Betrachtet man die neuen Indian-Modelle, drängen sich Fragen auf: Wie viel Harley kann Indian? Oder kann Indian vielleicht sogar besser als Harley? MOTORRAD ist den Rauchzeichen gefolgt und bereits gefahren. Die Antworten lesen Sie hier.
Betrachtet man die neuen Indian-Modelle, drängen sich Fragen auf: Wie viel Harley kann Indian? Oder kann Indian vielleicht sogar besser als Harley? MOTORRAD ist den Rauchzeichen gefolgt und bereits gefahren. Die Antworten lesen Sie hier.
Verdammt! Wo ist hier der Schlüssel? Und wo das Zündschloss? Mein Allerwertester ruht im dickledrigen Komfortsattel der Indian Chief Vintage, und gleich soll es auf Tour gehen. 1000 Kilometer weit, quer durch den Mittleren Westen Amerikas. Verzweifelte Blicke übers Cockpit. Mir geht es wie dem Rest der riesigen Journalisten-Schar, die aus der ganzen Welt angereist ist, um die brandneuen Indian-Modelle kennenzulernen. Gary Gray, zuständig für die Entwicklung der Motorräder, klärt auf: Es wird schlüssellos gestartet. Einfach den runden Knopf auf der Chromkonsole und anschließend den Starterknopf drücken – that’s it.
Zwischen meiner Handbewegung zu den beiden Knöpfen und der ersten Kurbelwellenumdrehung liegen nur vielleicht vier Sekunden, nicht mehr. Diese sind geflutet mit Vorfreude, Erwartungen und Andacht. Denn erst vor wenigen Tagen wurden die neuen Indian-Modelle auf der diesjährigen Motorradrallye in Sturgis, einer Mega-Veranstaltung, die bis zu 450.000 Motorradfahrer anlockt, der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Im Grunde gibt es zwei Modelle: die Chieftain, einen Tourer mit ausladender Verkleidung und Plastikkoffern. Und die Chief Classic, die auch in einer speziellen Vintage-Version mit Windschild und braunen Ledertaschen erhältlich ist. Fans auf der ganzen Welt wussten zwar im Vorfeld, wie der Motor aussieht. Das Design der Fahrzeuge war jedoch bis vor Kurzem eines der bestgehütetsten Geheimnisse in der jüngeren Motorradhistorie.
Knopfdruck. Boller, boller, boller. Ohne großes Aufsehen stampft der Motor drauflos. Zappelt allerdings nicht so energisch im Rahmen, wie es einige Harley-Motoren tun. Entwickelt wurde das Aggregat bei Swissauto in der Schweiz, einer Firma, die Polaris praktisch im Vorbeigehen eingekauft hat. Der 1811 Kubik große Vau produziert ein mächtig massierendes Pulsieren. Man spürt sofort, dass hier kein untermotorisierter Lächerling am Werk ist. Es würde auch nicht verwundern, wenn da unten irgendwo ein 500er-Einzylinder als Anlasser fungierte. Mit nur 750 Umdrehungen wummert der V2 im Standgas. Weicher als vergleichbare Harley-Motoren und mechanisch viel geräuschärmer.
Unwillkürlich stellt sich die Frage, wie das denn geht, bei einem luftgekühlten Antrieb, bei dem – wie auch bei Harley – Stoßstangen die Steuerung der zwei Ventile pro Zylinder übernehmen. Und natürlich fragt man sich, warum ein mächtiger Konzern wie Polaris sich mit einem luftgekühlten Motor auf die Reise in die Zukunft begibt. Einer Zukunft, in der verschärftere Emissionswerte gelten werden, die sogar Harley dazu zwingen, ihre Motoren mit Wasserkühlung auszustatten. Man fragt so viel, doch alles, was Gary Gray dazu sagt, ist: „Ich sehe für die nächsten 20 Jahre überhaupt keine Notwendigkeit, diesen Motor mit Wasser zu kühlen. Er ist bildschön und schafft die kommenden Emissionsgrenzwerte locker.“ Amen.
