahren große Fortschritte gemacht, denn dank neuer Auspuffklappe und geregeltem Katalysator ist die Einhaltung der Euro-3-Norm jetzt auch mit der »alten« Auspuffführung einschließlich des verschlungenen Rohrknotens sowie zweier getrennter, überraschend kleiner Endschalldämpfer möglich. Beim Erscheinen der 999 im Jahr 2002 war deren kastenförmiger Endschalldämpfer noch als unverzichtbar für die Einhaltung strengerer Emissionsvorschriften bezeichnet worden.
Welchen Anteil die Leistungsteile des neuen Motors an der besseren Abgasqualität besitzen, wissen wohl nur wenige Eingeweihte, und es interessiert auch nicht besonders. Fakt ist, dass im Hintergrund der ganzen Styling-Glaubenskriege die Entwicklung der Triebwerke bruchlos und permanent weiterlief, wobei mal die 999, mal die 749 in den Genuss der jeweils neuesten Erkenntnisse kam. Die Bezeichnung des 1098ers als »testastretta evoluzione« entspricht also voll und ganz den Tatsachen. Schließlich hat Ducati bei den Superbike-Basismotorrädern 998 R sowie 999 R und natürlich den entsprechenden Rennmaschinen schon reichlich Erfahrungen mit riesigen 104er-Kolben bei hohen Drehzahlen und Verbrennungsdrücken gesammelt. Und der Hub der 1098 beträgt auch nur 1,2 Millimeter mehr als bei der Standard-999. Trotz nunmehr 160 PS und einem strammen Drehmomentmaximum von 123 Newtonmetern, die den Anschluss an die japanische und italienische Konkurrenz sicherstellen, betritt Ducati mit dem 1098 keine ganz neue Welt, zumal auch die Ventildurchmesser und -winkel sowie die Nockenwellen in den R-Modellen bereits erprobt wurden. Die bedeutsamste Neuerung stammt aus der MotoGP-Entwicklung und besteht in elliptischen Drosselklappen mit einem entsprechend geformten Übergang in die Kanäle. Ebenso besitzt der Übergang zwischen Auslasskanälen und Auspuffkrümmer einen elliptischen Querschnitt. Der überaus wichtige Rest war
Detailarbeit mit dem Ziel, Teile, Bauraum und – einmal mehr – Gewicht zu sparen.
Fünf Kilogramm weniger am Motor, eineinhalb am Rahmen, eines an den Rädern – so kommt die 1098 auf schlanke 174 Kilogramm Trockengewicht, die etwa 196 Kilo fahrfertig vollgetankt entsprechen. Dieser Wert in Kombination mit der von der 916 bekannten Fahrwerksgeometrie verspricht viel. Plötzlich scheint es möglich, bei einem Serienmotorrad jene traumhafte Verbindung von Handling und Stabilität zu erhalten, die früher nur mit Magnesiumrädern möglich war. Dank filigraner Schmiederäder noch zwei Kilogramm leichter,
darüber hinaus mit Öhlins- anstelle von Showa-Federelementen und einem Datarecording-System ausgestattet, präsentiert sich die 1098 S. Sie kostet freilich auch 4000 Euro mehr als die Standardmaschine, nämlich rund 21000 statt 17000 Euro.
Eine erste Sitzprobe auf der 1098 vermittelte ein typisches Ducati-Gefühl, wo-bei der Abstand zwischen Sitzbank und Lenker kürzer erschien als bei der 999 und erst recht der 916. Möglicherweise wölbt sich der Tank höher und breiter (siehe auch den Prototyp-Fahrbericht rechts) als bei der 999 und konnte deshalb kürzer ausfallen – das Volumen ist mit knapp bemessenen 15,5 Litern gleich geblieben. Knapp ist auch die Verkleidung geschnitten. Die aufs Vorderrad geduckte Silhouette der 1098 wurde durch eine äußerst niedrige Kuppel mit flacher Scheibe erzielt, die
wenig Windschutz verspricht. Wahrscheinlich werden die Profis dieses Motorrad im Rennen mit hochgewölbter Bubble-Scheibe fahren, während der stilbewusste Amateur sich lieber vom frei anströmenden Fahrtwind verblasen lässt. Auch dies jedoch entspräche bester 916-Tradition – der Autor dieser Geschichte hält es bei seinem Motorrad nicht anders.

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Testfahrt Ducati 1098 - Chef-Sache

Bevor die Ducati 1098 das Licht der Öffentlichkeit erblickte, lud Ducati-Chef Claudio Domenicali MOTORRAD zu einer Testfahrt mit einem Prototyp ein.

