Aprilia war zwar abseits der erfolglosen Caponord 1.200 lange weg vom Adventure-Game, ist aber keineswegs neu in diesem Segment. Immerhin wurde der erste der gern zitierten 54 Weltmeistertitel im Gelände errungen, und auf den Namen Tuareg hörte in den 1980er-Jahren schon eine ganze Enduro-Modellfamilie aus Noale.
Nun, das ist ziemlich lange her und es verdient Anerkennung, was mit der brandneuen Aprilia Tuareg 660 (fast) aus dem Stand auf die Räder gestellt wurde. Genretypisch imposant – dafür sorgen schon Federwege und Raddimensionen – und doch sehnig kommt sie daher und überträgt das aktuelle Markendesign samt Charaktergesicht, knackigem Heck und Flügelwerk gekonnt ins Abenteuersegment. Flirtet höchstens im wunderschönen, alternativen blau-weißen Paintjob "Indigo Tagelmust" mit der Vergangenheit. Der luftige Eindruck rührt auch vom neuen Rahmenkonzept her, was die wohl größte Modifikation der schon von Tuono und RS bekannten 660er-Plattform ist. Statt Aluguss gibt es jetzt Gitterrohr, dabei wurden gleich noch die Haltepunkte des Motors im Sinne gesteigerter Stabilität verdoppelt. Zusammen mit fetten 240 Millimetern Federweg, 21-Zoll-Vorderrad und schon in Serie recht grobem Gummi (Pirelli Scorpion Rally STR) zeigt die Aprilia Tuareg 660 recht unverhohlen, dass Geländetauglichkeit in Noale nicht nur als Marketing-Gimmick verstanden wird. Für höchste Offroad-Weihen fehlt nur noch ein geschraubtes Rahmenheck, damit der körperliche Schmerz nach dem Sturz nicht auch noch ein finanzieller wird.
Ausstattung hui, Verarbeitung – na ja
Wenn wir schon kurz beim Meckern sind: Auch die Aprilia Tuareg 660 offenbart bei genauerem Hinsehen, dass die Zeiten edelster Material- und Verarbeitungsgrandezza langsam vorbei sind. Aufkleber, Schweißnähte, Lackauftrag: così così, wie man in Italien sagen würde. Umso großzügiger zeigte man sich dafür bei der Ausstattung. Umfangreich konfigurierbare Fahrmodi, Traktionskontrolle, TFT-Cockpit mit Smartphone-Anbindung, voll einstellbares Fahrwerk und auf Wunsch sogar einen Schaltautomaten. Das ist nicht nur im Vergleich zur absichtlich kargen Ténéré 700 durchaus respektabel.
1,80 Meter Körperlänge oder mehr
Großzügig ist mit gemessenen 885 Millimetern auch die Sitzhöhe, das sollte einen bei dieser Art Motorrad nicht wundern, aber bedacht werden. 1,80 Meter Körperlänge empfehlen sich, gerne auch mehr. Einmal erklommen, fühlt man sich auf der Aprilia Tuareg 660 jedoch sofort pudelwohl. Alle Abstände passen bei besagter Größe auf Anhieb, der Lenker ist angenehm breit und hoch und die überraschend bequeme Sitzbank lässt ausreichend Bewegungsspielraum. Prädikat langstreckentauglich mit ausgeprägtem Anpackgefühl, dazu gesellt sich noch ganz passabler Windschutz, der mit dem dicken Bügel am Windschild eine Verstellbarkeit suggeriert, wo keine ist.
Aprilia Tuareg 660 ist sonor, nicht laut
Früher anpacken soll jetzt auch der auf Tiefendruck optimierte 660er-Reihentwin. Längere Ansaugtrichter, zahmere Steuerzeiten und eine kürzere Übersetzung waren das Mittel der Wahl. Schauen wir mal. Oben rechts kurz gedrückt, und unten in der Mitte fängt es sonor an zu bellen. Und hier offenbart sich schon der erste Unterschied zu den bekannten 660er-Derivaten: Sonor, nicht laut, ist die Aprilia Tuareg 660. 90 dB(A) gibt Aprilia im Stand an und damit satte sechs weniger als bei RS und Tuono. Auch im Fahrbetrieb verlässt der Antrieb in der neuen Abstimmung nie die Straße der Sozialverträglichkeit. Er ist nun insgesamt ein noch etwas angenehmerer Zeitgenosse geworden, geht wie gewohnt weich ans Gas und zeigt sich abseits von einem leichten Rasten-Kribbeln ab ca. 5.500 Touren auch mechanisch unauffällig. Das entspricht im sechsten Gang etwa 100 km/h und spielt damit im Alltag eine gewisse Rolle.
