Gedankenspiel: Was wäre gewesen, wenn VW anno 1974, als der Golf auf die Bühne trat, um den damals schon seit 29 Jahren produzierten Käfer abzulösen, den alten Namen beibehalten hätte? Trotz radikaler Umstellung von luftgekühltem Boxer im Heck auf wassergekühlten Reihenvierer in der Front? Auf jeden Fall hätte man sehr viel erklären müssen. Aber vor gut fünf Jahrzehnten hat sich noch niemand in irgendwelchen Marketingabteilungen um das Thema "Heritage" geschert. In erster Linie hat man sich nicht um möglichst große Namen, sondern um möglichst viel verkaufen gekümmert. So konnte aber aus dem Massenschlager Käfer der Massenerfolg Golf werden, dessen Name heute sogar als Synonym für eine ganze Generation steht.
Wie ein Kleinwagen mit Dreizylinder-Sparmotor
Blenden wir damit um zur US-Company, die 2021 ein neues Bike unter glorreichem Namen auflegte, das sich vom Vorgänger genauso radikal unterscheidet wie seinerzeit Käfer und Golf: Wasser- statt Luftkühlung, 60 statt 45 Grad Zylinderwinkel und kettengetriebene DOHC-Vierventilköpfe statt Zweiventil-Stoßstangensteuerung. Gemeinsamkeiten: V2-Motor und Riemenantrieb, that‘s it. Was anstelle des bekannten unrunden Potatoe-Sounds der mächtigen Edelstahl-Auspuffanlage entweicht, muss der altgediente Harleyaner erst einmal verkraften.
Trotz 30 Grad Hubzapfenversatz, der den Twin charakterlich und akustisch zum 90-Grad-V2 machen soll, ist der Klang der Harley-Davidson Sportster S gewöhnungsbedürftig. Zwischen 2.000 und 3.500/min klingt die Maschine keinesfalls nach mächtigem Motorrad, sondern wie ein Kleinwagen mit Dreizylinder-Sparmotor. Damit sind wir nach langer Vorrede endlich beim Thema: Was kann die Harley-Davidson Sportster S? Und warum heißt sie weiterhin Sportster? Darf sie das? Satteln wir zum Vergleich eine Harley-Davidson Forty-Eight als Vertreterin der "alten Garde" und zwitschern los.
Thailand ist Geburtsstätte beider Bikes
Immerhin wird der Sound der Sportster S ab 4.000/min fülliger, aber akustisch kann sie mit der Forty-Eight nicht mithalten. Dafür ist die S mit 93 dB Standgeräusch auf der sicheren Seite, die alte tönt (mit Serienauspuff) mit 98 dB deutlich vernehmlicher. Bei beiden Bikes weist das Typenschild Thailand als Geburtsstätte aus. Auch das mag den einen oder anderen potenziellen Interessenten vor schwere innere Konflikte stellen, dem ideologiefreien Testprozedere ist das völlig wumpe.
Zur weiteren Kalibrierung setzen wir uns zunächst auf die Forty-Eight. Typische, unverrückbare Cruiserhaltung und dann das bekannte Prozedere: Das "Katschump", wenn der Anlasser eingreift, das Gezappel und Geschüttel des Twins im Leerlauf, die schwergängige Kupplung, das durch Mark und Bein gehende "Kalonk" beim Einlegen des ersten Gangs, die kaum vorhandene Schräglagenfreiheit und die mäßige Bremse. So kennt man das, mag es oder hasst es. Hier geht’s aber um die Harley-Davidson Sportster S, also umsatteln. Die Sitzposition ist so anders nicht, nur der Tank erscheint mindestens dreimal mächtiger, obwohl er nur mickrige 11,8 Liter fasst. Und damit knapp vier (!) mehr als die Forty-Eight.
Harley-Davidson Sportster S mit TFT-Cockpit
Schon der Blick aufs TFT-Cockpit zeigt, dass die Moderne mit Macht Einzug gehalten hat. Es bietet diverse Ansichten, die von den Befindlichkeiten des Bikes über notwendige bzw. interessante Informationen bis hin zur Navigation, Telefonie und musikalischer Unterhaltung über alles Auskunft geben. Wobei man für letztere drei die passenden Apps auf dem Smartphone benötigt. Und die passende Hardware im Helm. Bedient wird das alles über logisch aufgebaute Lenkerarmaturen. Rechts wird gestartet, der Fahrmodus gewechselt, die Traktionskontrolle bedient sowie Musik und Telefon verwaltet. Links werden die Menüs ausgewählt, der Tempomat bedient, gehupt, geblinkt und, sofern geordert, geheizgrifft.
