Yamaha YZF-R6 im PS-Fahrbericht
Letzter 600er-Sportler?

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Überarbeitet und Euro 4-konform repräsentiert die Yamaha YZF-R6 tapfer die aussterbende Supersportler-Klasse. In Almeria durfte PS erstmals testen.

Letzter 600er-Sportler?
Foto: Yamaha

Wie doch die Zeit vergeht: Vor fast zehn Jahren war mein erstes richtiges Motorrad eine Yamaha YZF-R6. Ich musste sie einfach haben. Allein schon aufgrund ihrer Optik führte für mich kein Weg an der schnittigen Maschine vorbei. Es war Liebe auf den ersten Blick! Klar gab es geeignetere Bikes für die Landstraße, die auch noch um Welten funktioneller waren. Vor allem als erstes Motorrad – und zum Lernen sowieso. Aber coolere gab es eben nicht, und rationale Gründe konnten mich nicht umstimmen. Viele dachten so wie ich, wobei die ab 2006 angebotene YZF-R6 mit dem Typenkürzel RJ11 nicht nur wegen ihres Designs ein voller Erfolg wurde. Weil sie eben noch viel mehr kann, als nur schick aussehen, erfreut sich die Sechshunderter auf dem Gebrauchtmarkt so großer Beliebtheit. Versucht beim Renntraining mal an einer scharf gemachten R6 vorbeizukommen. Wenn der Pilot mit dem Sportgerät umzugehen weiß, wird das schwierig.

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Weniger PS als die allererste R6

Im Yamaha-Cup hatte ich letztes Jahr das Vergnügen, im Sattel einer Yamaha YZF-R6 besonders intensiv an Rundenzeiten feilen zu dürfen. Ich bin davon überzeugt, dass es viele Strecken gibt, auf denen ich jetzt mit einer Tausender gar nicht oder nur einige Wimpernschläge schneller wäre als mit einer deutlich leistungsschwächeren R6. An die Agilität und Genauigkeit der leichten Sechshunderter muss ein Superbike nämlich erst mal rankommen. Und an die spitze Leistungscharakteristik der Drehzahlfeile gewöhnt man sich. Trotzdem hängen die Mundwinkel bei mir erst mal tiefer, als die Leistungsdaten der 2017er-Maschine, intern trägt sie das Typenkürzel RJ27, bekannt werden: 118,4 PS ist weniger Power, als die allererste R6 von 1999 aufbrachte. Und trotz Alutank, leichterer Batterie und gekürztem Heckrahmen aus Magnesium wiegt die Neue mit fahrfertigen 190 Kilogramm ein knappes Kilo mehr als das unmittelbare Vorgängermodell.

Mehr Elektronik, wenig Bums

Schuld hat die Zulassungsnorm Euro 4. Anscheinend sind die Hürden ohne großvolumige Abgasanlagen mit entsprechenden Katalysatoren derzeit nicht zu bewältigen. Obendrauf kommt das vorgeschriebene ABS-System plus weitere Elektronik, Aktivkohlefilter, Tankentlüftung und so weiter. Dem Thema Leichtbau schmecken diese Posten nicht. Große Sorgfalt ließ Yamaha dafür dem Thema Aerodynamik zukommen. Um acht Prozent soll die neue Supersportwaffe windschnittiger sein als ihre Vorgängerin, was die 600er-Maschine angeblich zur Yamaha mit der besten Aerodynamik überhaupt macht. Die neue Frontpartie mit zentralem Lufteinlass sowie das strömungsgünstig gestylte Heck im Stil der großen Schwester YZF-R1 zeichnen dafür mitverantwortlich. Erspüren lässt sich eine um acht Prozent verbesserte Aerodynamik allerdings kaum – ohne direkten Vergleich schon gar nicht. Zuerst bestätigt sich im ersten von vier Turns auf der Rennstrecke von Almeria deshalb, was anhand der Leistungsdaten auf dem Papier bereits zu befürchten war: Die neue Yamaha YZF-R6 reißt powermäßig keine Bäume aus. Klar, schon die Vorgängermodelle waren im unteren und mittleren Drehzahlbereich keine Superhelden. Dazu verwandelten sie sich dann ab 12.000 bis etwa 14.500/min und brannten dort ein regelrechtes Feuerwerk ab.

