Technik neue Norton-Motoren
Acht-Probe

Der Name Norton soll zum neuen Machtwort in der Superbike-Szene werden. Mit drei verschiedenen Achtzylinder-Modellen zwischen 110 und 280 PS Leistung probt eine britisch-amerikanische Investoren-Gruppe den Einstand.

Als das nordamerikanische Unternehmen Norton Motors International (NMI) in den letzten Jahren mehrfach die Produktion spektakulärer Achtzylinder-Modelle ankündigte, spendierte die Branche nur ein leicht mitleidiges Lächeln. Das britische Fachmagazin Classic Bike etwa empfahl den Männern hinter dem ehrgeizigen Projekt ganz unverblümt: Sie sollten jetzt entweder die Klappe halten oder endlich ein Motorrad bauen. Derzeit sieht es so aus, als hätte sich das 1998 neuformierte Unternehmen mit Sitz im US-Staat Minnesota für letzteres entschieden.
Die aus der Fusion von Norton Motorcycles im britischen Shenstone nahe Birmingham und March Motors International in Minnesota hervorgegangene Company will in diesem und im nächsten Jahr gleich mit sechs neuen Modellen auf den Markt kommen. Insider halten das für utopisch, aber sei`s drum. Die anvisierte Palette umfaßt zwei auf Nemesis getaufte V8-Hyperbikes mit 280 und 230 PS, einen V8-Tourer namens Commando mit 110 PS, zwei Norton Manx mit 750er Vierzylindern (184 und 165 PS) sowie eine Zweizylinder-Tourenmaschine. Besichtigt werden kann bereits Habhaftes: Die Nemesis-Achtzylinder laufen auf dem Prüfstand, und ein Prototyp debütierte bereits im November auf der Motor-Show in Birmingham, wenn auch etwas versteckt ­ auf dem Stand von Bridgestone, die exklusiv für Norton Reifen für den Vorstoß in neue Geschwindigkeitsregionen entwickelten. Auf diesen Sohlen, vorn 120/60 ZR 17, hinten 200/50 ZR 17, soll das neue Superbike weit über 320 km/h erreichen.
Technischer Kopf hinter dem Ganzen ist der 54jährige Brite Al Melling, der mit seiner Konstruktionsfirma Melling Consultancy Design (MCD) in Rochdale nördlich von Manchester bisher überwiegend im Automobilbereich aktiv war. Sein jüngstes Projekt ist sogar ein eigener Formel 1-Motor. Melling gilt in England als leicht verschrobener, aber hochbegabter Techniker mit einer gehörigen Portion Patriotismus. Er wolle, erklärt der leidenschaftliche Motorrad-Sammler, der Marke Norton den alten Glanz wieder zurückgeben und habe bisher umgerechnet rund zwölf Millionen Mark aus eigener Tasche in das Projekt investiert. Neben Melling sollen 57 weitere Investoren die Anteile an Norton Motors International halten. Größter Einzahler unter ihnen ist der im kanadischen Vancouver ansässige Immobilien-Händler Luigi Aquilini, der laut Melling mit umgerechnet rund 18 Millionen Mark die Entwicklung der neuen Modelle vorfinanziert hat.
Flaggschiff im NMI-Katalog ist die Nemesis, was soviel wie Vergeltung oder auch strafende Gerechtigkeit bedeutet. Basis des V8 mit 1,5 Litern Hubraum ist ein wassergekühlter Reihenvierzylinder, der bei 73 Millimetern Bohrung und 44,7 Millimetern Hub - exakt den Werten der Kawasaki ZX-7R - auf ein Arbeitsvolumen von 749 Kubikzentimetern kommt. Zwei dieser Einheiten mit Vierventil-Zylinderköpfen kombiniert Melling zu einem Achtzylinder, der quer im Rahmen sitzt wie einst der legendäre 500er V8 der Werks-Moto Guzzi von 1957.
Um 180 Grad gedreht, sitzt dahinter im 60-Grad-Winkel die zweite Zylinderbank leicht nach rechts versetzt. Schmale Stirnräder treiben je zwei obenliegende Nockenwellen an, für die vorderen Zylinder links, für die hinteren auf der rechten Seite. Der Zahnrad-Primärantrieb leitet das Drehmoment auf die rechterhand im Ölbad laufende Mehrscheibenkupplung und von dort auf ein Sechsganggetriebe. Der Kettenantrieb zum Hinterrad befindet sich auf der linken Motorenseite.
