BMW R 1250 GS im Top-Test
High-End-Allrounder

In der neuen BMW R 1250 GS sorgt eine variable Ventilsteuerung per Schaltnocke für mehr Drehmoment, Leistung und Laufkultur. Ansonsten bleibt das Wesentliche beim guten Alten. Zentrale Frage im Top-Test: Nockt die Shift Cam den alten Boxer aus?

High-End-Allrounder
Foto: Jacek Bilski

Was bisher geschah: 1980 legt BMW die R 80 G/S auf. Boxermotor, Kardan, endurogemäße Rad-/Reifendimension, lange Federwege. Mithin die Geburtsstunde der echten Reiseenduro. In den bald 40 Jahren seither wuchs der Hubraum von 800 auf zuletzt 1.170 Kubikzentimeter, Leistung und Drehmoment stiegen peu à peu. Telelever kam, Teilwasserkühlung, mehr und mehr aufpreispflichtige, aber oft nützliche Hightech-Features. Das spezielle Grundkonzept jedoch – Boxer, Kardan, großes Vorderrad, üppige Federwege – ist immer das gleiche geblieben. Dieser behutsame, aber konsequente Schliff eines an sich eigenwilligen Konzepts über Jahrzehnte hat der GS, wie heißt es so schön, einen „enormen technischen Reifegrad“ beschert. Die Kundschaft goutiert das, wie sich an den Alpenpässen ablesen lässt. Folgerichtig ist diese Kuh heilig.

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Neues Modell? Oder technische Überarbeitung?

Nachvollziehbar daher, dass die Münchner jetzt nicht damit anfangen, alles über den Haufen zu werfen. Andererseits muss man diesmal schon ganz genau hinsehen: neues Modell? Oder technische Überarbeitung? Lediglich andere Farben, kürzere Krümmer und der Zylinderdeckel weisen die BMW R 1250 GS als neueste GS aus. Letzterer hat es dann auch in sich, verbirgt er doch die zentrale Neuerung. Es dürfte sich herumgesprochen haben: Die neuen Motoren (R 1250 RT, RS und R folgen) verfügen über einen Verschiebemechanismus der Einlassnockenwellen, genannt Shift Cam, der je nach Drehzahl und Last ein zahmes und ein scharfes Nockenprofil bereitstellt. Das soll dem Motor unten mehr Durchzug und Laufkultur, oben mehr Leistung verleihen. Weiterhin wuchs der Hubraum um nicht unbedeutende 84 Kubik auf 1.254 cm³. Sonst bleibt alles wie gehabt. Wie also wirkt sich das aus?

Jacek Bilski
Im sechsten Gang schafft es die R 1250 GS von 140 auf 180 in 3,6 Sekunden.

Einerseits subtil, andererseits gewaltig. Subtil, lässt man Alt und Neu nebeneinander an. Mit der bekannten Boxer-Fanfare röhrt der 1170er los, auch mechanisch präsent, ein vernehmliches Rasseln und Tickern aus den Köpfen. Der Shift-Cam-Motor dagegen kennt die Zeichen der Zeit, verkneift sich das Löwengebrüll beim Start. Erst bei Leerlaufdrehzahl öffnet die Auspuffklappe, gibt einen satten Bass frei, deutlich weniger blechern als zuvor. Angenehmer, diesem Motorrad angemessener. Die Umstellung auf Zahnkette zum Antrieb der Nockenwellen beruhigt auch die mechanische Geräuschkulisse. Im Stand atmet die BMW R 1250 GS ruhiger, mit weniger „schnapp“.

Neuer und alter Motor im Vergleich

Das berühmte BMW-Kalonk beim Einlegen des ersten Gangs wurde schon zur 2017er-Überarbeitung ein wenig gemildert. Dennoch gelingt es fast jedem anderen Motorrad, seinen Einser eleganter, mit weniger hartem Schlag einzusortieren. Tradition verpflichtet? Die hydraulische Kupplung arbeitet bekannt leichtgängig und herrlich definiert. Also rollen wir an. Sofort offenbart sich, dass der neue Antrieb der BMW R 1250 GS noch weiter unten noch mal feiner läuft. 60 km/h im sechsten Gang verträgt der 1170er so gerade, tut dann aber rappelnd und mit zögerlicher Gasannahme seinen Unmut kund. Nicht so der 1254er, den man in der letzten Gangstufe tatsächlich ohne Murren bei 50 ans Gas nehmen kann. Der Trick mit der zahmen Nocke funktioniert bestens. Schwer fasslich, dass ein großer Zweizylinder so vibrationsarm zu laufen versteht.

