Bis zum Ende des Sommers wollen wir Wheelies sicher beherrschen“, sagt Max und verweist auf die Gruppe von Freunden, die alle begeistert Supermotos fahren. Max hat letztes Jahr 30000 Kilometer auf seiner KTM Duke 125 absolviert. Seit er kürzlich 18 wurde und den großen Schein hat, fährt er eine 640er-LC 4 Supermoto. Das Teil ist nur ein Jahr jünger als er, stand für 3000 im Netz und punktet mit ein paar Modifikationen plus Akrapovic-Dämpfer.
„In Herdecke, wo ich wohne, gibt es bestimmt sieben, acht KTM-Supermotos“, sagt der Waldorfschüler, der neben der Schule noch arbeiten geht. Seine KTM soll weiter optimiert werden, was sicher nicht ganz billig abläuft. Aber für Ersatzteile,
Tuning oder Sprit sei ihm kein hart verdienter Euro zu schade, meint Max. Sein Kumpel Julian, der die gleiche Schule besucht, sieht das ähnlich. Julian ist unseren Lesern übrigens kein Unbekannter: Über seine Zweirad-Entwicklung berichtete MOTORRAD als Dokumentation eines leidenschaftlichen Starts in das Motorrad-Leben bereits mehrfach (Heft 7/2014 und 18/2015). Nach zwei lehrreichen Jahren auf der 125er-Duke kaufte Julian sich vom Erlös der kleinen Kult-KTM nicht sein Traumbike 690 SMC, sondern aus Kostengründen zunächst eine gebrauchte Yamaha XT 660 X, die er sukzessive technisch verfeinerte. „Im Serienzustand ist die XT suboptimal für unsere Art zu fahren“, sagt der 19-Jährige. Also machte auch Julian seine Maschine fit für das, was die Supermoto-Kids am geilsten finden: Wheelies, Wheelies, Wheelies.
Dabei zählen Technik und Optik gleichermaßen. Neben leichten Sportschalldämpfern, Fahrwerksmodifikationen, angepasster Übersetzung, Power-Commander und weiteren Maßnahmen, für deren Eintragung verständnisvolle TÜV-Prüfer kein Nachteil sind, zählen auch Graphics, Spiegel, Blinker und so weiter. „Eigentlich ist die Yamaha mit rund 180 Kilo zu schwer“, sagt Julian, der deshalb gerne nur halb volltankt, damit die Kiste besser steigt. Max ist mit den rund 140 Kilo seiner KTM da klar im Vorteil, dafür läuft sein Einzylinder deutlich rappeliger.
Wie viele ihrer Freunde haben sich auch die beiden sportlichen Waldorfschüler früh über BMX-Räder, Mountainbikes oder Skateboards Feingefühl für instabile Fahrzustände angeeignet. Julian ist schon richtig gut auf dem Hinterrad, Max muss noch etwas üben, dafür meistert er das Bremsen auf dem Vorderrad manierlich. Der Beste aus der Clique, von der es im Ruhrpott viele gibt, ist allerdings Marvin, dessen LC 4 heute leider wegen technischer Unpässlichkeit nicht am Start ist. Er beherrscht das Spiel am Kipp-Punkt wie kein anderer der Gruppe, kann seine Maschine am längsten in der Twelve o’Clock Position halten, der Zwölf-Uhr-Stellung, bei der das Motorrad im 90-Grad-Winkel in den Himmel zeigt.
Wer gute Wheelies immer und überall performen kann, bekommt die meiste Anerkennung oder wird Youtube-Star. So wie die Vorbilder der jungen Supermoto-Fans, die im Netz unter Namen wie Querly, David Bost, Zegast, Kenny Stundriding etc. Tausende Anhänger motivieren, es ihnen gleichzutun. Die jungen Wilden, die das Potenzial einzylindriger KTM, Husqvarna, Beta, Husaberg und ähnlich leichter, druckvoller Geräte voll ausnutzen, setzen nicht nur Trends in Sachen Technik und Fahrkönnen, sondern auch hinsichtlich Lebensgefühl und Style. Querly alias Dominik Schröder hat im Namen seiner Bekleidungslinie das Leitmotiv der Supermoto-Kids optimal ausgedrückt: Grenzgänger. Ohne diesen Markennamen, der auf den Hoodies abgedruckt sein sollte, bist du nicht wirklich dabei. Das Kapuzenshirt wird über der Protektorenweste oder Lederjacke getragen, die Helme dürfen verziert sein. Werden sie abgesetzt, kommt die auch in anderen Szenen verkehrt rum getragene Baseball-Kappe zum Einsatz.