Neue Yamaha YZF-R6 klappt ab wie der Blitz

Zwar dreht die neue Yamaha YZF-R6 laut Drehzahlmesser bis über 16.000/min, wirkt dabei aber regelrecht zäh. Einer der japanischen Techniker aus dem Entwicklungsteam erklärt vor Ort, dem Motor unter Euro 4 mehr Leistung zu entlocken sei enorm schwierig. Vom Handling gibt es dafür ausschließlich Positives zu berichten. Trägheit lässt sich die RJ27 sicherlich nicht anlasten, denn die 600er klappt ab wie der Blitz. Die aus der R1 stammende Kayaba-Gabel funktioniert außerdem prächtig. Sie spricht gut an und dämpft sehr konstant. Auf der Bremse lässt sich die Maschine enorm verwegen einbiegen, und das Gefühl fürs Vorderrad ist erstklassig! Beim Ansprechverhalten kann das straffe Kayaba-Federbein nicht ganz mit der Gabel mithalten. Aber insgesamt bleibt die Maschine immer schön in Balance, und das Gefühl für den Grip am Hinterrad beim Herausbeschleunigen stimmt ebenfalls. Die RJ27 beweist selbst bei harten Bremsattacken hohe Spurstabilität und neigt unterdessen weniger zum Ausbrechen mit dem Hinterrad als meine Cup-Maschine von 2016.

ABS lässt sich nicht ausschalten

Bei der Bremsanlage heißt die Teilespenderin abermals YZF-R1. Die Stopper beißen kräftig in die 320 Millimeter großen Bremsscheiben und der Druckpunkt bleibt über den gesamten Turn hinweg stabil. Wenn der Bremsdruck gleichmäßig aufgebaut wird, stellt sich die Yamaha YZF-R6 teilweise sogar aufs Vorderrad. Allerdings öffnete das ABS-System die Bremse einmal unangenehm lange, nachdem ich versuchsweise am Ende der Gegengeraden abrupt und wenig feinfühlig den Hebel ziehe. Abschalten lässt sich das ABS im Gegensatz zur neu implementierten Traktionskontrolle TCS mit sechs Stufen nicht. Die TCS sowie die Riding-Modes A, B und Standard (unterscheiden sich im Ansprechverhalten) lassen sich während der Fahrt umstellen beziehungsweise anwählen. Dem Rennsportgedanken geschuldet, funktioniert das Umschalten der Traktionskontrolle auf ein anderes Level auch bei nicht vollständig geschlossenem Gasgriff, sobald der vierte Gang oder ein höherer eingelegt ist. Bei dieser TCS handelt es sich um ein vergleichsweise simples System. Es arbeitet ohne die Schräglagensensorik einer R1, eine IMU-Sensorbox ist nicht vorhanden. Als Basis für das Intervenieren der TCS dient lediglich der Abgleich von Vorder- und Hinterraddrehzahl, woraufhin Zündzeitpunkt und Einspritzmenge reguliert werden. Ab Stufe drei regelt die TCS zurückhaltend. Allerdings zerrt eben auch nicht allzu viel Schmackes am Hinterrad.

Lösung des Leistungsproblems heißt YEC

Die Lösung des Leistungsproblems heißt YEC und bezeichnet nicht straßenzulassungsfähige Kit-Teile aus der hauseigenen Tuning-Schmiede. Für einen letzten Turn steht eine nach World-Supersport-Reglement aufgebaute RJ27 mit diesen feinen Teilen zur Verfügung. Traktionskontrolle und ABS sind zudem stillgelegt beziehungsweise entfernt. Außerdem besitzt diese Yamaha YZF-R6 einen ebenso harten wie griffigen Rennsitz und erinnert mich sofort an meine Cup-Maschine vom letzten Jahr. Mit Akrapovic-Komplettanlage, Kit-ECU und Racing-Kabelbaum geht die RJ27 ganz anders zu Werke als das Serienmotorrad – obwohl mechanisch am Motor nichts verändert wurde. Plötzlich ist sie aber da, diese formidable, aggressive Drehfreude. Zum super flinken Handling gesellt sich jetzt endlich noch Power. Wie angestochen knallt die 600er von Kurve zu Kurve. Genau so muss das sein! Ich vermisse weder ABS noch TCS und bin in diesem Moment ganz weit davon weg, mir eine Tausender herbeizuwünschen. Auch die RJ27 wird im professionellen Rennsport wieder erfolgreich sein, aufgrund von Konkurrenzmangel sogar im Alleingang. Leider schwinden für den Hobbyfahrer bei einem Anschaffungspreis von rund 14.000 Euro – mit Akrapovic-Auspuffanlage und einigen YEC-Teilen werden daraus ganz schnell 20.000 Euro – die guten Gründe, das 600er-Eisen weiter zu schmieden.

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PS 10 / 2023

Erscheinungsdatum 13.09.2023