
Noch heute schlägt mein Herz schneller, wenn ich an den 25. April 1985 zurückdenke. Als wäre es erst gestern gewesen, spüre ich den dicken Kloß in meinem Hals, meine feuchten Hände, die sich Halt suchend ans Lenkrad des Simca Rancho klammern, sehe den bangen Blick meiner Frau Carolin beim Anblick des Eisernen Vorhangs. „Nie wieder Ostblock!“, hatte sie mir zwei Jahre zuvor geschworen, nachdem wir an der tschechischen Grenze mit unserem Gespann ziemlich drangsaliert wurden.
Und doch steuerten wir an jenem Tag einen Leih-Transporter zum innerdeutschen Grenzübergang Herleshausen. Bis oben hin bepackt mit einer fast neuen BMW K 100 RS, zwei neuen Hinterreifen, zwei reparaturbedürftigen R 90/6-Tanks, einer rostigen Norton-Auspuffanlage, Stapeln von Motorradzeitschriften und diversen Geschenkpaketen. Alles bestimmt für meinen Freund Hans-Henner in Ost-berlin. Waren wir vielleicht nicht doch zu blauäugig, als wir uns auf diesen Freundschaftsdienst eingelassen hatten? Unsere anfängliche Abenteuerlust - was soll uns schon passieren? - war wie weggeblasen, als wir um die Mittagszeit vor dem DDR-Grenzbeamten stoppten. Ich weiß noch genau, wie ich ihm mit leicht zittrigen Händen und einem bemüht freundlichen Lächeln unsere Ausweise und die Unterlagen reichte, die uns Hans-Henner per Post geschickt hatte. Es dauerte nicht lange, bis der Grenzer aus dem Kontrollposten zurückkam. Wortlos drehte er eine Runde um den Simca, inspizierte dabei unsere Ladung. Dann gab er die Papiere wieder zurück und wünschte uns eine gute Fahrt. Sollte das wirklich alles gewesen sein? Wir waren total perplex, zentnerschwere Steine fielen uns vom Herzen, als wir mit unserer ungewöhnlichen Fracht in eine für uns völlig neue Welt eintauchten.

Rückblickend wirkt diese ganze Szenerie vor 28 Jahren irgendwie unwirklich. Damals hatten wir nach den weniger angenehmen Erfahrungen mit unserem Motorradgespann an der tschechischen Grenze nicht geglaubt, dass die Einreise in die DDR so reibungslos klappen würde. Wir durften unseren Weg nach Ostberlin sogar frei wählen und beschlossen, Weimar und Wittenberg zu besuchen. Die Fahrt dorthin ging ausschließlich über Landstraßen, es war wie eine Zeitreise. Auf dem Land schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Überall Kopfsteinpflaster, riesige Schlaglöcher, viele halb verfallene Häuser. Gemächlich zuckelten wir voran, die Anspannung wich der Neugierde. Die auf der gesamten Fahrt natürlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Nie werde ich die ungläubigen Gesichter der freundlichen Leute beim Anblick der BMW in unserem Kombi vergessen. Ebenso wenig den ersten Kontakt mit Hans-Henner.
Das war zu Pfingsten 1983. Ein paar Monate zuvor hatte ich bei einem Gespanntreffen erstmals von einem Motorradtreffen in der Tschechoslowakei erfahren. Eigentlich eine verbotene Veranstaltung. Die Behörden wussten, dass sich über Pfingsten die „Westler“ mit ostdeutschen Motorradfahrern trafen. Das ging, weil unsere Politiker die Motorradfahrer bei den Ostverträgen schlichtweg vergessen hatten. Der Ort des Treffens in der Tschechoslowakei wurde Jahr für Jahr mündlich verabredet. Im Frühsommer 1983 war es Jesenice. Da mich der „geheimnisvolle Osten“ immer schon interessiert hatte, beschloss ich, zu diesem Treffen zu fahren. Bei der Anfahrt erlebten meine Frau und ich zum ersten Mal am eigenen Leib die Willkür bei der Einreise-Kontrolle eines Ostblock-Staates.

Etwa 500 Meter vor der Grenze wollte ich den Sonnenuntergang fotografieren. Doch bis ich die Kamera ausgepackt hatte, war die Sonne hinterm Horizont abgetaucht. Obwohl ich kein Foto geschossen hatte, befahl mir der Grenzer, den Film komplett zu entwerten. Zum Glück verlief die weitere Fahrt bis zu unserem Ziel, einem Zeltplatz in Jesenice, ohne Zwischenfälle. Im Gedächtnis geblieben sind mir jedoch die heruntergekommenen Häuser und die Menschen, die einen frustrierten Eindruck auf mich machten.
Auf dem Zeltplatz wurden wir bereits von jenem Gespann-Haudegen erwartet, der mir von diesen „konspirativen“ Treffen erzählt hatte. Er machte uns mit allen Teilnehmern bekannt. Dabei fiel mir eine BMW R 90 S in Daytona-Orange mit DDRKennzeichen auf. Es war die Maschine von Hans-Henner, mit dem ich rasch in Kontakt kam. Das ganze Wochenende beantwortete er geduldig alle meine Fragen über das Leben jenseits des Eisernen Vorhangs. Wir unterhielten uns jedoch nur beim Laufen, zu groß war seine Angst, es könnte jemand mithören.
Schon vor dem Mauerbau fuhr Hans- Henner eine 500er-BMW. Als Besitzer eines West-Krads konnte er Anträge einreichen, um im Westen Ersatzteile zu beschaffen. So kam er auch an seine R 90 S. Er stellte zunächst einen Antrag für ein Fahrwerk. Und dann einen weiteren Antrag für einen Motor. Gleichzeitig musste eine vertraute Person im Westen eine R 90 S für ihn erwerben. Der Motor wurde ausgebaut und in die DDR versandt, später dann der Rest der begehrten BMW, die schließlich in der heimischen Garage komplettiert wurde. Mit den entsprechenden Dokumenten war eine Zulassung möglich. Die R 90 S war Hans-Henners ganzer Stolz. Und er genoss es, mit ihr etwas „ganz Besonderes“ zu besitzen.

