Es ist nicht einfach nur Neuland, das Harley-Davidson hier betritt. Es ist ein Haifischbecken: Nirgends wird so zornig aufgerüstet, nirgends steckt so viel Hightech drin wie im Reiseenduro-Segment. Gemessen an dieser Ausgangslage ist der optische Auftritt der Pan America lediglich konsequent: Das absolute Gesicht in der Menge, ein Statement auf Rädern von größtmöglichem Wiedererkennungswert: "Schau, Welt, da bin ich. Und ich bin ganz sicher keine weitere GS!"
Dabei wirkt die Harley-Davidson Pan America live und in Farbe weit weniger wuchtig als auf den Fotos. Sicher, man hat es, wie im Genre üblich, mit einem ausgewachsenen Ding zu tun. Aber es ist nicht aus dem Leim gegangen, wirkt unter dir nachgerade überschaubar. Zur Referenz: Der fahrende Autor misst 1,73 Meter, und fühlt sich gut aufgehoben. Platz ist reichlich, die Sitzhöhe (zwei Positionen) ist moderat.
Motor ist Breitband-Alleskönner
Nun ein großer Moment: Ein neuer Motor startet zum allerersten Mal. 1.252 Kubik misst der Twin, 60 Grad beträgt der Zylinderwinkel, 30 noch mal der Hubzapfenversatz, macht klanglich 90. Vier Ventile pro Zylinder, DOHC, Rollenschlepphebel, variable Ventilsteuerung an Ein- und Auslassnocken – nein, der "Revolution Max" ist eben kein typischer "Charaktermotor", kein schwungmassig-entspannter Seelenschüttler. Er ist stattdessen ein grundmoderner, wie sich zeigen wird, handfest performanter, unterm Strich mitten in die Klasse passender Breitband-Alleskönner. Er findet den guten Kompromiss zwischen Druck unten, Leistung oben, Laufkultur und durchaus vehementer Drehfreude. Die variable Ventilsteuerung hilft sicherlich, das nutzbare Drehzahlband recht breit zu gestalten, Gasbefehle werden motiviert umgesetzt. Kritik? Gröbste Behandlung provoziert Nachschieben. Ebenfalls unter dem Vorbehalt des ersten Eindrucks: Der 1250er wird sich irgendwo zwischen dem extrem auf Durchzug ausgelegten ShiftCam-Boxer der BMW und dem extrem auf Leistung ausgelegten Granturismo-V4 der Ducati einordnen. Sacken lassen: Der Revolution Max ist auf Augenhöhe, stellt den mit großem Abstand stärksten Motor dar, den Harley-Davidson je gebaut hat. Klanglich ist vor allem der Ventiltrieb recht präsent, surrt irgendwo auch eine Pumpe. Das Getriebe schaltet zeitgenössisch akkurat, die Kupplung verlangt keine Pranke und versteht sich auf Antihopping.

Pan America stimmig ausbalanciert
Ebenfalls aus dem Stand konkurrenzfähig arbeitet das semiaktive Fahrwerk der hier gefahrenen "Special"-Variante der Harley-Davidson Pan America. Auf den ersten Metern prägt geringere Rahmensteifigkeit (Motor tragend), spürbarer Flex um den Lenkkopf das Fahrgefühl. Das fällt eher bei langsamen Manövern auf, schadet dem Fahrverhalten insgesamt aber in keiner Weise. Das Handling ist nicht bloß einwandfrei, sondern tadellos. Nach Ende eines von zahlreichen Wetterphänomenen geprägten Fahrtages bleibt vor allem der Eindruck, wie stimmig ausbalanciert die Harley-Davidson Pan America im Ganzen wirkt.
Fahrdynamisch detoniert ein Klischee
Der Gesamtschwerpunkt ist gut getroffen, die Harley-Davidson Pan America bewegt sich auf eine gefällige, gelenkige Art. Das Lenkverhalten erfolgt über weite Bereiche neutral, man findet gute Grundstabilität, es sperrt nichts, die Schräglagenfreiheit reicht voll. Kurz, Harley-Davidsons Reiseenduro fährt locker dorthin, wo sie hinfahren soll. Gewiss, das letzte Wort in Sachen Präzision und Feedback werden andere haben, doch das Gebotene reicht vollkommen. Diese positiven Grundattribute finden sich in allen Fahrmodi, nur unterschiedlich gefärbt: "Landstraße" heißt entspannte Gasannahme und guter Komfort. Mehr als eine Randnotiz: Die Federelemente von Showa arbeiten auch bei Sub-100-Kilo-Besatzung ansprechend. "Sport" macht bierernst. Die Gasannahme wird bissig, die Dämpfer sehr straff, Bewegung ist wirkungsvoll unterdrückt. Wer nun Gänge stehen lässt und dem leider nur belanglosen Michelin Scorcher Adventure Reifen Vertrauen schenkt, wird mit einem erstaunlichen Fahrerlebnis belohnt: Wenn’s denn sein muss, lassen sich die mit etwa 260 Kilo bestens verfasste Harley-Davidson Pan America äußerst (!) hurtig ums Eck biegen. Fahrdynamisch detoniert damit ein Klischee. Es ist eindrucksvoll.
6,8-Zoll-Touch-Display und Tempomat

