Auf den Schrägstrich kommt es an: Zur Unterscheidung von späteren GS-Modellen sprechen Fans der BMW R 80 G/S stets von der "Gee-Strich-Ess". Jetzt soll die R 12 G/S das Erbe des puristischen Ursprungsmotorrads von 1980 antreten. Ob sie das schafft?
Erstbesteigung der neuen BMW R 12 G/S
Oha – nicht nur ich, sondern auch einige jüngere Kollegen zeigten sich nach der Erstbesteigung der neuen BMW R 12 G/S überrascht von der Höhe ihrer Sitzbank und ihres Schwerpunkts. Wir alle fassten den Vorsatz, immer genau darauf zu achten, wohin wir beim Anhalten die Füße setzen. Und wir alle vergaßen diesen Vorsatz bereits nach den ersten Kurven auf freier Strecke wieder.
Der Grund: Die BMW R 12 G/S schwingt so leichtfüßig-unbeschwert durchs Winkelwerk, dass man sich als Fahrer genau so fühlt und all diese kleinen Alltagssorgen um das Vorwärtswackeln mit Schrittgeschwindigkeit im Stau komplett vergisst. Zumindest bis zum nächsten Ort. Das ist die herausragende Charaktereigenschaft der G/S, die sich sofort mitteilt und der sich keiner entziehen kann.
Wenn die Kurvenfolgen technisch anspruchsvoller werden und der Fahrer mit eben gefasstem Zutrauen beginnt, das Fahrwerk der BMW R 12 G/S bei höherem Tempo zu testen, schärfer anzubremsen, höhere Kurvengeschwindigkeiten zu fahren, härter in Schräglage zu beschleunigen, dann bleibt die Retro-Enduro auf der Höhe aller Anforderungen.
Die hohe Frontpartie der BMW R 12 G/S und die aufrechte Sitzposition hinter dem breiten Lenker sind nicht gerade dafür prädestiniert, ein unverfälschtes Gefühl für die Reaktionen des Vorderrads zu vermitteln, doch die neue G/S kann genau das. Die Lenkarbeit geschieht intuitiv, etwas unterhalb der Schwelle zum Bewussten, und erst am Abend nach einem genussreichen Fahrtag wird einem klar, warum man so gut mit der Maschine harmoniert hat.
Kein Telelever, sondern Telegabel – aber upside down
Ein Kollege vermisste bei der BMW R 12 G/S gegenüber einer zum Vergleich herangezogenen R 1250 GS eine Prise Kurvenstabilität, doch diesen Eindruck konnte niemand sonst nachvollziehen. Einer Meinung waren wir hingegen beim Federungskomfort. Im Unterschied zur R 1250 GS mit Telelever gibt sich die G/S sportlich-straff. Kurzzeitig stand der Verdacht im Raum, die Upside-down-Telegabel spreche mechanisch nicht gut an.
Zur Kontrolle baten wir unseren Fotografen Jörg Künstle, die BMW R 12 G/S langsam über einen holprigen Schotterparkplatz rollen zu lassen. Dabei konnte man sehen, wie feinfühlig die Gabel auch kleine Wellen ausbügelt. Wir nahmen uns vor, die Druckdämpfung vorn und hinten etwas zurückzunehmen, ließen das dann aber doch bleiben.
Denn wer es sportlich mag, findet die Grundeinstellung der BMW R 12 G/S genau richtig. Und wer mehr Komfort möchte, kann die Dämpfung vorn wie hinten noch 4 von insgesamt 8 Klicks weiter öffnen. Das sänftengleiche Fahrgefühl auf einer GS wird man mit der neuen G/S allerdings auch dann nicht finden. Das würde auch gar nicht zu ihrem sportlichen Charakter passen.