Gang rein. Natürlich darf man bei solch einem Bollermann von Motor nicht erwarten, dass dieser Vorgang sich anfühlt, als würden sich feinmechanische Teile miteinander vermählen. Nein, es rockt. Die Rückmeldung beim Gangwechsel ist satt. Alles an dem Aggregat, das die Polaris-Jungs Thunder Stroke 111 getauft haben, ist vergleichsweise riesig. Das fängt mit den üppigen Kühlrippen an, gipfelt in gewaltigen 163 Newtonmetern Drehmoment-Output und endet bei einer Kupplung mit großem Durchmesser. Die sich übrigens mit relativ geringem Kraftaufwand betätigen und wunderbar dosieren lässt.
Bereits beim Losrollen, die Füße ruhen auf gut platzierten Trittbrettern, spürt man das Gewicht. 370 Kilogramm gibt der Hersteller für die Chief Vintage an. Nicht gerade wenig. Doch die Maschine ist wunderbar ausbalanciert, einmal in Fahrt, läuft sie souverän wie ein mächtiger alter Ami-Straßenkreuzer über die Interstate. Schade, dass die Europäer den bassig klingenden Schalldämpfern einen Maulkorb verpassen werden. In der Weite des Mittleren Westens stört das Grollen niemanden. Und es ist wirklich ein Grollen, wenn man die Drosselklappen aufzieht, die übrigens per Drive-by-Wire angesteuert werden. „Wir haben alle nur denkbar möglichen Tricks angewandt, um den Motor mechanisch ruhig zu machen, damit der gesamte Sound-Output aus den Schalldämpfern kommt“, wird Gary Gray später sagen.
Die technischen Kniffe, die er meint, beziehen sich in erster Linie auf recht massive Motorgehäuse-Wandungen, die die Geräusche eindämmen. Die Kurbelwelle schickt die Kraft über eine Zahnradpaarung direkt auf die Kupplung, die, wie bei den meisten Bikes üblich, auf der Getriebe-Eingangswelle sitzt. Rasselige Ketten, wie sie Harley beispielsweise zwischen Kurbelwelle und Kupplung sowie im Transmissionsantrieb zum separaten Getriebe einsetzt, entfallen bei Indian. Der Thunder Stroke 111 geriet äußerst kompakt. Äußerst ruhig. Und äußerst kräftig.
Open Road. Durchgezogene gelbe Mittellinien. Freie Fahrt bis zum Horizont. Zeit für Gasspielchen. Egal, welchen der sechs Gänge man eingelegt hat, und egal, welche Geschwindigkeit der wunderbar skalierte Tacho gerade anzeigt – beim Gasaufziehen ruckelt nichts. Auch bei 1200/min schiebt der Motor ohne zu mucken sanft voran. Aber er lässt dich ganz genau spüren, welche Drehzahlen er lieb hat: Gefühlsmäßig produziert der Vau zwischen 2500 und 4000/min sein maximales Drehmoment. In diesem Bereich fühlt sich der Motor am wohlsten, darüber agiert er recht träge. Im sechsten Gang steht das für Geschwindigkeiten zwischen 80 und 160 km/h. Zwar gipfelt die Höchstleistung von 92 PS erst bei 5300/min, doch die wird im sechsten Gang gar nicht erreicht. Auf diese Drehzahlen kommt man nur im fünften Gang, denn der sechste ist ein Overdrive. Zu viel Theorie? Sagen wir es so: Der Topspeed von für Europa homologierten 183 km/h ist völlig nebensächlich. Dieser Antrieb ist auf optimalen Drehmomentverlauf ausgelegt. Und der ist so gewählt, dass man die neuen Indians perfekt und kraftvoll über die Landstraßen dieser Welt bewegen kann. Untertourig. Mitteltourig. Große Gefühle. Good Vibrations.