Querly versteht es meisterhaft, in jungen SM- und Enduro-Piloten das Bedürfnis nach Rebellentum, artistischer Fahrzeugbeherrschung und Merchandising-Artikeln zu wecken. Wie die Generation der heute über 50-Jährigen damals mit dem Motorrad Freiheit und das Reiben an etablierten Werten gesucht hat, gieren unsere jungen Helden heute nach ganz ähnlichen Kicks, sie wollen sich und das Leben spüren. Das läuft nicht immer streng im Rahmen der Straßenverkehrsordnung ab. Ein mit der Redaktion befreundeter Polizeibeamter bringt es auf den Punkt: „Jetzt hatten wir 30 Jahre lang Ruhe, und nun geht es wieder los.“ Er meint den Stress mit den jungen Fahrern. Ihrem überschäumenden Temperament und der Neigung, sich zu beweisen, Show zu bieten und Anerkennung zu generieren. Dafür bieten die sozialen Netzwerke eine effektive Bühne.
Doch es geht nicht nur um Show, sondern um ganzheitliche Beschäftigung mit dem Thema: Max, Marvin und Julian wissen erstaunlich gut über Modelle, Motoren- und Fahrwerkstechnik oder Reifen Bescheid. Sie tauschen sich regelmäßig aus. Ihr Wissen stammt indessen nicht aus Fachmagazinen wie MOTORRAD, sondern ausschließlich aus Internetforen und eigenen Erfahrungen. Max, der sich später auch einen leistungsstarken Vierzylinder vorstellen kann, will sich in Sachen Wheelie-Sucht aber nicht stigmatisieren lassen: „Letztlich war da so ein Typ auf einer S 1000 XR, der stundenlang an einer Applauskurve Wheelies gefahren ist. Der war locker über 50.“ In diesem biblischen Alter befindet sich mittlerweile auch der eine oder andere MOTORRAD-Redakteur.
Also ist das Phänomen Wheelie nicht eine Frage des Alters, sondern ein Mix aus Gemütszustand, psychischer Disposition und Fahrzeugbeherrschung. Unsere Youngster trainieren hart, um ihre Mopeds optimal im Griff zu haben. Ganze Cliquen üben jeden Abend nicht nur Wheelies, sondern auch Stoppies, Driften und andere Formen der Motorrad-Akrobatik. Was durchaus positive Aspekte hat, denn ein souveräner Umgang mit der Maschine im Grenzbereich ist ein nicht zu unterschätzendes Plus in Sachen Sicherheit. Gleichzeitig kann der Weg dorthin gefährlich sein. Denn die Kids üben nicht ausschließlich auf leeren Supermarkt-Parkplätzen, Industriebrachen oder abgesperrten Flächen, sondern wheelen auch im Straßenverkehr und sind Risiken generell nicht abgeneigt, wie auf den Videos immer wieder deutlich wird. Aber so abgedreht lebensverachtend wie die einschlägigen Internet-Spinner, die ihre Highspeed-Orgien auf Supersportlern zelebrieren, benehmen sich die Youngster noch lange nicht. Die Gefahr sei ihnen bewusst, beteuern Max und Julian einhellig. Sie versuchen, alle Risiken zu berechnen, der Führerschein ist ihnen heilig. „Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn wir nicht fahren können“.
Und was tut die Industrie, um diesen jungen SM-Trend zu begleiten? Bis jetzt nicht viel. Der erklärte Star der Szene ist die Husqvarna 701 Supermoto (Test in MOTORRAD 22/2017), die sich bis dato fast 1000-mal verkaufte. Völlig zu Recht: Das Teil sieht lecker aus, ist stark, schnell, stabil, aber leicht und wendig bei toller Laufkultur und guter Verarbeitung. Husqvarna-Händler Richard Fritsche aus Dorsten (www.rforce-racing.de) berichtet von einem waren Run auf die Husky. Sie werde ihm aus den Händen gerissen. „Da kommen 17-Jährige und wollen voll finanzieren“, egal was die Eltern dazu sagen. Auch Julian und Max träumen vom potenten Einzylinder, werden aber erst mal Abi machen. Dazu weiter trainieren, Touren unternehmen, Fahrfreude erleben. Julian: „Abgesehen von der Husky gibt es über 125 Kubik kaum neues Material, was uns junge Aufsteiger euphorisieren würde.“ Beliebteste Gebraucht-Japanerin sei die Suzuki DRZ 400, ansonsten dominiere KTM die Szene. Die hätten den Spirit auch mit der Husky kapiert, sind sich Max und Julian einig. Dann wheelen sie wieder.