Superbikes der Vergangenheit funktionierten nach folgendem Entwicklungsprinzip: Man baut ein supersportliches, powergeladenes Motorrad für die breite Kundschaft auf der Straße, das mit einigem Know-how in ein echtes Renn-Motorrad verwandelt werden kann. Damit tritt die Marke dann in der seriennahen Superbike-WM an. Diesmal jedoch ist das anders. Die Evolution der neuen Yamaha YZF-R1 erfolgte nicht von der Straße auf die Rennstrecke, sondern genau umgekehrt.
Ausgangspunkt der neuen Yamaha YZF-R1 ist das reinste ihrer Renneisen: das Motorrad von Superheld Valentino Rossi und Jorge Lorenzo, die M1 aus dem MotoGP. Dass das kein reines Marketing-Blabla ist, offenbart sich schon beim Aufsitzen in der Boxengasse von Eastern Creek, der ehemaligen GP-Rennstrecke unweit von Sydney. Dorthin lud Yamaha die Fachpresse zum ersten Test.
Schon die Motordimension hat sich stark verändert
Augenblicklich schlägt das Racer-Herz im Speed-Metal-Bereich, denn die durchbrochene Gabelbrücke, der flache Alutank und der brettharte Sitz verströmen Racing pur. Und außerdem ist die Yamaha YZF-R1 so kompakt, sie wirkt fast so zierlich und handlich wie die 600er-Schwester R6. Ganz klar: Hier steht ein völlig neues Motorrad. Dann machst du die Zündung an, und die Herzfrequenz legt nochmals zu. Im digitalen Cockpit leuchtet ein sehr übersichtliches Display auf, das keine Wünsche offen lässt und das per Handrad am rechten Daumen jede gewünschte Info liefert.
Doch das Beste kommt erst noch, denn jetzt drückst du den Startknopf und der Vierzylinder erwacht mit wildem Crossplane-Knurren zum Leben. Eigentlich will dir in diesem Moment das Herz vor Verzückung aus der Kombi springen. Aber halte dich zurück, denn da draußen warten 19 Kurven, in denen dir die Yamaha YZF-R1 das Adrenalin fässerweise durch den Organismus pumpt. Damit nicht gleich der Herzkasper droht, schauen wir uns dieses Motorrad einmal genauer an. Schon ein Blick in den Motor offenbart, dass Yamaha überall bis ins Detail neu entwickelt hat. Zwar ist die Crossplane-Technik mit Hubzapfenversatz, sind die variablen Ansaugtrichter (YCCI) und die elektronische Einspritzung (YCCT) vom Vorgängermodell bekannt. Aber wie die Motorkomponenten im aktuellen 1000er-Reihenvierer zusammenspielen, ist völlig neu.
Nockenwellen und Ventile komplett neu
Schon die Motordimension hat sich stark verändert, der Vierzylinder der Yamaha YZF-R1 ist so kompakt wie nie und würde mühelos im R6-Chassis Platz finden. Die Kurbelwelle ist beispielsweise in der Länge um 20 Millimeter geschrumpft und damit die Motorbaubreite. Die Nockenwellen sind komplett neu und mit ihnen die Ventile (jetzt mit Kipphebel). Der gesamte Zylinderkopf, dessen Brennräume und Einlass- wie auch Auslasskanäle wurden neu gezeichnet. Der Ölkreislauf, die Getriebeanordnung und auch die Kupplung haben nicht mehr viel mit dem Vorgänger zu tun.
