- Old-school-Lowrider-Bagger mit 21-Zoll-Vorderrad
- R 18 Roctane mit hohem Lenker für lange Arme
- Länge läuft – stabil und komfortabel
- Starker Big Boxer mit Heldenbrust
- Trittbretter und Schaltwippe
- Drei große Scheibenbremsen mit Brembo-Zangen und ABS
- 374 Kilo Roctane ab 25.500 Euro
- Fazit
Cruiser ist nicht gleich Cruiser. Hohes Gewicht, niedrige Sitzposition und Aufsetzen in mittlerer Schräglage, diese typischen Merkmale haben sie zwar prinzipiell gemeinsam. Doch die Ansprüche an das fahrdynamische Potenzial sind selbst in diesem gemütlichen Milieu über die Jahrzehnte hinweg ein bisschen gestiegen. Mit leicht angelupften Fahrwerken bis hin zu Upside-down-Telegabeln samt großer Doppelscheibenbremse. Als vorab die Modellbezeichnung Roctane durchgesickert war, vermuteten wir eine R 18-Variante in diese ansatzweise sportliche Richtung. Also ähnlich der Low Rider S oder ST von Harley-Davidson beziehungsweise der Sport Chief von Indian.
Old-school-Lowrider-Bagger mit 21-Zoll-Vorderrad
Inzwischen ist jedoch klar: Die Roctane soll überhaupt nicht "sportlich", sondern ein konsequent angerichteter Old-school-Lowrider sein. Mit Tacho oben im Lampengehäuse, wie früher. Und zudem ein Bagger, also mit zwei tief hängenden, lackierten Koffern am Heck. Fahrwerkstechnisch ist die Roctane eine besonders flache R 18, mit nur 55,3 Grad Lenkkopfwinkel. Bei der Standard-R 18 steht die Telegabel immerhin 2 Grad steiler, oder eher: 2 Grad weniger flach. Verschoben wird die Geometrie bei der Roctane vor allem vom Vorderrad, denn das hat 21 statt 19 Zoll Durchmesser. Als Originalzubehör für die R 18 sind diverse Räderformate verfügbar, doch die Roctane ist die erste Ausführung mit proportional-ästhetisch idealem 21-Zoll-Vorderrad direkt ab Werk. In Kombination mit 18 Zoll Durchmesser am Hinterrad, statt 16 Zoll. Reifengröße vorn 120/70-21, hinten 180/55-18.
R 18 Roctane mit hohem Lenker für lange Arme
Beim ersten Draufsitzen spürt man die Räder freilich noch nicht. Dafür das hoch aufragende Lenkgeweih, das ziemlich weit vorn gegriffen wird. Und die Trittbretter anstelle der Fußrasten, die BMW so weit vorn positioniert, wie der Boxermotor es zulässt. Denn genau an der Position der beiden riesigen, herausragenden Zylinder befinden sich die Fußrasten oder Trittbretter bei den Cruisern mit konventionellem V-Twin. Für das Dreieck zwischen Lenker, Sitzpolster und Trittbrettern wäre hier eine Fahrerstatur mit langen Armen und kurzen Beinen ideal. Die ist allerdings äußerst selten und dann mit anderen Nachteilen verbunden. Umso mehr kommt die Armlänge ins Spiel, wenn es mal langsam um ganz enge Ecken geht, wofür weit ausgeholt werden muss. Immerhin kommt bei der Roctane in solchen kniffligen Situationen nicht das bei Langgablern gefürchtete Einklappen hinzu. Bis hinunter zu Schrittgeschwindigkeit bleibt sie gutmütig kontrollierbar – Kraft und Übung vorausgesetzt.
Länge läuft – stabil und komfortabel
Durch weniger enge oder gar weitläufige Bögen lässt die Roctane sich sogar erstaunlich leicht und obendrein zielgenau dirigieren. Gegebenenfalls aufkommender Übermut wird von den Trittbrettern abgefangen, die laut kratzend am Asphalt aufsetzen, wenn konzeptgerechte Schräglagenwinkel überschritten werden. Sowohl die mit Stahlblechhülsen gekapselte Telegabel vorn als auch das unter dem Sitz versteckt liegende Federbein treffen den Kompromiss zwischen Stabilität und Komfort. Wobei das Heck mit dem Starrrahmen-Look und immerhin 90 Millimeter Federweg bei größeren Unebenheiten an seine Grenzen und in die Wirbelsäule stößt. Stoischer Geradeauslauf ergibt sich zwangsläufig mit langem Radstand und flachem Lenkkopfwinkel, doch trotzdem montiert BMW einen Lenkungsdämpfer und begrenzt die Höchstgeschwindigkeit auf – ohne Verkleidung völlig ausreichende – 180 km/h. Sensible Fahrer vernehmen lediglich ein im Schiebebetrieb um 70 km/h, etwa beim Ausrollen vor einem Ortsschild, auftretendes Lenkerflattern, den sogenannten Shimmy-Effekt.