Enduro-Fahrwerk der BMW R 12 G/S – Räder und Reifen
Was hier über das Fahrwerk der BMW R 12 G/S zu lesen ist, bezieht sich auf die Standard-Version mit 17-Zoll-Hinterrad sowie auf die Erstbereifung mit Metzeler Karoo Street. Mit dem 18-Zoll-Hinterrad stehen mehr echte Geländeprofile zur Verfügung, und auch die Fahrwerksgeometrie dürfte sich etwas verschieben. Ein Vergleichstest mit dieser Version ist bereits geplant. Er wird den Fokus auf die Offroad-Tauglichkeit der neuen G/S legen, während das Motorrad für diesen Top-Test lediglich einige Kilometer auf Schotterwegen absolvieren musste. Keine Herausforderung.
Der Metzeler Karoo Street gilt unter Fachleuten als 60/40-Reifen; das bezieht sich auf die Anteile an Straßen- und Offroad-Tauglichkeit. Gemessen an diesem Verhältnis funktioniert er auf der Straße geradezu hervorragend, abgesehen von seinem lauten Abrollgeräusch und dem Wimmern des Vorderreifens beim scharfen Bremsen. Ich nenne ihn seit den Testfahrten mit der neuen G/S den "Heuler von Breuberg", möchte diesen Spitznamen aber als wohlwollende Neckerei verstanden wissen. Was so viel zu einem harmonischen Gesamtsystem beiträgt, darf auch mal Laut geben.
Motor der BMW R 12 G/S – luft-ölgekühlter Doppelnockenwellen-Boxer
A propos Laut geben: Das macht der Boxer-Motor der BMW R 12 G/S, nachdem das Anlasserritzel mit einem leisen Quieken eingeschert hat, in Form eines kurzen Aufbrüllens. Etwas länger läuft er nach dem Anlassen mit erhöhter Leerlaufdrehzahl, um die Katalysatoren aufzuheizen, dann braucht es noch ein paar weitere Sekunden, bis die Zylinderköpfe so heiß sind, dass die Drosselklappenstellung adäquat in Vortrieb umgesetzt wird. Man merkt auch diesem Motor während der Kaltlaufphase die Euro-5+-Magerkost an, aber er braucht tendenziell nicht so lange wie wassergekühlte Motoren, um ihre Folgen zu überwinden.
Was im Alltag auch beim flotten Fahren mit der BMW R 12 G/S an Drehmoment benötigt wird, schüttelt der inzwischen gute alte Doppelnockenwellen-Boxer gleichsam aus dem Ärmel. Schon ab 3.000/min stehen bei Volllast 95 Nm zur Verfügung, 107 sind es in der Spitze bei 6.600/min (MOTORRAD-Messung). Frühere Ausführungen derselben Grundkonstruktion erreichten das Maximum bei weniger Drehzahl, dieser Unterschied würde aber vermutlich nur im direkten Vergleich fühlbar. Wenn überhaupt.
Es gab im Fahrlabor Top-Test-Parcours nur eine Situation, nämlich das Herausbeschleunigen in Schräglage aus den Umkehrpunkten, in der wir gerne noch etwas mehr Drehmoment am Hinterrad gehabt hätten. Obgleich die Traktionskontrolle abgeschaltet war, entstand der Eindruck, dass sie im Hintergrund eben doch eingreift. Vielleicht lag dieser Eindruck aber auch daran, dass eine R 1300 R, die am selben Tag durch den Parcours getrieben wurde, mit ihrem gewaltigen Drehmoment unsere Maßstäbe sehr weit in den Verwöhnbereich gehoben hatte. Ohne diesen Vergleich und im öffentlichen Straßenverkehr wird sich wohl kaum jemand untermotorisiert fühlen auf der neuen G/S. Schon gar nicht zwischen 5.500 und 7.300/min, wie auch aus dem Prüfstand-Diagramm ersichtlich wird.

Die BMW R 12 G/S auf dem MOTORRAD-Prüfstand.
