Mit leichtem Gepäck reist hier keiner. Beziehungsweise ohne Gepäck – denn typisch Bagger sind Harley-Davidsons Street Glide und ihre Rivalin, die Indian Challenger Dark Horse, serienmäßig mit zwei großen, fest verbauten Koffern am Heck unterwegs.
Nichts für Leichtbau-Fans
Und selbst wenn der Stauraum leer bleibt, sind beide tourentaugliche US-Cruiser nichts für Leichtbau-Fans. Weder die Harley-Davidson Street Glide, die bereits zum Modelljahr 2024 immerhin acht Kilogramm abgespeckt hat und fahrfertig 374 Kilogramm auf die Waage bringt. Noch die Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus, die trotz Aluminiumrahmen stolze 388 Kilo auf die Straße stellt. Wendemanöver am Hang erfordern bei beiden Strategie, mal eben rückwärtsschieben ist nicht. Dafür steht in Fahrtrichtung reichlich Schub bereit. Um mit dem happigen Kampfgewicht standesgemäß voranzukommen, hängen beide Traditionsmarken hubraumstarke, wassergekühlte V2-Motoren ins Chassis.
Ganz frisch der Antrieb der Indian, deren vollständige Modellbezeichnung das Facelift verrät: Challenger Dark Horse with 112 Package. Bedeutet 112 Kubik-Inch beim neuen PowerPlus-112-Aggregat, dessen Hubraum im Vergleich zum bisherigen 108er dank zwei Millimeter größerer Bohrung von 1.768 auf 1.834 Kubikzentimeter anwächst. Ergebnis: brachiale 181,4 Newtonmeter Drehmoment bei 3.800 Touren und 126 PS Spitze. Für einen Ami-Zweizylinder beachtliche Werte – und ein deutliches Ausrufezeichen in Richtung Erzrivale Harley-Davidson.
104 PS mit der Harley-Davidson Street Glide
Schon klar: Die direkte Challenger-Gegenspielerin aus Milwaukee heißt eigentlich Road Glide – mit rahmenfester Sharknose-Verkleidung anstelle der am Lenker montierten "Batwing"-Front der Street Glide. Technisch und motorisch sind die Harley-Schwestern nahezu identisch. Genau deshalb bietet diese Testkonstellation die Gelegenheit, nebenbei die Frage zu klären, welches Verkleidungskonzept besser funktioniert – oder gekonnter anbaggert, wenn man so will. Stehende Verkleidung hin oder her, unter ihrem Kunststoff- und Chromkleid zeigt sich auch die Harley-Davidson Street Glide keineswegs als Kind von Traurigkeit. Ihr Milwaukee-Eight 117 getaufter Vau-Twin schöpft gemessene 104 PS und 167 Newtonmeter Drehmoment aus satten 1.923 Kubikzentimetern Hubraum. Flüssigkeitsgekühlte Zylinderköpfe helfen, die Temperaturen auch im Stau im Griff zu behalten. Am klassischen Aufbau mit 45-Grad-Zylinderwinkel und untenliegender Ventilsteuerung ändert das aber nichts.
Indian Challenger: Drehfreudig und bärenstark
Begleitet von kernigem Blubbern und mechanischen Laufgeräuschen springt die Harley-Davdison Street Glide an und reißt gefühlt schon ab Standgas ordentlich an. Fast schon zu direkt reagiert sie auf Eingaben am E-Gas, zumindest in den Modi Road und Sport. Für entspanntes Cruisen schalten wir auch bei Sonnenschein lieber auf "Rain". Das macht der neue PowerPlus 112 besser. Und zwar in jedem der drei Fahrmodi. Geschmeidig, aber mit Nachdruck marschiert die Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus los, wird ab rund 1.500 Touren richtig vital und frisst anschließend den Asphalt, als gäbe es kein Morgen.
Kultiviert, drehfreudig, bärenstark – und dazu mit einer rotzigen, vollen Soundkulisse. So soll’s sein. Insgesamt läuft die Indian geschmeidiger, elastischer und stellt ihr Drehmomentgebirge feiner dosierbar bereit als die Harley. Abgesehen vom etwas weniger wuchtigen initialen Punch hat Indian damit in Sachen Motor ihre feststehende Schnauze vorn. Nette, da wartungsfreundliche Dreingabe der Challenger: Zahnriemenantrieb statt Kette.