Weniger überraschend, was die Amis beim Heimspiel Infotainment auffahren: Das 6,8-Zoll-Touch-Display wirkt ausgesprochen edel, kann alles, was man braucht, Kartennavigation per App beispielsweise. Und natürlich viel mehr. Die Bedienlogik geht auf, die Taster sind okay, Essenzielles wie Tempomat, Griffheizung und TC-Off sind direkt belegt. Manche der nebensächlichen Anzeigen sind viel zu klein.
Autobahn mit der Pan America
Was sonst von Belang und an einem einzelnen Tag zu überprüfen wäre? Den gern gemachten Fehler, zu viel Windschild zu verbauen, vermeidet Harley, die Verstellmöglichkeit während der Fahrt per Pistolengriff funktioniert. Den Windschutz konnten wir auf einer schnellen Autobahnetappe antesten, er ist angemessen – allerdings flattert das verstrebungslose Plexiglas ab 160 km/h gehörig. Beim Geradeauslauf gibt sich die Harley-Davidson Pan America keine Blöße, wie auch in Sachen Bremse: Brembo oben (Radialpumpe) und Brembo unten (Vierkolben-Festsättel), es verzögert kräftig. Auffällig ist die extrem gute Modulierbarkeit des Systems bei entspannter Fahrt, bei unentspannter Fahrt braucht’s hintenraus eine zupackende Rechte. Dennoch: auch hier modern.

Mit der Reiseenduro in den Steinbruch
Schließlich verirrt man sich in einen stillgelegten Steinbruch. Um jenen Schabernack zu treiben, den wir mit dem eigenen Material nie wagen würden, und eine Reiseenduro als Enduro misszuverstehen. Urteil? Mit richtigem Schuhwerk geht einiges, um nicht zu sagen weit mehr, als vonnöten. Zwar sind die Offroad-Fahrhilfen (hier zwei Modi) der einzige Punkt, bei dem die Pan America den Klassenstandard nicht ganz erreicht. Doch auch und besonders auf Schotter profitiert das Motorrad von der insgesamt treffend austarierten Balance. Sie nutzt ihre 190 Millimeter Federweg, geht sanft, aber bestimmt ans Gas, hat griffige Rasten und als "Special" Lenkungsdämpfer sowie stabilen Motorschutz. Ob die Pan America eine echte Harley ist? Urteile jeder für sich. Dass sie eine echte Reiseenduro ist, hat sie bewiesen.
Preis Harley-Davidson Pan America
Die Harley-Davidson Pan America wird in der Standard-Variante für knapp 16.000 Euro zu haben sein und in der Special-Ausführung gut 18.000 Euro kosten.
Fazit
Funktional durchweg kompetent, mit erstaunlicher Fahrdynamik versehen, sprengt die Harley-Davidson Pan America Klischees. Hinter dem herrlich selbstbewussten Gesicht steckt echte Kenne.