Nicht erst seit Vorstellung der Multistrada 950 zeichnet sich ab, dass in Bologna neuerdings ein anderer Wind weht. Ob und wie stark dieser Wind aus Ingolstadt pfeift, darüber können wir bestenfalls gut informiert spekulieren. Was wir aber seit dem Top-Test der 950er wissen: Der jüngste Spross in Ducatis Multifunktionswerkzeug-Familie ist ein überaus gelungener Wurf. Überaus gelungen deshalb, weil sich in ihr, wie bei keiner Duc zuvor, Nutzwert, Alltagstauglichkeit und einfachste Fahrbarkeit mit einer wohldosierten Prise Bologneser Desmo-Pfiff zu einem hochgradig zugänglichen, ziemlich punktegierigen Gesamtpaket verdichten – weit diesseits der 15-Mille-Schallmauer. Wenn es Ihnen als alteingesessenem Ducatisto angesichts solch teutonisch-biederer Tugenden jetzt eiskalt den Nacken hinunterläuft, dann hilft vielleicht die folgende, stark verkürzte Gleichung aus dem Konsumkapitalismus-Proseminar: Unternehmen wollen Gewinn machen. Dafür brauchen sie Stückzahlen. Und wer Stückzahlen machen will, muss Krafträder bauen, die nicht nur Rennsportfreaks und Kunstliebhaber erreichen, sondern die breite Masse (kein Wortspiel!). Das gilt für alle, Konzerntochter oder nicht.
Wie also schlägt sich die neue Vernunft in Form der Multistrada 950 im Vergleich mit der nächstgrößeren, der Multistrada 1200 als Basisvariante? Zunächst übernimmt die „kleine“ 950er viele Baukasten-Komponenten von den größeren Schwestern. Chassis und Verkleidung gleichen sich in weiten Teilen, einmal abgesehen natürlich vom 19-Zoll-Vorderrad der 950er, ihrer aus der Enduro entliehenen Zweiarmschwinge und dem wunderbar kompakten Auspuff. Die aufrechte Ergonomie, als Fahrer gut ins eher schmale Motorrad integriert, am mittelhohen Lenker sehr langstreckentauglich und komfortabel aufgehoben hinter einer kleinen, aber wirkungsvollen Verkleidungsscheibe – das ist praktisch identisch. Beide Maschinen verfügen über eine voll einstellbare Kayaba-Gabel vorne (48 Millimeter Durchmesser, Druck- und Zugstufe der 950er nach Gabelholmen getrennt) und ein ebenfalls voll einstellbares Sachs-Federbein hinten (je mit Handrad); und diese Fahrwerkskomponenten arbeiten bei beiden gleichermaßen wertig: sämig sanft dämpfend, eher komfortbetont weich gefedert. Ebenfalls identisch ist die Bremshardware unten: 320er-Doppelscheibe und einteilige Brembo-Zangen am Vorderrad, welche bei der 1200er durch eine Radialpumpe, bei der 950er durch ein konventionelles Pendant unter Druck gesetzt werden – auch das schenkt sich nicht viel. Gleiches notieren wir im Übrigen über die Elektronikpakete – hier wie da vier programmierbare Fahrmodi, drei Mappings, drei ABS-Stufen und eine achtstufige Traktionskontrolle. Hier wie da ohne Schräglagensensorik, aber beiderseits akkurat appliziert und zeitgemäß.
Video zum Multistrada-Vergleichstest
Und da hat es sich auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Denn auf der Straße offenbaren die beiden Geschwister in ihrem Fahrverhalten, in ihrem Anspruch, grundverschiedene Charaktere. Das fängt an beim Motor, wo der 1200er ein Desmo-Feuerwerk von enormem Unterhaltungswert abfeuert, aber bisweilen etwas hektisch und schwer kontrollierbar daherkommt. Ganz unten steigt der große Testastretta kraftvoll ein, laboriert dann an einem deutlichen Drehmomenteinbruch im wichtigen Bereich zwischen 4000 und 6000 Touren, lässt deshalb für ein so mächtiges Aggregat ein wenig Souveränität vermissen. Ist dieser Hänger überwunden, hämmert der L-Twin dann wild und ungestüm mit brachialer Gewalt voran. Dieses „Erst zu wenig, dann zu viel“-Rodeo mildert die variable Ventilsteuerung DVT nicht, sie verstärkt es eher noch. Je nach Gasgriffstellung variiert das System per Nockenwellenverstellung die Steuerzeiten, sorgt damit zwar für einen bemerkenswert ruhigen Motorlauf bei ganz tiefen Drehzahlen, aber eben auch für ein verzögertes Ansprechen bei Kommando Volllast. Dieser Gummiband-Effekt und die etwas inhomogene Leistungskurve werden umso deutlicher im direkten Vergleich mit dem 937-Kubik-Twin der 950er, wie er aus der Hypermotard entliehen ist und in ganz ähnlicher Form auch in der neuen SuperSport Verwendung findet. Der kleine Testastretta bietet zwar obenheraus lange nicht die überwältigende Power des 12ers, leidet aber deutlich weniger unter einem Loch in der Mitte, hängt ohne DVT zudem deutlich schöner, direkter, wenngleich auch härter am Gas. Er hat schlicht die homogenere Leistungskurve, läuft für sich genommen ebenfalls sehr smooth und macht mit angenehm-sportlicher Drehfreude sein Leistungsmanko praktisch wett. Dank einer wesentlich kürzeren Gesamtübersetzung sowie einer Handvoll Kilo Mindergewicht zieht die 950er in der Praxis gut, in der MOTORRAD-Durchzugsmessung im letzten Gang sogar besser(!) durch als die 1200er. Das Zugkraftdiagramm auf der folgenden Seite veranschaulicht dies gut.