Starker Big Boxer mit Heldenbrust
Zum Ausrollen passt von der Bezeichnung her zwar der Modus "Roll", doch im Modus "Rock" brabbelt der luft-ölgekühlte Big Boxer viel schöner durch die schwarzverchromte 2-in-2-Abgasanlage mit Klappensteuerung. Auch sonst läuft es im "Roll"-Programm geschmeidiger, ruhiger, und im "Rock"-Programm rauer, auffälliger. Bis hin zum Schütteln im Leerlauf um 950/min, wofür der gleichmäßig zündende Flat-Twin eigens auf unrund programmiert wurde. So oder so lässt der 1800er sich direkt ab 1.000/min elastisch aufziehen. Dabei wandelt sich mit der Leistungsentfaltung die Akustik: vom ackernden Traktor hin zum durchstartenden Ein-Propeller-Flugzeug. Schon bei 3.000/min liegt das maximale Drehmoment an, knapp 160 Nm. Diese Drehzahlmarke, 3.000/min, ist zugleich die Grenze zwischen souverän und angestrengt. Nicht beim zwischendurch aus dem XL-Hubraum Schöpfen, etwa zum Überholen, jedoch bei konstanter Fahrt. Im 6. Gang entsprechen 3.000/min circa 130 km/h. Erst darüber treten nennenswerte Vibrationen auf – und noch unter 5.000/min schlegeln über 90 PS in der "Heldenbrust".
Trittbretter und Schaltwippe
Nebeneffekt des geringen Drehzahlniveaus ist der relativ geringe Spritverbrauch. Um 5 Liter pro 100 Kilometer rauschen durch die beiden Zylinder mit jeweils 901 Kubik. Manchmal 5,5 Liter, selten mehr. Und ein Nebeneffekt des aus dem Stand aufgetürmten Drehmomentgebirges ist die Verzichtbarkeit der Gangwechsel. Kupplung und Getriebe funktionieren zwar ordentlich, doch Trittbretter und Schaltwippe der Roctane sind suboptimal angeordnet: Der vordere Schalthebel ist ziemlich kurz und unter dem dicken Ansaugrohr aus der Fahrerperspektive nicht zu sehen. Versuche, damit hochzuschalten, gibt man freiwillig auf und tritt stattdessen mit der Ferse auf den hinteren Hebel. Hierfür muss jedoch das linke Bein jedes Mal leicht angehoben werden – was bei dieser Sitzposition, je nach Beinlänge, mehr oder weniger lästig wird.
Drei große Scheibenbremsen mit Brembo-Zangen und ABS
Keinerlei Grund zur Klage gibt die an der rechten Fahrzeugseite gesteuerte Bremsanlage, bestehend aus zwei Scheiben vorn und einer Scheibe hinten, jeweils mit 300 Millimeter Durchmesser, Vierkolben-Zangen von Brembo und ABS. Der Handbremshebel wirkt auf beide Räder, mit vergleichsweise geringem Kraftaufwand für dieses Fahrzeugkaliber, und der Fußbremshebel wirkt nur aufs Hinterrad.
374 Kilo Roctane ab 25.500 Euro
Immerhin 374 Kilogramm bringt die R 18 Roctane auf die Waage, mit zu 90 Prozent befülltem 16-Liter-Benzintank und leeren Koffern. Und mit Grundausstattung für 25.500 Euro: ABS, Schlupfregelung ASC, Motor-Schleppmomentregelung MSR, drei Modi "Rain", "Roll" und "Rock" Tempomat und Funk-Zündschlüssel "Keyless Ride". Fragwürdig erscheint indes das Ersetzen des klassischen und somit ins Konzept passenden Zündschlüssels durch einen batteriebetriebenen Sender für die Jackentasche. Und das, obwohl das Lenkschloss hier besonders klassisch inszeniert wird: seitlich am Lenkkopf, mit Schlüssel. Ebenfalls per Schlüssel abschließbar sind die Koffer mit jeweils 27 Liter Volumen. Und der Tankdeckel – das kostet dann 50 Euro extra. Weitere optionale Sonderausstattungen sind heizbare Griffe, adaptives Kurvenlicht, Reifenluftdruck-Anzeige RDC, Berganfahrhilfe HSC und Rückfahrhilfe.
Fazit
Erwartet hatten wir die R 18 Roctane im angriffslustigen Cruiser-Stil der Low Rider S oder ST von Harley-Davidson beziehungsweise der Sport Chief von Indian. Stattdessen ist sie ein Lowrider-Bagger im Stil der Road King Special von Harley-Davidson oder der Springfield Dark Horse von Indian. Deren Preise unterbietet BMW deutlich, jedenfalls in Grundausstattung ab 25.500 Euro. Und ab 22. Juli 2023. Gemessen an Überlänge und Übergewicht ist es BMW gelungen, die R 18 Roctane auf gutmütig und nutzerfreundlich zu trimmen. Zu kurze Arme oder zu lange Beine oder gar beides sollten Interessenten und Interessentinnen indes nicht haben, um in diesem Sattel dauerhaft glücklich zu werden. Für Boxer-Fans umso attraktiver ist der luft-ölgekühlte 1800er mit schaufelweise Drehmoment von 1.000 bis 3.000/min.