Dazu kommen die neuen Materialien an Pleuel & Co. oder auch die Schmiedekolben, die zusammen mit federleichten Motordeckeln und Ölwanne den Motor insgesamt nicht nur deutlich leichter machen (acht Prozent Gewichtsersparnis gibt Yamaha gegenüber dem bisherigen R1-Motor an), sondern vor allem die bewegten Massen satt reduzieren. Resultat des Ganzen: Ein drehfreudiger, durchzugsstarker und sehr kompakter Motor mit nominell 200 PS Spitzenleistung – der sich perfekt in das gesamte, fahrfertig nur 199 Kilo schwere Bike einfügt. Breitestes Element am Body der Yamaha YZF-R1 ist der Rahmen, der in der Abmessung vor allem an den Haltepunkten des Motors genau dem M1-Rahmen aus dem MotoGP entsprechen soll. In Verbindung mit dem Magnesium-Rahmenheck, dem extrem leichten Alutank und der neuen, seitlich geführten Auspuffanlage ging es auch am Chassis deutlich mit dem Gewicht nach unten.
Selbst auf der Bremse stellt sich die Yamaha nicht auf
Bevor wir jetzt aber zum komplexen Elektronik-Paket kommen und uns vollends im Fachsimpeln verlieren, zurück zum Adrenalin. Es ist schlicht gigantisch, wie sich die neue R1 dank all der aufgezählten Neuerungen, den leichten Schmiederädern und und und fahren lässt. Auf den Punkt gebracht ist das 600er-Handling gepaart mit brachialer Superbike-Power. Schnelle wie langsame, richtig enge Ecken auf dem kniffligen Kurs lassen sich mit dieser Yamaha YZF-R1 im Husarenritt nehmen. Spielerisch klappt das Motorrad ab, ist dabei keinesfalls nervös, erlaubt mit jeder weiteren Runde immer engere Linien und spuckt einen punktgenau am Kurvenausgang wieder aus. Die kompakte Bauweise kommt dem Piloten dabei sehr zugute, denn man sitzt aktiv recht hoch und nah über dem Lenker auf dem Motorrad. Trotzdem bietet die neue R1 sehr viel Bewegungsfreiheit, und der flache Sattel verhindert unangenehmes Vorrutschen gegen den Tank.
Die Kombination Yamaha YZF-R1 mit dem straßenzugelassenen, aber Rennstrecken-orientierten Bridgestone RS10R (nur für die Präsentation montiert, Originalbereifung ist der gemäßigtere R10) ist extrem gelungen. Selbst auf der Bremse stellt sich die Yamaha nicht auf und verfolgt mega-neutral die gewünschte Linie. Besonders begeisternd ist die Art, wie gnadenlos sich das Superbike übers Vorderrad durch die Bögen dirigieren lässt. Lediglich in den ganz engen Erste-Gang-Ecken hätte das Gefühl für die Front etwas krisper sein können. Aber dafür wären vermutlich nur ein paar Klicks am hervorragend ansprechenden Fahrwerk und eine etwas Vorderrad-orientiertere Vorspannung hilfreich gewesen, doch ein zweistündiger Sommerregen machte diese Testmöglichkeiten zunichte. Dass die R1 aber formidables Feedback besonders vorn liefern kann, zeigte am Nachmittag die Slick-bereifte R1M, die damit in puncto Fahrverhalten und Handling schlicht noch eine riesen Schippe drauflegen konnte.

Und der in der Theorie schon beschworene Motor? Der zieht so gewaltig durch, dreht sauber bis über 14.000/min durchs Drehzahlband und prügelt Mensch und Maschine über die Piste, dass einem die Freudentränen fließen. Das liegt vor allem daran, dass der Vierzylinder durch seine Crossplane-Konstruktion in Kombination mit der Elektronik immer beherrschbar bleibt, nie durch plötzlichen brutalen Leistungseinsatz stresst und dennoch wie Hulle vorwärtsmacht. Und dann dieser Sound – nie nervig laut, aber immer knurrig aggressiv! Das Einzige, was man dem Triebwerk der Yamaha YZF-R1 vorwerfen kann, wenn man unbedingt das Haar in der Suppe sucht, ist die etwas harte Gasannahme besonders im ungedrosselten A-Modus. Aber außer beim Rausfahren in der Boxengasse oder im engsten Eck der Piste war dies kaum spürbar.