Noch erstaunlicher als das motorseitige Beinahe-Patt (die Multistrada 1200 gewinnt das Antriebskapitel dank besserer Beschleunigung und massiv überlegenen Topspeeds unterm Strich knapp) ist allerdings, wie viel ausgewogener, wie viel gelassener die 950er sich fahren lässt. Zwar beträgt die Gewichtsersparnis der wirklich nicht so kleinen Multistrada 950 mit 241 fahrfertigen Kilogramm gegenüber der großen Schwester gerade einmal sechs Kilo, mit ihrem 19-Zoll-Vorderrad, etwas längerem Radstand und deutlich flacherem Lenkkopfwinkel ist sie aber das sehr viel runder zu bewegende Kraftrad. Ruhiger, neutraler, vertrauenerweckender lenkt die 950er ein, zirkelt hinter dem größeren Rad wesentlich besonnener und damit nervenschonender. Egal wie knifflig die Radien, egal wie hoppelig der Asphalt, die 950er liegt einfach satt.
Im direkten Vergleich wirkt die 1200er beinahe wie eine viel zu groß geratene Supermoto, positiv wie negativ. Sie lenkt leichtfüßiger, zackiger ein, gibt sich handlicher, kurvengieriger. Was sie aber vermissen lässt, ist ein gerüttelt Maß an Stabilität. Etwas kippelig in der Kurvenmitte, verlangt sie nach ständiger Führung, wo die kleine Schwester ihrerseits führt. Wegen der unterschiedlichen Geometrie (beide Maschinen rollen auf dem ausgezeichneten Pirelli Scorpion Trail II) ist einfach immer mehr Bewegung im Motorrad; und der oben biestig anreißende Motor tut sein Übriges dazu. Die 1200er-Multistrada hurtig zu bewegen, ist eine echte Herausforderung und definitiv keine Sache für Einsteiger. Sie lässt einen dann richtig arbeiten, wohingegen ihre kleine Schwester alles tut, um es dem Fahrer so einfach wie möglich zu machen. Im Übrigen stellt sich die 950er auf der Bremse auch spürbar weniger auf und ihr Geradeauslauf ist besser: bolzstabil bis zur (freilich deutlich niedrigeren) Höchstgeschwindigkeit. Die 1200er liegt auf der Bahn jenseits der 200 eher nervös.
Beim Bummeln und Sonntagsausflug kann man diesen ungestümen Macho-Charakter lieben. Das angenehmere, ausgewogenere Reisemotorrad und das bessere 1000-Punkte-Motorrad ist allerdings klar die 950er-Multi. Diese Erkenntnis sollte nicht unbedingt verwundern, schließlich platzierte Ducati die 17-Zoll-Multistrada nie als Reiseenduro, nie als GS-Konkurrenz, sondern immer als potenten Langstrecken-Crossover. Die 950er vertritt da eben ein anderes Konzept. Im Kostenkapitel macht sie dann auch den Sieg klar: Zwar verbraucht die 950er mit durchschnittlich 4,9 Litern fast gleich viel wie die 1200er, die Inspektions- und Unterhaltskosten fallen allerdings wesentlich günstiger aus.
Zwei Ducatis wie Feuer und Flamme also. Einmal wild und ungezügelt, daran kann man sich auch verbrennen. Einmal zahmer, gemäßigter. Das Herz wärmen beide, aber Bratkartoffeln lassen sich auf kleiner Flamme eben besser zubereiten.
MOTORRAD-Testergebnis
1. Ducati Multistrada 950
Faustdicke Überraschung! Nicht in Einzeldisziplinen, sondern durch ihre unbedingte Ausgewogenheit sichert sich die gar nicht so kleine 950er den Sieg. Deutlich harmonischeres Handling, in der Realität nicht arg viel schwächer, riesiger Nutzwert. Vielleicht doch gar keine so große Überraschung?
2.Ducati Multistrada 1200
Ein fraglos tolles Motorrad. Aber der Drehmomenthänger, zweischneidiges DVT und gewöhnungsbedürftiges Schnellfahrhandling werfen sie objektiv hinter die kleine Schwester zurück. Subjektiv ist sie ganz großes Kino.