Seit SLK und A-Klasse scheinen die Zeiten, in denen nur ältere Herrschaften mit weißen Haaren und Hut die schwäbische Renommiermarke favorisierten, entgültig passé zu sein. Sogar Motorradfahrer geraten nun als potentielle Kunden ins Visier von Daimler-Benz.
Nicht von ungefähr durfte MOTORRAD als erste Zeitschrift Bilder über das Forschungsprojekt F 300 Life-Jet veröffentlichen (siehe Heft 20/1997), noch bevor die Automagazine des Zwitters zwischen Auto und Motorrad habhaft wurden. Inzwischen ist die Erprobung so weit fortgeschritten, daß man sich mit dem Dreirad an die Öffentlichkeit wagt. Platz des Geschehens: eine pottebene Asphaltfläche des Münchner Flughafens.
Die Angst, daß etwas Unvorhergesehenes passieren könnte, umtrieb die Mercedes-Mannen um Projektleiter Günter Hölzel derart, daß sie lediglich einen mit Überollkäfig bestückten Versuchsträger, vollgefropft mit Elektronik und zahlreichen Meßeinrichtungen, zu Fahrversuchen herausrückten. Dann die mahnenden Worte: »Bitte nicht schneller als 70 fahren, am besten im dritten Gang.« Das klingt nach Abenteuer. Was würde passieren?
Nichts Weltbewegendes, um es vorwegzunehmen. Als wenn es gar nicht anders sein könnte, neigt sich der F 300 brav, keineswegs spektakulär in die Kurve, sogleich beginnen die Vorderräder heftig zu kreischen, ein Warnsignal ertönt. Nein, einem Biker treibt das kein bißchen Adrenalin ins Blut. Der Three-Wheeler ist kinderleicht zu fahren, schiebt, wenn`s ihm zu schnell geht, über die Vorderräder und neigt sich ganz von selbst in die Kurven. Dafür sorgen gleich drei Computersysteme, die sich gegenseitg kontrollieren. Sie geben einem Hydraulikzylinder die Befehle, der vorn zwischen den Vorderrädern sitzt und von einer Hydraulikpumpe unter Druck gesetzt wird. Er verstellt auf Geheiß des Rechners die Anlenkpunkte der vorderen Federbeine, Chassis und Vorderräder kippen in die Kurve. Wie stark, hängt von der Geschwindigkeit, dem Lenkeinschlag und dem Gierverhalten des Dreirads ab.
Narrensicher auch die Bedienung. Die Pedale sind wie bei einem herkömmlichen PKW angeordnet, lediglich die sequentielle Schaltung des Fünfganggetriebes, die rechts in der Seitenwandung sitzt, braucht zwischen den Gängen immer ein paar Gedenksekunden. Offenbar tut die elektrisch/hydraulische Aktivierung noch nicht richtig.
Die Sitzposition in der länglichen Kabine gerät recht komfortabel, der Rundumblick ist hervorragend. Etwas enttäuschend fällt die Beschleunigung aus. Das hohe Gewicht des Versuchsfahrzeugs von über 800 Kilo setzt dem Vorwärtsdrang des 1,6 Liter-Vierzylinders aus der A-Klasse deutliche Grenzen. Dafür verzögert das Dreirad dank vorn innenbelüfteter Bremsscheiben samt Vierkolbenzangen erstklassig.
Ehrlich gesagt, die »neuen Dimensionen der Fahrdynamik« (O-Ton Daimer Benz), in die der Live-Jet vordringen soll, bleiben ein wenig verborgen.
Aber wir wollen nicht ungerecht sein. Sicherheitsaspekte haben bei einem Hersteller wie Daimler Benz natürlich allerhöchste Priorität. Man stelle sich vor: Erste Fahrberichte würden von abenteuerlichen Schräglagenfahrten erzählen; einen umgestürzter Three-Wheeler kann sich Mercedes nach dem Elch-Test nun wirklich nicht noch mal leisten
Doch fahren wir fort: Sportivere Naturen können der Software des F 300 per Knopfdruck ein anderes Kennfeld entlocken. Das Chassis samt den Vorderrädern kippt dann beim Einlenken spontaner in Richtung Kurveninneres, in Slalomkurven kommt sogar ein bißchen das Gefühl wie in einer Schiffsschaukel auf. Zum Thema der mangelnden Agilität des fast vier Meter langen und 1,73 Meter breiten Gefährts: »Im Serienbau könnte der F 300 auf 600 bis 650 Kilo abgespeckt werden«, so Projektleiter Höltzel.