Überhaupt, Vibrationen: Polaris hat dem Thunder Stroke 111 genau die richtige Mischung Vibrationen verpasst. Der Motor fühlt sich bei Weitem nicht so synthetisch an wie die Victory-V2-Motoren aus eigenem Hause, aber auch nicht so mechanisch rau wie große Harley-Big-Twins. Eine über Zahnräder angetriebene Ausgleichswelle verhindert das große Zittern und Zähneklappern.
Wer die Indian Chief Classic in Deutschland ordert, braucht eventuell eine Spur mehr Selbstbewusstsein. Die herumwedelnden Lederfransen sorgen bestimmt an der ein oder anderen Eisdiele für Häme.
Ganz ohne Fransen kommt die Chieftain aus. Sie ist das Topmodell von Indian. Während der Motor mit dem der Chief absolut identisch ist, protzt die Chieftain mit üppigerer Ausstattung: Die Scheibe ist elektrisch verstellbar, ein gigantisches Soundsystem – je 100 Watt für vorn und hinten – setzt neue Maßstäbe. Und elektronische Helferlein informieren präzise über Ölstand, Reifenluftdruck, Batteriespannung oder Restreichweite. Mehr geht fast nicht.
Nach 500 Kilometern im Sattel der Chief darf ich umsteigen in den der Chieftain. Sofort fällt das unterschiedliche Lenkverhalten auf. Im Vergleich zur Chief steht hier der Lenkkopf steiler, und um das auszugleichen, ist auch das luftunterstützte Federbein etwas länger ausgelegt. Diese Maßnahmen verkürzen den Radstand von 1730 auf 1668 Millimeter und erhöhen die Sitzhöhe von 660 auf 675 Millimeter. Was immer noch schön niedrig ist. So finden selbst Kurzbeinige wie ich mit meinen 1,68 Meter noch sicheren Stand. Auch der Lenkeinschlag ist beim Topmodell etwas größer. Man könnte den Unterschied folgendermaßen beschreiben: Die Chieftain wirkt trotz des etwas höheren Gewichts handlicher. Allerdings sind die Lenkkräfte auf der Chief geringer, da sie keine schwere Verkleidung plus elektrisch verstellbarer Scheibe mit sich herumträgt.
Irgendwann kommt es, wie es kommen muss: Der Tourguide verfährt sich gnadenlos, und der ganze Tross landet auf einer Straße, die vor geschätzten 200 Jahren mal das Prädikat akzeptabel verdient gehabt hätte. Es überrascht, wie sauber die Federung der Chieftain anspricht – nahezu alles wegbügelt – und mit sehr gutem Komfort verwöhnt. Die Abstimmung des luftunterstützten Federbeins kann hier mit ein paar zusätzlichen Bar an den Beladungszustand angepasst werden. Das per Hand mittels einer Pumpe (im Bordwerkzeug) erzeugte Luftpolster im Federbein erzeugt Progressivität beim Einfedern. Wer nur allein unterwegs ist, kann auf diesen Schritt jedoch verzichten: Das Fahrwerkssetup ist für eine Beladung bis 100 Kilogramm ganz ohne Luftunterstützung ausgelegt.
Als am Ende der Straße ein paar Hirsche die Straße überspringen, überzeugt auch das von Bosch gelieferte ABS durch feinfühliges Regelverhalten. Die Bremswirkung ist sehr gut. Zwar könnte die Bremsbedienung noch einen exakteren Druckpunkt vertragen, doch dies anzuprangern, wäre Klagen auf hohem Niveau. Am Ende der zweitägigen Tour, die 1200 Kilometer durch den Mittleren Westen Amerikas führte, fragt man sich zwei Dinge: Warum haben erstens die Indian-Ingenieure ihren Fahrzeugen keine Traktionskontrolle verpasst? Wer bei Regen zu heftig Gas gibt, steht sofort quer. Zweitens schwebt die Frage im Raum, ob Harley sich dieser Herausforderung stellen wird. Denn die Rauchzeichen am Horizont sind eine klare Kampfansage. Die neuen Indians gehen einen eigenen Weg und folgen nicht den ausgetretenen Pfaden Harleys. Es würde nicht verwundern, wenn viele diesem Weg folgen würden.