Die Street Glide zeigt sich agiler
Auch beim Chassis gehen Harley und Indian unterschiedliche Wege. Harley setzt auf einen klassischen Doppelschleifenrahmen aus Stahl, kombiniert mit einer 49-Millimeter-Telegabel mit 117 Millimetern Federweg vorne und zwei in der Federbasis verstellbaren Federbeinen mit 76 Millimetern Federweg am Heck. Insgesamt fällt das Harley-Chassis mit 43 Millimeter kürzerem Radstand kompakter aus als jenes der Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus. Bei der Challenger verbaut Indian einen Alu-Rahmen mit mittragendem Motor. Vorne arbeitet eine 43-Millimeter-Upside-down-Gabel mit 130 Millimetern Federweg, hinten ein ebenfalls in der Federvorspannung einstellbares Zentralfederbein mit 114 Millimetern Hub.

Leistungsmessung Harley-Davidson Street Glide und Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus.
In Bewegung zeigt sich die Harley-Davidson Street Glide insgesamt agiler, direkter und spürbar kompakter. Machen die paar Kilo weniger am Ende womöglich doch einen spürbaren Unterschied? Die Challenger setzt indessen klar auf Komfort und hohe Fahrstabilität. Lenkt etwas behäbiger ein, fährt dafür aber berechenbarer, ruhiger und in der Summe einfacher. Zweckentfremdet man die Highway-Kolosse im engeren Winkelwerk, zieht die Harley allerdings trotz trampeligem, holzigem Ansprechen am Heck davon. Sie ist agiler, bietet mehr Schräglagenfreiheit und wechselt flinker von einer Schräglage in die nächste. Wenn die üppigen, abklappenden Trittbretter der Indian längst Funken sprühen, ist es höchste Zeit, wieder in den relaxten Flaniermodus zu schalten.
Bremsen der US-Rivalen
Kein Problem, denn kräftige Bremsanlagen fangen die Heavy-Metal-Bikes zuverlässig ein. An der Harley-Davidson Street Glide verzögern vorn zwei kräftige Vierkolben-Axialsättel mit 320er-Scheiben. Ordentlicher Biss, sauber dosierbar, insgesamt harmonisch abgestimmt. Unterstützt wird das Ganze von einem schräglagensensiblen, IMU-gesteuerten ABS – inklusive elektronischer Teilintegralbremse, die beim Griff zur Vorderradbremse auch das Hinterrad automatisch mitverzögert. Auch die Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus setzt auf 320-Millimeter-Doppelscheiben, allerdings mit radial montierten Brembo-Sätteln. Indian spricht von Rennsport, ganz im Fahrwasser der Motorsportambitionen bei den "King of the Baggers"-Rennen in den USA. Die Verzögerung der ebenfalls mit kurvensensitivem ABS ausgerüsteten Anlage fällt vergleichbar kraftvoll aus, beim Hebelgefühl bleibt die Harley allerdings einen Hauch präziser. Eine Integralbremse bietet die Indian nun auch.
Unterschiede in der Ergonomie
Größer fallen die Unterschiede beim Thema Ergonomie aus. Supersize me: Auf der Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus wirkt das Platzangebot in alle Richtungen großzügiger, der Kniewinkel ist offener, der Lenker baut breit, liegt aber angenehm touristisch zur Hand. Dagegen sitzt man auf der Harley-Davidson Street Glide kompakter, gedrungener und näher an der Front. Die Höhe der vergleichbar üppig gepolsterten Sitzbänke unterscheidet sich dabei nur geringfügig (Indian Challenger: 735 Millimeter, Harley Street Glide: 730 Millimeter), im Sattel wirkt die Harley aber insgesamt schmaler und zierlicher. Ein Pluspunkt gerade für kleinere Fahrer, während die mächtige Indian größeren und normal gewachsenen Reitern das entspanntere Lounge-Feeling bietet.