Moment mal, 5.500 Umdrehungen bei 100 Sachen … huch, was ist denn da passiert? Ganze zwei Zähne weniger am Kettenritzel sind da passiert. Das führt einerseits zu einer enorm frühen, sauberen Annahme von Gasbefehlen und andererseits zu drastisch besseren Durchzugswerten zwischen 60 und 140 km/h (eine Tuono 660 ist hier 3,2 Sekunden langsamer!). Aber auch zu einem sehr hohen Drehzahlniveau samt permanenter Suche nach dem nicht existenten siebten Gang. Und zur Einsicht, dass es sich trotz allem immer noch um kein Drehmoment-Tier handelt, was durch die kurze Übersetzung – nicht ganz ineffektiv – kaschiert werden soll. Immerhin ohne im Vergleich zu den 660er-Schwestern gravierenden Niederschlag im Verbrauch zu finden.
Musik spielt oberhalb von 5.000/min
Der Antritt von unten ist für sich genommen mehr als solide, die ganz große Musik spielt aber trotz allem erst oberhalb von 5.000 Umdrehungen. Was schon mal eine ganze Ecke früher ist als bei den sportlichen Schwestern aus gleichem Hause. Nichtsdestotrotz: Soll es richtig flott vorangehen, muss ordentlich im Getriebe der Aprilia Tuareg 660 gerührt werden. Was sehr viel mehr Spaß macht, als man beim Wort "rühren" vermutet. Das Getriebe verlangt nur kurze Schaltwege und fühlt sich herrlich schmatzig und smooth an, wenn auch die letzte Präzision und Rastung manchmal fehlt. Einen halbherzigen Schaltfuß mag es aber nicht, klare Befehle und ordentlich Zug am Kabel dafür umso mehr. Das gilt vor allem für den dann perfekt "bröööpppenden" Schaltautomaten. Be a Racer – das Markenerbe aus Noale verpflichtet halt, auch bei einer überschaubar portionierten Reiseenduro. Insgesamt ein mehr als unterhaltsames Antriebspaket jedenfalls, dessen Drehzwang erst im direkten Vergleich mit der Konkurrenz aus Fernost ein echtes Thema wird.
Konfigurierbare Fahrmodi
Nicht ganz unwichtig ist neben der Drehzahl auch die Wahl des Fahrmodus. Im Modus "Urban" hängt die Aprilia Tuareg 660 eher verhalten am Gas, "Explore" bringt etwas mehr Leben in die Bude, richtig Freude und eine möglichst lineare Verbindung zwischen Gasbefehl und Drosselklappenöffnung bietet aber erst "Offroad". Wer aber verständlicherweise auf der Straße ungern mit deaktiviertem ABS am Hinterrad fährt, kann glücklicherweise auch einen individuellen Fahrmodus erstellen, der beispielsweise die scharfe Gasannahme mit einem beidrädrigen ABS kombiniert.
Was gibt’s noch einzustellen in Sachen Digitales? Da wären die Motorbremse (gewohnt unnötig, weil kaum spürbar) und die Traktionskontrolle (gewohnt hervorragend, weil kaum spürbar). Letztere wurde bei der Aprilia Tuareg 660, im Vergleich zu den sportlichen Geschwistern, von acht auf praxistaugliche vier Stufen runter gedampft und agiert, wie man es von Aprilia kennt, dezent, aber wirksam. Stufe 2 bildet einen guten Kompromiss aus schützender Hand und fehlender Bevormundung.