Was mittlerweile fast alle BMW-Motoren so selbstverständlich liefern, dass man sich kaum mehr Gedanken darüber macht, ist ein gefälliges Ansprechverhalten. Der Übergang vom Schiebe- auf Lastbetrieb im Scheitelpunkt der Kurve gelingt auch beim sportlichen Fahren mit der BMW R 12 G/S ohne Härte oder Verzögerung. Wenn man einen unbekannten Kurvenverlauf einmal falsch eingeschätzt hat und den bereits aufgezogenen Gasgriff wieder zudreht, ist es vor allem der Antriebsstrang, der sich bemerkbar macht. Dann hört und spürt man das Lastwechselklacken – die Bezeichnung Lastwechselschlag wäre dafür zu stark.
6-Gang-Getriebe mit optionalem Schaltassistent
Das Klacken begleitet den Fahrer der BMW R 12 G/S auch beim Schalten, und zwar ausgerechnet dann, wenn er sich bemüht, die Gangwechsel mit Kupplungseinsatz besonders geräuscharm zu vollziehen. Es klingt paradox, spricht aber für die gelungene Abstimmung der Schaltassistent-Elektronik, dass das Schalten hinauf wie herunter weniger Geräusche mit sich bringt, wenn man einfach ohne Kupplung den Fußhebel durchzieht oder tritt. Nur beim Schalten im niedrigen Drehzahl- und Geschwindigkeitsbereich greift man dann doch lieber zur Kupplung, wird aber ein akustisches Gangwechselsignal trotzdem kaum vermeiden können. Typisch BMW, aber diese Stichelei müssen die Münchener weiterhin aushalten.
Unauffällig und diskret arbeitend entfalten die elektronischen Fahrhilfen der BMW R 12 G/S alle Tugenden, die auch ein englischer Butler mitbringen muss. Sie sind da, wenn sie gebraucht werden, spielen sich aber nie in den Vordergrund. Neben der schon erwähnten Traktionskontrolle ist das ABS zu nennen, das fein, nahezu unauffällig regelt und nichts dafür kann, dass der Vorderreifen gegen das ihm zugemutete Verzögerungs-Drehmoment protestiert.
ABS, Traktionskontrolle und Enduro-Modus
Wie auch im Diagrammtext zur Bremsmessung mit der BMW R 12 G/S beschrieben, lässt das ABS im Enduro-Modus gelegentliche Stoppies zu, das Fahrerhandbuch versichert jedoch, dass auch in diesem schärferen Modus die Abhebeerkennung des Systems aktiv bleibt. Wer diese etwas heftigeren Fahrwerksreaktionen nicht gewohnt ist, kann sich also ohne großes Risiko damit vertraut machen. Aber bitte nur, wenn von hinten kein anderes Fahrzeug kommt.
Für Hardcore-Enduristen bietet die BMW R 12 G/S neben den 3 Standard-Fahrmodi "Rain", "Road" und "Enduro" den Modus "Enduro Pro" als Sonderausstattung. Der zeichnet sich dadurch aus, dass man für mehr Geld weniger Funktionen erhält. So sind zum Beispiel das Hinterrad-ABS und die Abhebeerkennung deaktiviert, und Freunde des Wheelie-Fahrens könnten die Strecke von Algier nach Tamanrasset auf dem Hinterrad zurücklegen. Beim Testfahrzeug war diese Funktion allerdings nicht freigeschaltet.
Klassischer Zeiger-Tacho oder optionales Digital-Display
In Anlehnung an die BMW R 80 G/S mit ihrem einsamen runden Tachometer im Cockpit – anstelle eines Drehzahlmessers waren die Höchstdrehzahlen der einzelnen Gänge mit Punkten auf der Tachoskala markiert – hat die BMW R 12 G/S standardmäßig ebenfalls ein Rundinstrument. Das Testfahrzeug gönnte uns aber den "Luxus" des kleinen TFT-Displays für 125 Euro Aufpreis. Es ist sehr gut ablesbar und zeigt die einzelnen Informationen wie Tageskilometerzähler, Verbrauch, Uhrzeit und so weiter nacheinander beim Durchklicken.