Die Harley-Davidson Sportster S startet völlig unspektakulär, der Twin bellt kurz auf. Die Kupplung ist leichtgängig, wenngleich ohne richtig definierten Druckpunkt, und mit Neigung zum Rupfen nach dem Kaltstart. Der Erste rastet geräuscharm ein, die folgenden fünf gar tonlos. Das Getriebe schaltet sich bemerkenswert teigig, das kann die Alte besser, die Gänge sitzen jedoch hier wie dort stets sicher. Nach dem Losfahren macht sich kurz Ernüchterung breit. Neben dem bereits erwähnten Klang hätte man sich vom Motor mehr erwartet. Mehr Bums, mehr Druck. Doch der aktivierte Regenmodus raubt dem Twin alle Vitalität. Flugs auf Road geswitcht, und da ist sie, die Lebensfreude. Sauber und gleichmäßig hängt er nun am Gas, kann einerseits gemütlich mit 2.000/min im Sechsten rollen. Er kann aber auch anders. Ab 4.000/min fletscht er die Zähne, und ab 6.000/min kennt er keine Freunde mehr. Der Sport-Modus schärft den Charakter nochmals nach, generiert nochmals eine Schippe mehr Leistung und hängt am Gas wie ein ausgehungerter Kettenhund. Und ab 6.000/min scheint er dann förmlich zu explodieren. Dies wiederum eint ihn mit der Vorgängerin, allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass jene das über 6.000/min tatsächlich tun würde. Exakt einmal.
Forty-Eight mit 4,7 l/100 km, Sportster S mit 5,4 l/100 km
Im Klartext heißt das, wo man mit der Harley-Davidson Sportster S gemütlich, stressfrei und ohne Ambitionen einfach nur so dahinrollt und das Dasein genießt, hat der Kollege auf der Forty-Eight schon alle Hände voll zu tun, um wenigstens ansatzweise dranzubleiben. Ein Blick auf die Durchzugswerte zeigt das überdeutlich. Am ehesten gelingt das noch auf der Verbrauchsfahrt, wo die Forty-Eight mit 4,7 zu 5,4 Litern als Siegerin hervorgeht. Theoretisch schafft sie mit einer Tankfüllung 168 Kilometer, die "S" immerhin immer noch übersichtliche 218.
Nach dem Tanken trennen sich die Wege, wir wollen die Harley-Davidson Sportster S mal von der Leine lassen. Angesichts des fetten 160er-Vorderreifens und dem Wissen darum, wie die ebenfalls mit 160er-Frontgummi bestückte Fat Boy fährt, ist der Erwartungshorizont eher niedrig. Doch wenn das Umfeld passt, also möglichst ebener Belag und weite Bögen, dann kann man die "S" schon fliegen lassen. 34 Grad offizielle Schräglagenfreiheit sind zwar nicht die Welt, aber damit geht mehr, als man denkt. Es bedarf zwar eines klaren Impulses, aber einmal eingelenkt, folgt die "S" willig und stur dem gewünschten Kurs. Solange man die Finger von der Bremse lässt. Dann nämlich entwickelt sie ein amtliches Aufstellmoment, auch Bodenwellen in Schräglage sind nicht so ihres. Dafür, dass die Fahrt auch unter schlechten Bedingungen wohlbehalten endet, sorgen die je nach gewähltem Modus unterschiedlich ambitioniert eingreifenden elektronischen Helferlein. Kurven-ABS, Traktionskontrolle (Beschleunigung) sowie Antriebsschlupfregelung (Herunterschalten) sowie eine Anti-Wheelie- und Anti-Stoppie-Kontrolle sind an Bord. Wobei die Gefahr von Stoppies rein theoretischer Natur ist, denn bei zügiger Fahrt kommt der einsame, radial verschraubte Brembo-Bremssattel recht schnell ins Schwitzen. Eine zweite Scheibe wäre angesichts der möglichen Fahrdynamik definitiv nicht übertrieben.
Zumal das Fahrwerk flotte Fahrweise locker verkraftet. Aber die Federwege sind mickrig und lassen keinen Raum für Komfort, und besonders hinten kommen harte Stöße gerne ungebremst durch. Aber das ist bei der alten auch nicht anders. Tradition bedeutet ja das Weitertragen der Flamme und nicht das Bewahren der Asche, und so gesehen ist Harley mit der Sportster S auf dem richtigen Weg.
Fazit
Es ist wirklich eine undankbare Aufgabe, eine Ikone wie die Sportster-Baureihe zu ersetzen, doch die aktuellen Rahmenbedingungen lassen keine Alternative zu. Die Harley-Davidson Sportster S ist zweifelsfrei eine echte Harley geblieben und auf Anhieb als solche zu erkennen. Von der V-Rod vielleicht abgesehen, war bis dato keine Harley motorseitig so fahrdynamisch unterwegs. Bei Fahrwerk und Bremse schimmert die Vergangenheit noch ein wenig durch, aber die Sportster S steht ja auch erst am Anfang ihrer Entwicklung. Die Richtung stimmt auf jeden Fall, es bleibt aber abzuwarten, ob die Stammklientel das auch so sieht. Zu wünschen wäre es.