Ein Motorrad bleibt bei Fahrt dank physikalischer Effekte wie Kreiselmomenten und Reifenkräften erstaunlich stabil – fast, als würde es sich selbst aufrichten. Doch diese Stabilität ist nicht nur ein Vorteil: Wer Kurven fahren will, muss sie gezielt überwinden.
Schließlich wollen wir ja in Schräglage um Kurven fahren, sonst wäre Motorradfahren ziemlich langweilig. Wir müssen unser Gefährt, das von selbst lieber seinen Zustand beibehalten möchte, also dazu motivieren, zu kippen. Beim Einleiten einer Kurvenfahrt und auch zum Wiederheraussteuern müssen wir das Kreiselmoment des Vorderrads also überwinden und, um die Schräglage zu ändern, Kräfte bzw. ein Lenkmoment auf den Lenker ausüben.
Nach links lenken, um nach rechts zu kippen
Kurioserweise verlangen sowohl der gyroskopische Effekt als auch die Reifenkräfte von uns, nach links zu lenken, um nach rechts zu kippen und umgekehrt. Lenken wir nach links, fährt das Vorderrad auch nach links und es ergibt sich eine neue Spurlinie. Die im Schwerpunkt angreifende Gewichtskraft, die vorher durch die alte Spurlinie lief, verläuft nun plötzlich rechts davon. Damit gerät unser Gefährt aus dem Gleichgewicht und kippt nach rechts.
Schneller, schwerer, größer
Je schneller wir die Schräglage ändern wollen und je schneller wir fahren, umso kraftvoller will unser Motorrad aufgrund steigender Kreiselmomente gelenkt werden. Wenn wir in der praktischen Übung vom Anfang das Rad schneller drehen, brauchen wir mehr Kraft, um es zu kippen.
Könnten wir das Gewicht ändern, würden wir feststellen, dass hohes Gewicht und großer Durchmesser (größeres Trägheitsmoment um die Raddrehachse) den Kraftaufwand weiter erhöhen würden. Die Kreiselmomente sind also wie erwähnt Geschenk und Bürde zugleich: Sie stabilisieren ein Einspurfahrzeug – man braucht aber Kraft, um es zu steuern, insbesondere in schnellen Wechselkurven.
Dies war eine vereinfachte Beschreibung der stabilisierenden Wirkung der Kreiselmomente und des Lenkvorgangs des Motorrads. Zugunsten der Anschaulichkeit soll das hier auch so bleiben. Wer es genau wissen möchte, dem legen wir das Fachbuch "Motorrad Fahrdynamik" von Benno Brandlhuber, Dirk Wisselmann und Stefan Nebel ans Herz, das die Physik des Motorradfahrens für interessierte Laien anschaulich und umfassend behandelt.
Grund für leichte Alu-Schmiede- oder Carbonräder
Nachdem wir eine wichtige physikalische Komponente des Motorradfahrens, das Kreiselmoment, kennengelernt haben, verstehen wir, ...
- ... warum besonders sportliche Motorräder heutzutage mit leichten Alu-Schmiede- oder sogar Carbonräder ausgestattet werden: Sie sollen damit auch bei hohem Speed leicht lenkbar bleiben.
- ... warum Offroad-Bikes hingegen mit großen Rädern bestückt sind , die größere Kreiselmomente erzeugen und schon bei niedrigem Tempo die Fahrstabilität erhöhen.
- ... Roller sich dank kleiner Räder mit geringem Kraftaufwand durch den Verkehr wedeln lassen.
Der Fahrversuch
Wie es sich auf das eigene Motorrad auswirkt, wenn man die Kreiselmomente verändert, wollen wir im Fahrversuch veranschaulichen. Als Testfahrzeug dient eine BMW S 1000 RR, ausgestattet mit leichten Carbonrädern und insgesamt 198 Kilogramm schwer.
Sie soll mit konstanter Geschwindigkeit durch einen Slalom-Parcours manövriert werden. Variationen der Kreiselmomente bewirken zunächst unterschiedliche Geschwindigkeiten (40 km/h, 80 km/h, Maximum, Kontrolle per Lichtschranke).
Anschließend montieren wir vorn das Serienrad aus Aluguss, dessen Masse im Vergleich zum Carbonrad bei gleichem Gesamtgewicht weiter außen liegt und so ein größeres Massenträgheitsmoment erzeugt. Zusätzlich erhöhen wir die Masse mit Wuchtgewichten um 1,2 Kilogramm und wiederholen den Fahrversuch.
Kein großer Unterschied
Spürbarer Unterschied zwischen dem leichten und dem schweren Vorderrad? Stefan Nebel, Profi-Racer und Entwicklungsfahrer, gibt nach dem Versuch zu Protokoll: "Der Unterschied ist nicht riesig, bei 80 km/h könnte man mit dem schwereren Vorderrad auch denken, dass der Lenkungsdämpfer um zwei Klicks zugedreht wurde."
Eine anschauliche Beschreibung von leicht erhöhten Lenkkräften, die erst bei mittlerer Geschwindigkeit auffallen. Bei 40 km/h bleibt dieser Unterschied noch verschwindend gering. Man kann also sagen, dass ein schweres Vorderrad das Motorrad durch die Kreiselwirkung erst bei höherem Tempo spürbar unhandlicher macht.