Jacek Bilski
258 Kilogramm bringt das Testexemplar auf die Waage.

Damit zu jener Übung, mit der sich der versprochene Fortschritt eins zu eins überprüfen lässt: Durchzugsmessung. Beide Seit an Seit, sechster Gang, 60 Stundenkilometer – und Vollgas. Während der alte Motor sich noch kurz berappeln muss, zieht der neue geschmeidig und merklich davon. Rund 10 Newtonmeter stehen bis 3.500 Umdrehungen zusätzlich bereit, ein feiner Unterschied. Mit steigender Drehzahl dann wächst auch der Vorsprung in Drehmoment, Leistung und Motorradlängen. 0,3 Sekunden knöpft der Shift-Cam-Motor dem Vorjahresmodell von 60 auf 100 ab (3,1 zu 3,4), 0,6 Sekunden von 100 auf 140 (3,2 zu 3,8). Eindeutig, aber noch keine Welt. Zwischen 140 und 180 schließlich, wenn beide in ihrem Drehmoment-Zenit laufen, verschiebt sich das Leistungsplus vom Subtilen ins Gewaltige. Hier braucht es dann kein gut geeichtes Popometer mehr und auch keine Stoppuhr, um den Unterschied zu erspüren. Es reicht der Blick auf die rapide Richtung 200 eilende Tachoanzeige. Schnelle 5,6 Sekunden braucht die 1200 GS für diesen Sprint, in sensationellen 3,6 Sekunden hakt die BMW R 1250 GS das ab. Gute Güte! Damit rückt die Beschleunigung der GS näher an die Liga der 160-PS-Rase-Enduros, zu denen freilich ein Abstand bleibt. In Sachen Durchzug jedoch legt der in der Spitze nun fast 140 Newtonmeter (!) starke Antrieb die Messlatte hoch. Sehr hoch.

Performance im schnellen und langsamen Parcour

In der Realität bedeutender als die nackten Zahlen ist das Plus an Souveränität, die der neue Motor der BMW R 1250 GS gewinnt. Nicht erdrückend, aber erklecklich. Erhaben die Elastizität, noch breiter das nutzbare Drehzahlband, deutlich geschmeidiger der Lauf besonders im unteren Bereich. Unverändert, nämlich nahezu perfekt die Spontanität, die Präzision der Gasannahme. Ein Schmuckstück von Motor, nicht nur, aber besonders für eine Reiseenduro. Vor allem ist vom Nockengeschubse wirklich nicht das Geringste zu spüren. Kein plötzlicher Leistungsanstieg wie bei Hondas VTEC, kein Gummiband-Effekt wie bei den frühen DVT-Ducatis. Nichts. Nur dann und wann meint man, nach dem Gaswegnehmen im Schiebebetrieb ein leises „Klack“ zu vernehmen. Eine schwer respektable Leistung. Nebenbei Beleg, dass für den Verbrennungsmotor das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist.

Jacek Bilski
Das Navi ist aufpreispflichtig.

Zum Fahrverhalten. Schneller und langsamer Parcour sowie Kreisbahn. Prägend war für die GS stets die für eine schwere Reiseenduro (aktuell 258 Kilogramm mit Hauptständer und Speichenrädern) ausgeprägte Handlichkeit. Diese Stärke entstammt dem Konzept: tiefer Schwerpunkt dank Boxer, längs liegende Kurbelwelle, beides dem Handling zuträglich. Daran ändert sich nichts. Behände lenkt die BMW R 1250 GS ein und recht zielgenau, kaschiert geschickt ihre gut fünf Zentner, bleibt dann durch alle Schräglagenbereiche hindurch höchst neutral. Und stabil sowieso, Bodenwellen in Schräglage arbeitet das ESA gekonnt ab. Es ist dieses altbekannte Fahrgefühl: verwurzelt, dabei gelenkig, sortiert und berechenbar. Folgsam tut die GS das, woran der Fahrer denkt. Verzeiht Fehler. Auch ist die Schräglagenfreiheit immens. Genau so eben, wie beim 2018er-Modell. Typisch GS ist aber auch, wie sehr die Vorderradführung per Längslenker von der Fahrbahn entkoppelt. Rückmeldung war nie ihre Stärke, auch dabei bleibt es. Eine Beziehung zum Telelever muss man sich über Zeit erarbeiten. Die Front hält, aber Info darüber, wie lange noch, bleibt sie schuldig.