Ebenfalls vom Feinsten agiert die Bremse. Die neue Yamaha YZF-R1 bietet eine Kombibremse mit ABS, die auch bei hartnäckigen Vorderradbremsern hinten automatisch sanft mitbremst. Das stabilisiert das Bike am Kurveneingang zusätzlich. Zwar schlingerte die R1 das ein oder andere Mal hinten vor dem Einlenkpunkt, wie man das vor allem von superleichten 600ern kennt. Aber das war wohl dem heiß gelaufenen Straßenreifen geschuldet, denn spätestens auf dem Slick war die Bremsstabilität auf sehr hohem Niveau. Und das ABS regelte auf den schnellen Runden nie. Eingreifen tut das System nur im äußersten Notfall oder im Regen. Der eine oder andere wünscht sich vielleicht bissigere Stopper, aber mit entsprechenden Belägen und Scheiben lässt sich da sicher etwas machen. Die Verzögerung und Dosierbarkeit lassen jedenfalls keine Wünsche offen.
Top-Elektronik aus der MotoGP
Und hätte die Yamaha YZF-R1 bis hierher nicht schon für baffes Staunen gesorgt, setzt die Elektronik dem Ganzen die Krone auf. Einzel programmierbare Launch-, Wheelie-, Slide- und Traktionskontrolle, vier mögliche Power-Modi und sogar einen Quick-Shifter, der sich auf Straßen- und Rennstreckenbetrieb abstimmen lässt – das bietet so kein anderes Bike aus der Kiste. Vor allem wie sauber, geradezu unmerklich die Elektronik dafür sorgt, dass der Pilot völlig unbedroht den fetten Vortrieb des Vierzylinders und die feisten Schräglagen genießen kann, lässt mit der Zunge schnalzen.
Verantwortlich dafür sind neben dem aufs Feinste abgestimmten IMU-Rechner die Sensoren der Yamaha YZF-R1. Sowohl ein triaxialer Sensor, der Bewegungen entlang der Längs-, Quer- und Vertikalachse registriert, wie auch der Gyroskop-Sensor für Schräglagen und Neigung liefern die Daten für ruckfreies Regeln. Angezeigt wird das Eingreifen der Elektronik im Cockpit, zu spüren war es kaum – so fein geht das bei der R1 vonstatten.
Mit leicht angehobenem Vorderrad über die Kante
Beispiel Wheeliekontrolle: Mit dem Straßenreifen war es selbst mit Ziehen am Lenker in Stufe 3 nicht möglich, der R1 ein gehobenes Vorderrad zu entlocken. Wer mit Vollgas auf die Zielgerade in Eastern Creek ballert, muss mit aktivierter Wheelie-Kontrolle an der Querkante kurz nach dem Kurvenausgang keinen Vorderradlupfer fürchten. Die Yamaha YZF-R1 powert stoisch Turn 1 entgegen. Stattdessen signalisiert die TC-Anzeige Regeleingriffe und bügelt sanft den Schlupf des überhitzten Reifens aus.
Mit dem Slick dann ein anderes Bild. Mit leicht angehobenem Vorderrad geht es über die Kante, gerade so abgeregelt, dass die Front nicht in den Himmel schießt und die Yamaha YZF-R1 trotzdem forsch nach vorn marschiert. Hier zeigt sich auch der elektronische Lenkungsdämpfer von seiner besten Seite, ebenso wie an anderer Stelle auf dem teilweise Rübenacker-ähnlichen Kurs vor den Toren Sydneys. Rutscher am Hinterrad gab es auch in fiesesten Schräglagen und bei furchtlosem Dreh am Gasgriff keine zu beklagen. Wie gut die Slide-Control für uns Amateur-Racer funktioniert, kann nur ein entsprechender Test klären.
Technische Daten Yamaha YZF-R1