Von Beginn an entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Beim nächsten Treffen 1984 erzählte mir Hans-Henner von seinem Wunsch, die R 90 S gegen die brandneue BMW K 100 RS zu tauschen. Und tatsächlich, im Frühjahr 1985 rief er mich an und fragte, ob ich ihm eine junge gebrauchte K 100 RS in Frankfurt bei seinem Freund abholen und ihm nach Ostberlin überführen könne. Spontan sagte ich zu, diese nicht alltägliche Aktion empfand ich damals als reizvolles Abenteuer.
Zunächst mussten jedoch andere -Personen aktiv werden. Hans-Henners Freund Klaus aus Frankfurt natürlich, der die blaue BMW K 100 RS von dessen Geld kaufte. Anschließend erwirkte Hans-Henners Tante aus Westberlin beim Notar eine Schenkung der BMW zugunsten ihres Neffen. Hans-Henner selbst hatte bereits ein Jahr zuvor die Einfuhrgenehmigung beantragt, die vom Ministerium für Außenhandel ausnahmsweise genehmigt wurde, nachdem sich die Schenkerin auch zur Übernahme der Einfuhrgenehmigungsgebühr in Höhe von 2000 D-Mark bereit erklärt hatte. Zusätzlich stellte mir Hans-Henners Tante eine handschriftliche Vollmacht für den Transport der BMW aus.
Bis wir die Maschine im April 1985 endlich mühsam in den Simca Rancho wuchten konnten (was nur mit ausgebautem Vorderrad möglich war), ging rund ein Jahr ins Land, das für meinen Ostberliner Freund mit enorm viel Schriftkram verbunden war. Telefonieren war ihm zu heiß, so wurde alles langwierig in Briefen geplant und geklärt.

Als wir an jenem denkwürdigen April-Abend endlich in Ostberlin eintrafen, wartete Hans-Henner schon gespannt auf „seine“ BMW. Die K wurde sofort in die Garage verfrachtet, niemand sollte sie sehen. Nie werde ich seine Rührung, seine Freude über das eigentlich unerreichbare Motorrad bei der ersten Sitzprobe vergessen. Ebenso wenig die Tage in Ostberlin, in denen wir hautnah den Alltag in der DDR erleben durften. Am ersten Tag fuhren wir durch die halbe Stadt, um irgendwo ein paar Putenschnitzel zu organisieren. Ich weiß nicht, was unser Freund dafür tun musste. Geld alleine reichte da nicht. Vielmehr blühte der Tauschhandel im Verborgenen, quasi als zweite Währung. Tags darauf stand Hans-Henner acht Stunden lang an, um „Berechtigungskarten“ fürs neu eröffnete Schauspielhaus zu bekommen. Und am Samstag lud er zu unserem Erstaunen einen befreundeten Pfarrer ein, um gemeinsam mit ihm die Bundesligaberichte in der Sportschau zu sehen. Es war seine Art, neben den Motorradtreffen in der Tschechoslowakei irgendwie den Kontakt mit dem Westen aufrecht zu erhalten. Der Abschied am Sonntag war ein besonders trauriger. Wir durften wieder zurück, Hans-Henner und seine Frau mussten wir jedoch in diesem Käfig zurücklassen. Damals konnten wir ja nicht ahnen, dass schon viereinhalb Jahre später die Mauer fallen sollte.
Für mich war 1985 das letzte Treffen in der Tschechoslowakei, während Hans-Henner mit seiner K 100 RS weiterhin jedes Jahr dorthin fuhr. Der Fall der Mauer 1989 bedeutete für ihn einen riesigen Zugewinn an persönlicher Freiheit, für seine K 100 RS zugleich jedoch den Verlust ihrer Exklusivität im vereinten Deutschland. Dennoch hielt Hans-Henner seiner blauen K 100 RS die Treue, hegte und pflegte sie, wie auch unsere Freundschaft.
Die hält nun schon seit fast 30 Jahren. Doch die Zeit geht an niemandem spurlos vorüber. Auch nicht an einer großen Motorrad-Liebe. In den letzten Jahren machten Hans-Henner die üppigen Pfunde seiner treuen Wegbegleiterin immer mehr zu schaffen. Im letzten Frühjahr rang er sich schließlich zu der schwierigen Entscheidung durch, seine K 100 RS zu verkaufen. Und wieder war ich es, der sich darum kümmern sollte. Als ich im vergangenen Mai geschäftlich in Berlin weilte, hatte ich bei unserem abendlichen Treffen allerdings noch nicht das Gefühl, dass ich sein Motorrad wieder „in den Westen“ mitnehmen sollte. Eine letzte Nacht hatte er noch, um seine Entscheidung zu überdenken.
Am nächsten Morgen stand sie aber endgültig fest, und wir luden die BMW in meinen Transporter. Dann bekam ich wieder eine Vollmacht ausgehändigt. Diesmal nicht zum Transport, sondern zum Verkauf der K 100 in seinem Namen. Zusammen mit allen Dokumenten, die diese bewegte Geschichte schwarz auf weiß festhalten.