Höhenverstellbare Scheibe bei der Indian
Auf großer Fahrt ein nicht zu unterschätzender Faktor: der Windschutz. Auf der Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus sorgt die elektrisch höhenverstellbare Scheibe in Kombination mit der feststehenden Front für überzeugende Abschirmung – am Helm, aber auch im Beinbereich. Kleine Spoiler an der ohnehin breiter bauenden Front leisten hier spürbare Arbeit: Bei morgendlich kühlem Fahrtwind wird der Unterschied durch die Jeans schnell deutlich. Die Lenkerverkleidung der Harley-Davidson Street Glide schirmt dafür an den Händen etwas besser ab, verzichtet allerdings auf eine üppige Scheibe. Stattdessen gibt es eine Luftklappe mit einhändig verstellbarem Anstellwinkel. Turbulenzen und Druck auf den Helm lassen sich damit spürbar beeinflussen, auch wenn die Gesamtabschirmung nicht an das Niveau der Indian heranreicht.
Oldschool Flair oder matter Dark-Horse-Look?
Während die Harley-Davidson Street Glide äußerlich mit viel Chrom auf Oldschool-Flair setzt und die Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus modern im matten Dark-Horse-Look daherkommt – optisch ein Auftritt, der auch perfekt zum nächsten Grand-Theft-Auto-Protagonisten passen würde –, dreht sich das Bild im Cockpit. Die Street Glide präsentiert sich volldigital und zeitgemäß: im Zentrum ein hochauflösendes 312-Millimeter-TFT-Display, flankiert von zwei 5,25-Zoll-Lautsprechern samt 200 Watt Endstufe. Darunter ein üppiges Softclose-Handyfach samt Ladeanschluss. Trotz reichlich Tasten an beiden Lenkerenden wirkt das Bedienkonzept der "Skyline-OS" getauften Benutzeroberfläche erstaunlich eingängig. Kommt man mit dem Steuerkreuz nicht weiter, hilft der Touchscreen.
Apple CarPlay, Bluetooth und USB Anschluss
Neben Fahrzeugdaten und sämtlichen Einstellungen lassen sich bei der Harley-Davidson Street Glide in drei Anzeigemodi Navigation, Telefonie und Musik steuern. Als Quellen stehen Bluetooth, USB, Radio und sogar DAB+ zur Wahl. Apple CarPlay ist serienmäßig an Bord, Android-User bleiben außen vor. Das gilt auch für die Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus. Sie löst das Thema Cockpit klassischer, aber unnötig verschachtelt: Über dem Sieben-Zoll-Touchdisplay für Infotainment und Einstellungen sitzen zwei Rundinstrumente für Geschwindigkeit und Drehzahl, dazwischen ein kleines Monochromdisplay für Gesamt- und Tageskilometerzähler.
Ein Mix aus allen Epochen. Musik gäbe es auch auf der Indian, ein Soundcheck entfällt jedoch – ein loser Stecker unter der Verkleidung setzte die Boxen unseres Testbikes außer Betrieb. Ob das serienmäßige 100-Watt-System oder das aufpreispflichtige 400-Watt-Premiumsystem mit besseren Lautsprechern überzeugt, bleibt daher offen. Die Harley klingt jedenfalls gut – auch noch jenseits der 80 km/h.
Indian Challenger: Totwinkelassistent und Zentralverriegelung
Bedienlogik und Software der Indian Challenger Dark Horse 112 PowerPlus wirken trotz ähnlichem Funktionsumfang – auch sie bietet Kartennavi und Connectivity-Features – optisch etwas angestaubt und träger. Dafür gibt es statt einem gleich zwei großzügige Fächer in der Frontverkleidung. Auch bei der Ausstattung liefern sich die beiden Schwergewichte ein enges Duell. Tempomat, schräglagensensitive Traktionskontrolle und Berganfahrhilfe gehören bei beiden zum Serienumfang. Die Challenger legt mit Totwinkelassistent, elektrifizierten Koffern samt Zentralverriegelung und Alarmanlage noch nach – am Ende bleibt also nicht nur optisch die Qual der Wahl.





