Am Ende der Jubiläumsausgabe war dann doch wieder jeder dort, wo er hingehört. Die Favoriten brausten vorweg, die Amateure hinterher. Die Kamera des Fernseh-Hubschraubers zeigt in der Weitwinkeleinstellung ein ebenso schönes wie auch bizarres Bild. Von der Meeresseite aus gefilmt, liegt die Ortschaft Le Touquet-Paris-Plage links, am rechten Bildrand zeigt sich Stella-Plage – und dazwischen beeindruckt eine grandiose, riesige Dünenlandschaft, ins warme Abendlicht getaucht. Kurz vor 16.00 Uhr, also drei Stunden nach Rennstart, zeigt sich zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne. Ein meteorologisches Friedensangebot nach den heftigen Windböen und Temperaturen, die daran erinnern, dass auch am Atlantik Winter herrscht.
Klein wie Ameisen sind die übrig gebliebenen Akteure des ursprünglich 1100 Mann großen Starterfeldes zu erkennen. Vom Wendepunkt in Stella-Plage ab donnern sie mit Vollgas und schlingernd direkt am schäumenden Meer entlang nach Le Touquet hinüber. Ganz nach hinten geschoben, machen sich die Piloten klein auf ihren lang übersetzten Crossern. Bei 160 km/h flattern die dünnen Offroad-Hemden wie Bootsflaggen im Wind. Vor Le Touquet wechseln die Bedingungen, führt eine von Absperrband vorgegebene Piste in tiefen und weichen Sand. Vorbei an den Zuschauermassen im Zielbereich schlängelt sich die Strecke von einer Schleife in die nächste. Die Bagger haben die letzten Wochen ganze Arbeit geleistet und zu den eh schon vielen Richtungsänderungen auch noch schier endlose Wellentäler ausgehoben. Das zieht sich so hin bis zurück nach Stella-Plage, und der Rundkurs von knapp 13 Kilometern ist damit absolviert.
Das Chaos herrscht
Während der Übertragung waren die Kameras natürlich meistens ganz nah dran am Geschehen. Dann wurde aus dem chaotischen Miteinander der Hubschrauberperspektive eine Art Kriegsschauplatz, auf dem jeder gegen jeden und vor allem alle gegen sich selbst kämpfen. Ausgepumpte Fahrer sitzen auf ihren Mopeds und fahren einfach nicht mehr weiter, andere fallen ansatzlos in einer tief ausgefahrenen Sandspur um. Thermisch hoch belastete Motoren dampfen wie alte Lokomotiven; herrenlose Mopeds lehnen am Streckenrand. Das Chaos herrscht. Das war schon immer so in Le Touquet – aber selten schlimmer als in diesem Jahr. Während die Hobbyfahrer im Extremfall eine einzige Runde schaffen, rasen die Topleute in zehn Minuten um den Kurs.
Der nächste Kameraschwenk zeigt nun formatfüllend den Führenden Adrien Van Beveren. Der 24-jährige Sandspezialist genießt ausgiebig den Triumph der letzten Runde. Er weiß, der Hubschrauber filmt ihn, und so wheelt er lässig einhändig den Strand hinunter. In den drei Stunden Rennzeit unterlief ihm nicht der kleinste Fehler. Konditionsstark springt er jetzt noch von Welle zu Welle, umkurvt spielerisch langsame Fahrer, wechselt von rechts nach links wie auf Schienen. Zwei fehlerfreie Tankstopps inklusive perfekten Ankickens, kein technischer Defekt – und einfach nie vom Gas gehen. Seine Viertakt-Yamaha ist bärenstark und robust. Den ehemaligen MX1-Weltmeister Steve Ramon überholte er mühelos in der Highspeed-Passage. Mitfavorit Antoine Méo, vierfacher Enduroweltmeister und starker Ex-Crosser, musste seine KTM bereits nach einer Runde mit Defekt abstellen. Jetzt, in der letzten Runde, sind alle großen Namen aus der Zeitenliste verschwunden und die zumeist französischen Sandspezialisten unter sich. Ein Offroad-Langstreckenrennen und an der Spitze ein Tempo wie in der Motocross-WM – das ist gnadenlos, da bleiben nur wenige übrig. Noch ein paar Kurven, dann holt sich Van Beveren nach seinem Vorjahreserfolg den zweiten Sieg in Le Touquet. Er musste hart dafür arbeiten – viel härter, als im vergangenen Jahr.