Ein insgesamt sehr sicheres Motorrad

Komplex, aber unterm Strich sehr gelungen, ist das Zusammenspiel von Fahrmodi und dem aufpreispflichtigen elektronischen Fahrwerk. Eine umfassende Auflistung aller Kombinationen sprengte den Rahmen, neu ist die Sache ohnehin nicht. Deshalb sei festgehalten: BMW fasst in den Modi (Rain und Road Serie, Dynamic und Enduro kosten extra) Ansprechverhalten des Motors, Regeln von ABS und Traktionskontrolle sowie Dämpfungscharakteristik zusammen. Das hält die Bedienbarkeit übersichtlich, weiterführende Anpassungen sind in den per Codierstecker freischaltbaren Modi „Dynamic Pro“ und „Enduro Pro“ vorgesehen. Der Fahrwerks-Grundkompromiss stimmt dann auch für alle, außer sehr leichten Personen. Diese werden im Solobetrieb die BMW R 1250 GS als nicht überbordend komfortabel empfinden. Flottfahrer zu zweit mit Gepäck sollten das höhere, straffere Sportfahrwerk in Erwägung ziehen. Vielleicht einen Hauch zu sehr vereinfacht ist die automatische Vorspannungsanpassung am Federbein. Die funktioniert grundsätzlich tadellos. Wer sich aber etwas mehr Vorspannung wünscht oder weniger, dem sind die Hände gebunden. Die Alternativen „Min“ und „Max“ sind zu extrem, um in der Praxis zu taugen. Die Lösung mit manueller Vorwahl des Beladungszustands wie sie vor 2017 zum Einsatz kam, war so schlecht nicht. Und die ganz alte, das Handrad, ließ auch noch die Wahl.

Jacek Bilski
Die Preise für die neue BMW R 1250 GS beginnen bei 16.150 Euro.

Bremsmessung. Mitunter die größte Stärke der Telelever-GS, denn auf der Bremse bleibt sie vorne oben. Eine mittlere Verzögerung von 9,6 m/s² ergibt aus 100 km/h einen Bremsweg von 40,2 Meter. Ausgezeichnet. Kenner werden es schon erkannt haben, die Vierkolben-Festsättel am Vorderrad stammen nicht mehr von Brembo. Doch das ist kein Nachteil. Der Druckpunkt des Verzögerungsapparats bleibt unverändert klar, die vehemente Bremsleistung spricht ohnehin für sich. Obendrein scheinen die neuen Zangen die Problematik des mit zunehmendem Belagverschleiß wachsenden Leerweges im Bremshebel zu lindern. Größtes Lob verdient die Abstimmung des ABS, die erheblich zur Bremsleistung beiträgt. Es arbeitet mit feinen Regelintervallen. Genau so, wie das Bremsbild illustriert, gelingt es der IMU-gefütterten Elektronik, unter sämtlichen Beladungszuständen das Heck über den gesamten Bremsweg akkurat am Boden zu halten. Kurven-ABS kostet aber extra. Zusammengefasst bremst die BMW R 1250 GS wie auf Schienen. Exakt wie ihre Vorgängerin. In gleicher Weise wie das ABS arbeitet die dynamische Traktionskontrolle ebenfalls schräglagenabhängig, ebenfalls sehr feinfühlig und verlässlich. Ein insgesamt sehr sicheres Motorrad.

Preise beginnen bei 16.150 Euro

Damit wäre das Top-Test-Prozedere zur umfassenden Zufriedenheit bewältigt. Der Basispreis der großen BMW R 1250 GS beträgt nun 16.150 Euro statt 15.300, allerdings gehören Connectivity-TFT und das gute LED-Licht zur Serienausstattung, was den Mehrpreis relativiert. Lohnt sich der Umstieg? Nun, das muss jeder mit sich ausmachen. Wer seinen 1170er häufig mit Vollgas bewegt, sei es mit viel Zuladung oder weil er in einer hügeligen Gegend wohnt, wer sich an neuester Motorentechnik erfreut, sollte die Shift-Cam-GS probieren. Für alle anderen besteht kein akuter Handlungsbedarf. Sie merken, wir hätten da noch einiges auf dem Tisch gelassen. Genau das, nämlich Alt und Neu auf Landstraße, im Gelände, auf Reise und im Alltag, gibt es im demnächst auf www.motorradonline.de erscheinenden Vergleichstest zwischen der GS 1200 R und der GS 1250 R.