Bologna, grauer Himmel, irgendwann im Oktober 2006. Andächtig schiebt ein Mechaniker in rotem Overall zwei Maschinen aus der Werkstatt, wie sie hässlicher kaum sein könnten: Mattschwarz lackiert, über und über mit Klebeband verhüllt, und auf der Verkleidungsnase klebt noch ein Höcker aus Karton und Styropor.
Die Tarnung ist wichtig. Niemand soll
zu früh erfahren, wie schön und edel die
neue Ducati 1098 geworden ist. Und sie soll Ablenken von den herrlichen technischen Details sowie der peniblen Verarbeitung,
die auch schon die beiden Prototypen
auszeichnet. Rahmenrohre, die wieder der Logik der Festigkeitslehre und nicht dem Diktat der kostengünstigen Schweißrobotik unterliegen. Eine Schwinge, wie sie sich
Ingenieure und Leichtbau-Fans erträumen. Und eine Auspuffführung, die stark an die selige 916 erinnert, jenem Jahrzehnt-Motorrad, das Design-Guru Massimo Tamburini schuf, als er noch in Ducati-Diensten stand.
»48 Gramm!« erklärt Claudio Domenicali und deutet auf den Ganghebel. »Er wiegt jetzt 48 Gramm!« Das bedarf einer Erklärung. »Die erste Version sah etwas üppig aus, vor allem im Vergleich zum Hebel der 999. Ich ließ ihn abbauen und wiegen. Er wog doch tatsächlich 57 Gramm, sechs mehr als der alte. Das durfte nicht sein. Ich sagte meinen Leuten: ,Jungs, wenn ihr wollt, dass die Neue leichter wird, dann muss jedes Bauteil leichter als das alte sein!‘ Daraufhin legten sie sich nochmals ins Zeug und konstruierten diesen drei Gramm leichteren Hebel.« Nicht überliefert ist, wie lang die Ohren aller Beteiligten heute sind, an denen ihr energischer Boss offensichtlich gezogen hat.
Ein paar Gramm hin oder her, jetzt wird gefahren, eine mächtige Regenwolke droht den eh schon feuchten Asphalt vollends einzunässen. Also los. »Wir haben die Lenker deutlich höher gemacht...« brüllt Herr Domenicali noch unter den Helm. Stimmt, für einen Supersportler sitzt man lässig. Der Tank ist angenehm kurz, dafür erstaunlich breit geraten, wie auch der Abstand und die Höhe der Lenkerstummel sehr kommod ausgeführt wurden. Ebenso scheint bei den Fußrasten und der Sitzbank die Entwicklungsdevise »rasen, aber locker« gewesen zu sein.
Im Asphaltdickicht rund um Bologna, den italienische Straßenbauer auf das Chaotischtste verwoben haben, kommt
ein Tourguide wie Ducati-Chef Domenicali gerade recht. Mit dem ihm angemessenen Selbstvertrauen stürzt er sich in glibberige Kreisverkehre, findet die freie Spur zwischen Lastwagenkolonnen und Vespa-Meuten, interpretiert rote Ampeln als bald auf Grün umspringend und gibt einen zügigen Rhythmus vor. Dranbleiben, egal, was passiert.
Die 1098 macht das leicht. Bis auf die schwergängige Kupplung funktioniert alles problemlos. Der Motor bollert sonor und gut abgestimmt vor sich hin, nimmt ab 2000/min Gas an und liefert bereits ab 3000/min viel Drehmoment. Das Getriebe schaltet sich präzise und knackig, trotz Lenkungsdämpfer wird die Fahrt selbst im Glibberbereich nicht zum Eiertanz. Alles wirkt direkt, klar, exakt.
160 PS will Ducati in den Desmo-V2 gezaubert haben. Damit wäre die 1098
die stärkste jemals gebaute, straßenzugelassene Zweizylindermaschine. Ob es tatsächlich so ist, wird in ein paar Wochen der unbestechliche MOTORRAD-Prüfstand zeigen. Der Prototyp geht jedenfalls wie Hölle. Schon im mittleren Drehzahlbereich giert der Motor nach mehr, über 9000/min feuert er eine Zweizylindersalve in die Atmosphäre, dass man seine liebe Not hat, die wildgewordene Bestie vor der nächsten Kurve wieder einzufangen. Erst bei 10700/min dürfen die 104 Millimeter großen Kolben die materialschonende Gnade des Drehzahlbegrenzers erfahren. Wobei die Leistungskurve bis dahin gefühlsmäßig ständig ansteigt.
Fahrwerk und Bremsen lassen kaum Wünsche offen. Mit glasklarer Rückmeldung meistert die Ducati wellige Passagen, liegt in Kurven stabil und gleitet exakt wie ein autopilotgesteuerter Airbus in Schräglage. Das erinnert stark an die 916, ohne deren Sturheit in Wechselkurven.
Auf der Bremse muss beachtet werden, dass zum einen neue Monobloc-
Zangen in riesige 330er-Scheiben beißen und der hochverdichtete Motor ein or-
dentliches Bremsmoment mitbringt. Zum
anderen verzichtet Ducati auf eine Anti-
Hopping-Kupplung. Kräftiges Zwischengas beim Herunterschalten verhindert, dass das Hinterrad zu springen anfängt.
Nach 50 Kilometern Kurven zieht es den Ducati-Chef zurück nach Hause. Noch die Autostrada, um zu gucken, was geht. 130 km/h ist in Italien das Limit, genau da titscht das Vorderrad wieder auf. Dann kommen noch vier Gänge...
Kein Zweifel: Die 1098 wird die beste Ducati aller Zeiten.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023