Die Gemischbildung obliegt einer Einspritzanlage, deren Düsen aus dem Hause Bosch stammen. Beim elektronischen Management von Zündung und Einspritzung vertraut Melling auf den britischen Hersteller MBE. Für die Schmierung des V8, der in der Basisversion satte 230 PS und damit eine spezifische Ausbeute von 153 PS pro Liter Hubraum erreichen soll, schöpft eine Pumpe das Öl aus dem großzügig dimensionierten Naßsumpf. Die Konstruktion des Fahrwerks entlehnt Al Melling von Hondas VTR. Eine gegossene Aluminiumbrücke bildet über dem Motor das Rückgrat des Chassis. Die Zweiarm-Alu-Schwinge der Hinterradführung ist im Motor-Getriebe-Gehäuse gelagert. Neu dagegen das Gabel Design: Die Gleitrohre sind mit der vorderen Radabdeckung als stabile, einteilige Brücke gegossen und nehmen gleichzeitig die beiden Vierkolbensättel der Bremsanlage auf. Durch die Reduktion von Einzelteilen, so Melling, lasse sich ein sehr niedriges Gewicht realisieren: Die mit Kohlefaserteilen verkleidete Nemensis soll gerade einmal 217 Kilogramm auf die Waage bringen.
Als Clou mit äußerst optimistischen 280 PS am Hinterrad (bei 15500/min) gilt die nochmals 15 Kilogramm leichtere Nemesis A. Räder und Rahmen der rechnerisch 360 km/h schnellen Supersportversion bestehen aus Magnesium. Ein aktives Fahrwerk verbindet Anti-Dive-Funktionen mit automatischer Absenkung des Fahrwerks bei hohem Tempo. Geschaltet wird die Nemesis A nach Formel 1-Manier: mit zwei elektrischen Kontakten rechts und links am Lenkerstummel. Die Kupplung trennt elektrohydraulisch, bei Start und Stopp mit Spezialprogramm. Technische Besonderheit der Vier- und Achtzylinder-Baureihe: In den Supersport-Versionen funken jeweils drei Kerzen pro Brennraum. Der Vorteil: schnelle Durchzündung des Gemischs. Dessen Durchsatz regulieren zudem nicht konventionelle Drosselklappen, sondern Walzen, die durch Verdrehen die Einlaßkanäle freigeben.
Ob er mit so einem extremen Motorrad nicht den Durchschnittsfahrer überfordere? Melling hat eine plausible Antwort parat: Die EU-Kommission in Brüssel plant, daß Hersteller ab dem Jahr 2004 in Europa nur noch Motorräder verkaufen dürfen, die in der Leistung nicht höher liegen als die bisher gebauten Modelle. Da muß man jetzt in die vollen gehen, dann hat man später Luft.
Geplant ist, in einer neuen Fabrik nahe Manchester mit 80 Mitarbeitern pro Jahr etwa 3000 Vier- und Achtzylinder zu fertigen. Parallel dazu will NMI im amerikanischen Minneapolis jährlich mit rund 30 Leuten etwa 7000 Zweizylinder-Tourer auf die Räder stellen. Obwohl von den Modellen derzeit weder Bilder noch technische Daten existieren, steht bereits der Preis fest: Rund 35000 Mark soll die Norton Nirwana genannte Maschine kosten. Die Commando mit Rohrrahmen und eigenem 90-Grad-V8 (1497 cm³, Bohrung x Hub 62,5 x 61mm, 110 PS bei 7000/min) ist bei 52000 Mark angesiedelt, die vierzylindrige Manx steht mit 55 000 Mark in der Liste. Und die Nemesis? Ohne Mehrwertsteuer fordert Norton Motors 23000 englische Pfund, also rund 65000 Mark. Durchschnittsverdiener dürften an diesem Preis stehend k.o. gehen, doch zahlungskräftige Interessenten haben einen potenten Mitstreiter: Schwergewichtler Mike Tyson hat laut NMI bereits bestellt. Und der könnte ziemlich bissig werden, wenn es auch dieses Mal nichts mit Norton wird.

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Erscheinungsdatum 26.05.2023