Der Vorstand wird noch in diesem Jahr entscheiden, ob eine Serienfertigung in Frage kommt. Dazu soll noch eine Publikumsbefragung auf der IAA ausgewertet werden. Vorläufiges Fazit: Mit dem Fahrspaß und der Dynamik eines ganz gewöhnlichen Motorrads kann der Life-Jet nicht konkurrieren. Eher schon mit der Hausmarke SLK oder anderen Roadstern.
Technik: Mercedes F 300 Life Jet - Technokrad
In der Studie F 300 Life Jet von Daimler-Benz steckt jede Menge technisches Know-how
Der Anspruch, den das neue Konzept erhebt, ist hoch: die Kurvendynamik eines Motorrads mit der Sicherheit und dem Komfort eines Pkw zu vereinen. Konsequenz: ein Fahrzeug mit einer Fahrgastzelle, die sich in die Kurve neigt. Alles schon mal dagewesen, behaupten Skeptiker. Das stimmt insofern, als bereits das verkannte Genie Ernst Neumannn »Neander« dreirädrige Kurvenneiger baute. Doch bei seiner und nachfolgenden Konstruktionen verursacht wie beim Motorrad der Fahrer abhängig von Kurvenradius und Geschwindigkeit die Seitenneigung des Fahrzeugs. Beim Life Jet dagegen hat dieser darauf keinen Einfluß. Eine sogenannte Wanksteuerung zwingt den F 300 in Schräglage.Zu diesem Zweck sind die Federbeine der Vorderachse am oberen Anlenkpunkt nicht fest mit dem Chassis verbunden, sondern in quer zum Fahrzeug beweglichen Schwingen gelagert. Eine Stange verbindet die oberen Aufhängungspunkte der Federbeine. Signalisieren Sensoren Kurvenfahrt, verschiebt ein Hydraulikzylinder die Federbeinaufnahmen, und das Fahrzeug neigt sich in den Doppelquerlenkern der Vorderachse bis maximal 30 Grad zur Seite.Neu sind außerdem die Scheinwerfer, die mit einer automatischen Kurvensteuerung arbeiten. Hinter der Streuscheibe sitzen drei Reflektorbereiche mit zwei Glühlampen. Der obere Teil dient dem Abblendlicht, der mittlere dem Nebellicht, und die untere Fläche bündelt das von einer H4-Lampe erzeugte Fernlicht. Ein Elektromotor dreht abhängig vom Neigungswinkel der Karosserie den schwenkbar gelagerten Reflektor bei Kurvenfahrt stets in horizontale Lage. Außerdem schaltet dann das Nebellicht zu und vergrößert so die Streubreite des Abblendlichts auf über 45 Grad.Besonderen Wert legten die Entwickler auch auf die passive Sicherheit. Der 1,6 Liter große Vierzylinder der A-Klasse ist im Heck zwischen Fahrgastzelle und Hinterrad so installiert, daß er bei einem Heckaufprall an der schrägen Rückwand des Chassis unter das Fahrzeug gleitet.Für Fahrkomfort sorgt das Getriebe mit sequentieller Gangwahl. Beim Antippen des Schalthebels nach vorn oder hinten werden ähnlich wie beim Motorrad die Gänge in einer Ebene hoch- und runtergeschaltet. Die Übertragung erfolgt aber nicht mechanisch, sondern elektronisch-hydraulisch. Diese und weitere konstruktiven Bemühungen wie die nur 89 Kilogramm schwere Fahrgastzelle aus Aluminium oder die speziell für den F 300 entwickelten Reifen gipfeln in einem akzeptablen Resultat: Die Dynamik eines Zweirads erreicht der Life Jet zwar nicht, übertrifft hinsichtlich Sicherheit und Komfort das Zweirad aber klar.