Moden kamen und gingen – mit Enduro du Touquet ging es immer weiter
Warum? Mit der 40. Auflage des Rennens schienen sich die Verantwortlichen an gute alte Zeiten zu erinnern – und an die legendären Staus in den Dünen. Seit der Premiere 1975, als der umtriebige Paris-Dakar-Erfinder Thierry Sabine die Idee eines riesigen Strandrennens von den Amerikanern kopierte, hing über Generationen die Masse der Fahrer im Sand fest. Start, abbiegen, festhängen. Die Topfahrer bliesen vorneweg und fanden auch in den darauf folgenden Runden irgendeinen Weg durchs Getümmel. Der Rest aber übte sich im Warten, Schieben, Keuchen. Für Fotografen ein dankbares Nadelöhr. Gegenlicht, Massen an Motorrädern – auf ewig faszinierende Bilder.
In den 70er-Jahren dominierten luftgekühlte Twinshock-Zweitakter und Jethelm-Fahrer mit Backenbart. Mit den modisch grenzwertigen 80er- und 90er-Jahren kamen Pornobart und wassergekühlte Motoren. Moden kamen und gingen – doch mit Enduro du Touquet ging es immer munter weiter. Die einzige Rennabsage erfolgte 1991 wegen des Golfkriegs. Dann schließlich 2006 die Umbenennung des Rennens in Enduropale. Ein Wortmix aus Enduro und Opalküste. Damit war dann Schluss mit Stau und den Dünen. Der Beginn des Naturschutzes in Frankreich! Heutzutage dürfen nicht mal mehr die Zuschauer in den Dünen stehen, während die Fahrer sich nun unten im tiefen Sand vergnügen. Bis jetzt, 2015? Da haben die Streckenbauer offensichtlich so tief im Sand gebuddelt, dass die schnellen Fahrer vorne mit Vollgas die erste Runde absolvieren, während Hunderte andere Fahrer ausgerechnet unter dem Werbebogen des Brauseherstellers Red Bull festhängen. Irgendwann geht nichts mehr. Die ersten Kupplungen sind hinüber, Kühler rauchen, einige verheddern sich in den Abspannbändern des aufgeblasenen Reklamegedönses. Und dann ist es wieder wie vor Jahren.
Die Topfahrer kommen von hinten angerauscht, finden blitzschnell eine Lücke, einen Hang. Und mogeln sich so halb legal an der Standparty vorbei. Und weiter geht es, während für einige das Rennen hier und jetzt in der ersten Runde endet. Irgendwann fällt der Werbebogen endgültig um – und danach geht es für die meisten langsam weiter. Adrien Van Beveren dagegen erreicht derweil die Zielflagge unter großem Jubel von rund 200 000 Zuschaueren und feiert einen verdienten Sieg. Wie beschreiben die Veranstalter ihr Rennen? „Ein mythischer Kurs mit extremen Bedingungen.“ So ist es – und zwar seit exakt 40 Jahren.
Ein Knipser im TV
Über Jahre malträtierte MOTORRAD-Fotograf Markus Jahn seine schreibenden Kollegen mit einem Schwall infantiler Berufsweisheiten. Ein Auszug aus seinem Fundus: „Bilder sagen mehr als Worte“ oder „Nur Trottel glauben, eine gute Geschichte brauche einen Text.“ Neben dieser Frotzelei frönte Jahn seinen Offroad-Hobbys, versuchte sich mit überschau-
barem Erfolg im Motocross und im Trial.
Irgendwann dann der Sündenfall: Weil er sportlich wenig riss, aber vieles wusste (das meiste sogar besser), griff er selbst zur Tastatur und beglückte die MOTORRAD-Leser fortan mit seinen Sportgeschichten.
Jetzt die nächste Evolutionsstufe: Jahn quasselt für Geld. Stefan „The Voice“ Heinrich, Eurosport-Urgestein mit breit angelegter Motorsport-Vergangenheit und derzeit Leiter der deutschen Sparte des Motorsportsenders Motors TV (siehe unten), engagierte den Dampfplauderer und Meister unvollständiger Sätze für die Offroad-Übertragungen des Senders. So wie jetzt für das Strandrennen von Le Touquet. Da sitzen sie dann, der Nachwuchskommentator Jahn und der mit allen Wassern gewaschene Heinrich, spielen sich gegenseitig wild gestikulierend die Bälle zu, kennen vieles und jeden – und liefern den spannenden Hintergrund zur materialmordenden Sandschlacht an der französischen Atlantikküste. Ganz gemütlich, aus bequemen Bürostühlen in einem Tonstudio im schwäbischen Reutlingen.sek
Motors TV wurde 1999 von Jean-Luc Roy gegründet und bietet alles, was rund um den Globus an Motorsport stattfindet. Für 2015 im Motorradbereich fix: MX-WM (nur in Englisch), Enduro-WM (Highlights), Sixdays (Highlights), MX der Nationen, SX Paris – Bercy. Noch offen ist die Outdoor- und Indoor-Trial-WM. Empfangbar in Deutschland über Kabel BW und Unitymedia, derzeit zirka 1,5 Millionen deutschsprachige Kunden.