Dabei gelangt man an zwei Stellen durch langes Drücken der OK-Taste ins Untermenü der BMW R 12 G/S. Im "Setup" lassen sich Datum, Uhrzeit, die Sprache und die Einheiten auswählen, in Verbindung mit der ebenfalls aufpreispflichtigen "Connected Ride Control" zudem eine Bluetooth-Verbindung zum Smartphone herstellen.
Das zweite Untermenü der BMW R 12 G/S eröffnet einen ebenso reizenden wie kuriosen Versuch, im Zeitalter vielfältiger Elektronik-Angebote einen Bezug zur kargen Ausstattung der Ur-G/S herzustellen. Es handelt sich um die Aktivierung des Anzeigemodus "Pure Ride", in dem der Drehzahlmesserbalken sowie alle anderen Informationen außer dem Tacho, der Ganganzeige, dem Fahrmodus und dem Tempomat-Symbol ausgeblendet werden. So weit haben wir die Verbundenheit zur R 80 G/S nicht getrieben. Schließlich wurde auch sie zu ihrer Zeit gerne mit einem Zubehör-Drehzahlmesser nachgerüstet.
Von wegen "keyless" – Fehlermeldungen vom Funkschlüssel
Es wird schon längst nicht mehr bestritten: Funkschlüssel und -schlösser sind in der Produktion billiger als mechanische Schließsysteme. Auch die Elektronik der BMW R 12 G/S wird per Transponder aktiviert. Für die Betätigung von Lenk- und Tankschloss wird jedoch der integrierte Schlüsselbart benötigt. Das ist praktisch, denn man kann den Transponder-Knödel während der Fahrt im entsperrten Lenkschloss oben stecken lassen, statt ihn in der Tasche zu tragen, aus der man ihn ja beim Abschließen der Maschine ohnehin herausfummeln müsste.
Die Fehlermeldung ID 060 zum Funkschlüssel, in englischer Sprache angezeigt, leuchtete während des Tests wiederholt auf, jedoch nie, wenn eine Kamera oder ein Smartphone griffbereit war. Laut Handbuch deutet ID 060 auf eine gestörte Kommunikation zwischen Funkschlüssel und Bordelektronik, eventuell eine leere Batterie im Schlüssel. Tatsächlich konnten wir keine Funktionseinschränkung feststellen und folgten daher wenigstens einer Anweisung des Handbuchs: Wir bewahrten Ruhe und setzten die Fahrt fort. Auch die nächste und die übernächste …
Ist die neue BMW R 12 G/S eine würdige Nachfolgerin der BMW R 80 G/S?
Und nun ist der Punkt erreicht, die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Kann die BMW R 12 G/S das Erbe der puristischen Urahnin R 80 G/S von 1980 antreten? Was das Gewicht, die Reisetauglichkeit und den Soziuskomfort betrifft, sicher nicht. Das ist der technischen Entwicklung und den Zeitumständen geschuldet. Der leichte Zweiventil-Boxer der R 80 G/S wäre heute nicht mehr zu homologieren und trotz simplen Aufbaus fertigungstechnisch viel zu teuer.
Außerdem kann BMW es sich heute leisten, Motorräder wie die R 12 G/S anzubieten, die relativ spitz auf einen Einsatzzweck zugeschnitten sind. 1980 ging es für BMW Motorrad um Gedeih oder Verderb, die R 80 G/S musste also breiter aufgestellt sein. In Sachen Fahrdynamik, Fahrwerksqualitäten, Fahrsicherheit und Fahrspaß, also den Kernkompetenzen jedes guten Motorrads, ist die neue G/S aber sehr wohl eine würdige Nachfolgerin der ersten G/S. Ab 16.990 – nicht D-Mark, sondern Euro.