Und sind die Zügel nicht zu straff, geht es auch mehr als flott ums Eck. Größtes Pfund der Aprilia Tuareg 660 ist dabei ihre fast schon freche Agilität. Kleinste Lenkimpulse reichen völlig aus, um sich mit Verve von einer Kurve in die nächste zu schmeißen. Das moderate Gewicht und der breite Lenker entfalten hier großzügig ihre Wirkung, ob man die Aprilia Tuareg 660 nun lieber klassisch in den Radius legt oder genretypisch drückt. Das eher straffe Fahrwerk spielt hier auch bei hohem Engagement klaglos mit und hält sich von jeglichem Gautschen oder Schaukeln fern. Für den Alltag abseits der letzten Rille sollte man speziell das trotz eigens implantierter Umlenkung etwas grobe Federbein soften, was dank seines sehr großen Verstellbereiches kein Problem darstellt. Der Preis all dieser Beweglichkeit ist eine kleine Anfälligkeit für Störimpulse in Schräglage. Meint man es richtig ernst, wird aus Agilität schnell leichte Nervosität. Aber spätestens dann wird man eh von den relativ groben Pirellis eingebremst. Dicke Profilblöcke in schmaler Dimension können halt nur begrenzt Seitenführungskräfte übertragen.
ABS arbeitet am Limit
Das gilt ebenso für Bremskräfte. Wenn man in die an sich kräftige und fein zu dosierende Bremse richtig reinlangt, wird das ABS der Aprilia Tuareg 660 auch richtig gefordert. Die Regelimpulse sind im Bremshebel zwar kaum zu spüren und arbeiten zudem nah am Limit, dieses liegt aufgrund der Bereifung allerdings auch nicht allzu hoch. Die mittlere Bremsverzögerung, der Bremsweg und letztlich auch das verzweifelte Wimmern des Vorderrads samt sichtbarem Gummiabrieb bezeugen dies eindrücklich. Obacht, wer hier im Offroad-Modus unterwegs ist: Wie schon gesagt, gibt es dann einerseits hinten keinen Blockierverhinderer mehr und andererseits kann das Heck beim kräftigen Ankern unerwartet schnell unerwartet hochsteigen. Für den Alltag auf der Straße sicher nicht das richtige Setting. Die Lösung ist, das ABS von Stufe 2 auf Stufe 1 runterzuregeln (bei immer noch aktiviertem Hinterrad-ABS) oder einfach in einen der moderateren Fahrmodi zu wechseln.
Aprilia Tuareg 660 kann mehr als nur Schotterweg
Man könnte natürlich die Bremsperformance auch hintenrum über straßenorientiertere Reifen optimieren. Dann wären nebenbei auch wieder mehr als "nur" 170 Sachen (legales Limit der Pirellis) drin, à propos. Aber dann würde man sich auch um eine spaßige wie bemerkenswerte Kernkompetenz der robusten Aprilia Tuareg 660 bringen. Schon mit der Serienbereifung kann man mehr als nur den viel zitierten Schotterweg bezwingen. Stock und Stein stecken die Federwege locker weg, dafür sollte aber wieder in den straffen Werkszustand zurückjustiert werden. Gleiches gilt für kleine Sprungeinlagen. Und die sensible Traktionskontrolle lässt auf Stufe 1 auch Ungeübte zu passablen Teilzeithinterraddurchdrehern werden, ganz ohne akute Knochenbruchgefahr. Der fürs Fahren im Stehen ideal platzierte Lenker, das leichte Handling und der untenrum nicht brutal zupackende Motor erweisen sich hier als goldrichtig.
Aprilias Rückkehr ins Segment "kleiner" geländetauglicher Reiseenduros ist nicht nur für einen Erstaufschlag gelungen. Die Konkurrenz im Allgemeinen und die Yamaha Ténéré 700 im Besonderen müssen sich warm anziehen …
Fazit
Die Aprilia Tuareg 660 ist ein geschmackvolles Weltumrundungsmotorrad mit charakterstarkem Antrieb. Dazu deutlich weniger spartanisch aufgestellt als ddie Yamaha Ténéré 700, ohne es an robusten Nehmerqualitäten missen zu lassen. 12.000 Euro sind aber ebenfalls weit weg von spartanisch und schon fast in Rufweite deutlich dickerer Kaliber.