MOTORRAD-Fazit

Shift Cam bringt deutlichen Fortschritt, unterstreicht die Stärken des Boxers weiter: Durchzug und Laufkultur erreichen ein neues Level, die Mehrleistung törnt an. Ein herausragender Motor. Ansonsten bleibt schlicht alles beim ausgezeichneten Alten. Der wohl beste Allrounder ist gerade noch etwas geschliffener, noch etwas besser geworden.

Techniküberblick: variable Ventilsteuerung

Über Nockenprofil und Steuerzeiten beeinflussen die Ingenieure den Charakter eines Motors maßgeblich. Dabei herrscht ein Zielkonflikt: Entweder Durchzug unten oder Power oben. Gemäßigte Steuerzeiten füllen den Brennraum bei niedrigen Drehzahlen gut mit Frischgas. Das bringt Drehmoment, aber diesen Motoren geht oben regelrecht die Luft aus. Umgekehrt bringen „scharfe“ Steuerzeiten mit viel Ventilhub- und Überschneidung (Einlass und Auslass gleichzeitig offen) gute Füllung bei höheren Drehzahlen – zulasten von Drehmoment und Laufkultur unten.

BMW
Die neue Shift-Cam-Technologie kommt auch bei anderen neuen BMW-Modellen zum Einsatz.

Diesen Konflikt können variable Steuerzeiten, wie sie in Automotoren in unterschiedlicher Umsetzung schon länger Verwendung finden, lösen. Die Hersteller greifen dabei zu ganz verschiedenen Methoden. Kontinuierlich variabel sind etwa die Drehversteller an der Einlassnocke von Kawasaki (1400 GTR, hydraulisch) Suzuki (GSX-R 1000, mechanisch per Fliehkraft). Auch Ducati verwendet beim DVT Hydraulikeinheiten, verbaut diese sogar an Ein- und Auslassnockenwelle. Hondas VTEC deaktiviert unterhalb einer festen Drehzahl per Sperrbolzen je ein Ein- und Auslassventil pro Zylinder, wechselt also zwischen Zwei- und Vierventilbetrieb. Wieder anders BMW: Der Shift-Cam-Boxer verschiebt die Einlassnocke kennfeldgesteuert, wechselt so zwischen gemäßigtem und scharfem Profil. Alle Systeme bedeuten einen höheren Aufwand.

Kommentar von Testredakteur Johannes Müller

Das wird Briefe geben. Auch diese BMW kam wieder mit Vollausstattung, nur das Frästeilepaket fehlt. Und sie wird wieder so kommen. Und dann, da braucht es keinen Propheten, Vergleiche gewinnen. „Schiebung!“, „Werksblatt!“,„Gekauft!“. Ich möchte diese Praxis nicht verteidigen. Auch mich ärgert es, nicht zu wissen, wie eine GS ohne ESA fährt. Aber: Haben Sie sich mal da draußen umgesehen? Da haben fast alle das große Kreuz gemacht!

Foto: Gramm
Johannes Müller mit seiner persönlichen Meinung zur GS.

Eine GS ohne Comfort-, Touring- und Dynamic-Paket? Ein Ding der Unmöglichkeit. Dass dabei die 20 Mille geknackt sind, spielt anscheinend keine Rolex. So gesehen ist es fast schon korrekt, die Testmotorräder so zu konfigurieren ...Und jetzt verrate ich noch ein Geheimnis. Unter uns: Ich bin kein Freund der GS. Ich mag weder „Reiseenduros“ noch Telelever, noch Kardan oder den Boxer. Aber was kann das arme Ding für meine persönlichen Vorlieben? Also bleibt mir nur, der Sache möglichst objektiv beizukommen, und das zwingt mich zur Anerkennung. Nach allen messbaren Gesichtspunkten steht da ein unglaublich fähiger, in allen Aspekten durchentwickelter High-End-Allrounder. Sicher eines der besten Motorräder, wenn nicht das. Lieben muss ich sie ja trotzdem nicht.

Technische Daten
BMW R 1250 GS
Motor2, Boxermotor
Leistung100,0 kW / 136,0 PS bei 7.750 U/min
Hubraum1254 cm³
Sitzhöhe850 mm
Sitzhöhe von/bis850 mm / 870 mm
Grundpreis16.150 €
Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023