Besonders deutlich wird die Wirkung des erhöhten Vorderradgewichts beim Versuch, den Slalom mit der maximal möglichen Geschwindigkeit zu absolvieren. Mit dem leichteren Vorderrad gelingt es MOTORRAD-Cheftester Karsten Schwers mit 116 km/h, nach Erhöhung des Radgewichts nur noch mit 109 km/h. Ein eindeutiges Ergebnis also, das sich im Detail am besten anhand der Computersimulation erklären lässt.
Das Simulationsmodell
Seit den 80er-Jahren hantieren Motorradhersteller mit solchen Modellen, die das Fahrverhalten eines Motorrads in definierten Situationen nach Eingabe der relevanten Parameter simulieren können. Heute sind diese Modelle dank der rasanten Entwicklung im Hard- und Softwarebereich weit fortgeschritten und können sämtliche Fahrmanöver wie Kurvenfahrt, Wheelies und Stoppies und auch Gemeinheiten wie Chattering, Highsider und Tank-Slapper abbilden.
Wie das Bild unten zeigt, besteht das hier von Dirk Wisselmann entwickelte Modell aus acht Körpern (Vorder- und Hinterrad, Ober- und Unterteil der Telegabel, Chassis mit Motor, Schwinge und Fahrer, aufgeteilt in Unter- und Oberkörper), die über Gelenke miteinander verbunden sind, sich somit relativ zueinander bewegen können. Diese Gelenke sind das Lenkkopflager, das Schwingenlager und die Radlager.

Das von Dirk Wisselmann entwickelte Modell besteht aus acht Körpern.
Aerodynamik mit Luftwiderstand berücksichtigt
Das virtuelle Motorrad kann sich also genauso bewegen wie ein echtes auf der Straße. Damit es auch virtuell fährt, verfügt es über ein komplexes Reifenmodell, um die Reifenkräfte zu berechnen, und natürlich über die Feder- und Dämpferelemente und -kräfte der Radaufhängungen. Dazu kommen die Quer-, Längs- und Torsionssteifigkeit der Telegabel, die Torsionssteifigkeit des Rahmens und die Torsions- und Biegesteifigkeit der Schwinge.
Auch der Fahrer ist beweglich modelliert. Er kann sich mit seinem Oberkörper in Querrichtung und nach vorne und hinten bewegen. Selbstverständlich ist auch die Aerodynamik mit Luftwiderstands- und Auftriebskräften berücksichtigt. Die große Stärke des Modells: Man kann all diese Eigenschaften in Sekundenschnelle variieren und sieht sofort, wie sich Änderungen auf das Fahrverhalten auswirken. So wie zum Beispiel eine Änderung des Vorderradgewichts.
Mehr Lenkmoment bei höheren Geschwindigkeiten
Betrachten wir anhand der Simulation nun, wie sich das erforderliche Lenkmoment im Detail verändert. Zunächst ist festzustellen, dass es über die Geschwindigkeit stark ansteigt. Bei 40 km/h sind beschauliche 4 Newtonmeterchen fällig und bei 83 km/h werden es dann schon 36 Nm, also das Neunfache. Bei 116 km/h sind schließlich beachtliche 100 Nm (jeweils maximal) erforderlich, das ist schon richtig viel und bringt selbst Profi-Tester Karsten an seine Grenzen.
Warum steigt der Lenkmomentbedarf so massiv an, obwohl der Zusammenhang zwischen Kreiselmoment und Fahrgeschwindigkeit linear ist? Weil natürlich auch der Schräglagenbedarf zum Umkurven der Pylonen steigt.
Mehr geht nicht
Sind es bei 40 km/h noch acht Grad, werden es bei 83 km/h schon gut 20 Grad und bei 116 Sachen sind dann immerhin 28 Grad notwendig. Klingt wenig beeindruckend, aber mehr geht nicht. Die Simulation zeigt, dass bei 116 km/h im Umkehrpunkt (dort, wo das Motorrad zwischen den Pylonen für einen Moment aufrecht fährt) kurz das Hinterrad abhebt – hier ist das Limit. Karsten konnte also wirklich nicht schneller.
Und nun mit Radgewichten
Kommen wir jetzt zum Vergleich der Radgewichte, wobei eigentlich nicht das Gewicht, sondern die rotatorische Masse bzw. das Rotationsträgheitsmoment entscheidend ist. Dieses erhöht sich bei unserem Vergleich (+ 1,2 kg) um ca. 19 Prozent. Bei 40 km/h ist noch kein Unterschied zu erkennen, bei 83 km/h sind dann 42,4 Nm statt 35,9 Nm erforderlich und bei 116 km/h wären es 118,2 Nm.
Das hat Karsten nicht mehr gepackt, bei 109 km/h war mit dem schweren Rad Feierabend. Man kann aber grob sagen, dass die Erhöhung des Rotationsträgheitsmoments um 19 Prozent auch in dieser Größenordnung das Lenkmoment steigert.