Fahrbericht Victory Vision
Zukunfts-Vision

Sechs Jahre nahm sich Victory Zeit. Um zu planen, zu entwickeln und im Gespräch mit Kunden herauszufinden, wie der ultimative Cruiser aussehen muss. Als Ergebnis steht nun die Vision bereit, die Bastion von Gold Wing und Co. zu stürmen.

Zukunfts-Vision
Foto: Davis

Whoa, was ist DAS denn für ein scharfes Teil?« Der Farmer, der an der einsamen Tankstelle in der ­Weite von Minnesota seinen verbeulten Pick-up voll tankt, ist von den Socken. »Da muss ich sofort zu meinem Harley-Dealer für eine Probefahrt.« Dann viel Erfolg, Kumpel, denn der Harley-Händler wird da nicht weiterhelfen können.

Was den Pick-up-Fahrer so in Aufregung versetzt hat, ist nichts Geringeres als eine Victory Vision. Jenes Motor-rad, mit dem die junge Cruiser-Schmiede und Polaris-Tochter Victory BMW K 1200 LT, Honda Gold Wing und natürlich Harley-Davidson aufmischen will. Der optische Auftritt der Vision jedenfalls ist sensationell. Eine Verbeugung vor den amerikanischen Straßenkreuzern der dreißiger Jahre. In aparten, unverwechselbaren und schwelgerischen Formen. Doch auch wenn man sich bei Victory der Vergangenheit bewusst ist, man lebt nicht in ihr. »Wir schreiben nicht die amerikanische Geschichte neu, wir schreiben ihre Zukunft«, empfängt den Neugierigen ganz unbescheiden die Homepage des Unternehmens (www.polaris.com/en-us/Victory).

Unsere Highlights

So bekam beispielsweise die Verkleidung im Windkanal ihren letzten Schliff. Das Herz der Vision ist der bekannte, mittels längerem Hub von 1634 auf 1731 cm3 aufgestockte 50-Grad-V2. Luft-/ölgekühlt, ohne sterilen Wassermantel, ein appetitlicher Brocken. Mit leichteren Kolben und un­veränderten Zylinderköpfen, in denen je eine Nockenwelle über Hydrostößel die vier Ventile pro Brennraum aufstößt. Der Langhuber bringt 94 PS bei 4500/min und 148 Nm Drehmoment bei 3250/min. In der neu entwickelten Schaltbox ist der erste Gang kürzer übersetzt, der sechste dient als Overdrive. Die Verbindung zum Hinterrad stellt ein Karbon-verstärkter Zahnriemen her.

Der V2 ist starr in das Chassis verschraubt. Es ist keines der bislang verwendeten Stahlrohr-Fahrwerke, sondern besteht aus zwei miteinander verschraubten Alu-Gussteilen, die einen enorm steifen Verbund ergeben und dazu rund 25 Prozent leichter sind als die bisherigen Stahlrahmen. Das vordere Segment, das auch den Rahmen trägt, dient gleichzeitig als Aufnahme für den Lenkkopf.

Während einer zweitägigen Tour, die an den Ufern des Mississippi entlangführte, die Weiten des Mittleren Westens streifte und schließlich über ausgemergelte Landstraßen in Iowa führte, erwies sich die Vision ihrer wuchtigen Erscheinung zum Trotz als ausgezeichnet ausbalanciertes Bike, wenn man sich erst einmal in den 673 Millimeter niedrigen Sattel geschwungen hat. Der Big-Twin zeigte sich dabei als äußerst durchzugsstarker Spielpartner mit weit gespanntem Drehzahlband.
Egal, ob knapp über Standgas die Drosselklappen aufgezogen werden oder das obere Ende des Drehzahlbands gestürmt wird, der V2 hängt akkurat und ohne Spiel im Antriebsstrang am Gas. Vor allem aber läuft er bei niedrigen Drehzahlen extrem weich. Begleitet von einem schmeichlerisch satt-dumpfen Ton mit dunkel grollender Note.

Bereits bei 2000/min scheint die Drehmomentwoge ihren Höhepunkt zu erreichen und dann bis nahezu 5000 Umdrehungen ihr Niveau zu halten. Wie gemacht, um den optionalen Tempomat ins Spiel zu bringen.
Einziger Störenfried: die deutlichen Vibrationen ab 3000/min. Aber Victory hat sich dieses Problems bereits angenommen. Ebenso der extrem geräuschvoll laufenden Gänge drei und vier. Besonders wenn man in den Fünften schaltet, ist es, als habe jemand das Radio abgestellt. Es herrscht auf einmal Stille. Victory testet deshalb derzeit verschiedene Zahnflanken-Formen und Übersetzungen, um dies zu eliminieren.

Keinen Anlass zur Klage gibt dagegen das Handling, das trotz üppigen Radstands, flachen Lenkkopfs und stämmiger Statur der Vision ausgesprochen gut ist für ein Motorrad, dessen Bestimmung eigentlich darin liegt, die meiste Zeit über vierspurige Highways zu cruisen. Obwohl für Nordamerika konzipiert, präsentiert sich die Vision somit als feiner Fulldresser, der durchaus auch in Europa mitmischen könnte. Vorerst ist jedoch kein Export in die Alte Welt geplant.

Technische Daten Victory Vision Street

Motor: luftgekühlter Zweizylinder-Viertakt-50-Grad-V-Motor, je eine oben liegende, kettengetriebene Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Tassenstößel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, ø 45 mm, Lichtmaschine 368 W, Batterie 12 V/18 Ah, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, Zahnriemen.
Bohrung x Hub 101,0 x 108,0 mm
Hubraum1731 cm3
Verdichtungsverhältnis9,4:1Nennleistung94 PS bei 4500/min Max. Drehmoment148 Nm bei 3250/min

Fahrwerk: Brückenrahmen aus Aluminium, Telegabel, ø 43 mm, Zweiarmschwinge aus Aluminium, Luftfederbein, direkt angelenkt, verstellbarer Luftdruck, Doppelscheibenbremse vorn, ø 300 mm, Dreikolben-Schwimmsättel, Scheibenbremse hinten, ø 300 mm, Zweikolben-Schwimmsattel.
Alu-Gussräder 3.00 x 18; 5.00 x 16
Reifen 130/70 R 18; 180/60 R 16

Maße und Gewichte: Radstand 1670 mm, Lenkkopfwinkel 61 Grad, Nachlauf 137 mm, Federweg v/h 130/120 mm, Sitzhöhe 673 mm, Trockengewicht 365 kg, Tankinhalt 22,7 Liter.
Farben Grau, Rot, Schwarz
Preis ab zirka 19000 US-$

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023