Eins gleich vorneweg: Über Design, Form und Farbe der Varadero soll hier nicht philosophiert werden. Was zählt, sind die Fakten und die, das auch vorneweg, sprechen nach den ersten Fahreindrücken über rund 200 Kilometer ganz klar für das V2-Konzept von Honda. Angefangen beim Motor, der seine Muskeln über ein breitgewalztes Band spielen läßt und dabei nicht verheimlicht, daß sich zwei massige Zylinder akustisch wie schwingungstechnisch vom Quadrophonie-Gesäusel abheben.
Mechanisch-akustischer Vortrag: polternd bis kernig, Unterhaltungswert: sehr hoch, Fahrleistungen: beeindruckend. Nicht weil sich die Frage stellt, ob 95 PS zum Touren zwingend notwendig sind, sondern weil das Herz hüpft, wenn der Koloß wie von der Tarantel gestochen von einer Kehre zur nächsten schnalzt. Und weil dem Selbstversuch auf losem Schotter und Geröll die Kenntnis erwächst, daß mit dem kraftvollen Schub des leicht modifizierten VTR 1000-Twins so manch knifflige Passage regelrecht überflogen wird.
Die nächste Überraschung: die CBS-Kombibremse, bei der mit dem Fußbremshebel stets beide Räder verzögert werden, ist so ausgelegt, daß auch bei provozierten Vollbremsungen auf Schotter und nassem Laub zuerst das Hinterrad blockiert. Eine Sturzgefahr übers Vorderrad wird somit minimiert, die tatsächliche Bremsleistung verbessert.
Keine Sorge, den Test auf der Cross-Piste haben wir uns erspart, trotzdem ist es nett zu wissen, daß sich die rund 240 Kilogramm schwere Varadero mit leichter Hand durch sanftes Gelände bugsieren läßt. Mit ein Grund für die Gutmütigkeit: der kompakte und relativ weit unten angelegte Schwerpunkt in Verbindung mit dem flach gehaltenen Gitterrohr-Rahmen, der den Motor mitsamt Schwingenlagerung als tragendes Element integriert.
Sollte das Reiseschiff im unruhigen Fahrwasser dennoch kentern, sind Kampfspuren am seitlichen Verkleidungsteil leider unvermeidlich. Hier fehlen zweifelsohne die stabilen Protektoren der ST 1100. Peinliche Ausfälle drohen auch von den direkt an den spröden Alu-Gußplatten angelenkten Fußrasten. Zur praxisgerechten Schadensbegrenzung gehören solche exponierten Teile aus zähem Stahl gefertigt und verschraubt. Und noch ein Ärgernis: Das Hinterrad baggert jeden Menge Schmodder ungehindert auf Schwinge, Federsystem und Kette. Für eine wirksame Abdeckung zwischen Kette und Reifen wäre ausreichend Platz vorhanden und ein elastischer Spritzschutz kostet nicht die Welt.
Zurück auf Asphalt, festigt sich die Erkenntnis, daß kurvige Landstraßen mit der neuen Varadero zum reinsten Vergnügen werden. Ein komfortables Doppelsitzkissen vor dem breitem Lenker, darunter das ausreichend straffe, direkte und handliche Fahrwerk mit moderater Michelin T 66-Bereifung und, wie schon erwähnt, ein amüsanter Motor mit solider Schubkraft und Drehfreude. Beste Voraussetzungen für den Fernreisenden, seine Route getrost durchs kurvigste Hinterland zu planen.
Etwas nervig bei hohem Tempo: die zappeligen Turbulenzen hinter der weit vorn angebrachten Verkleidungsscheibe. Die schützt zwar ordentlich vor Wind und Wetter, hat aber die umstrittene Eigenschaft, Fahrer und Passagier in ihrem Windschatten regelrecht anzusaugen, ähnlich wie auf der ST 1100 und anderen Supertourern.
Ein anschaulicher Vergleich des Big-Twin-Konzepts zu aktuellen Maschinen fällt nicht leicht. Grobe Richtung: irgendwo zwischen BMW R 1100 GS und Africa Twin. Womit die Marketing-Strategen mit der gewünschten Plazierung der Varadero nicht ganz daneben liegen. Warum die neue Honda aber ohne Kataysator-Technik ins neue Jahr startet, ist nicht nachzuvollziehen, zumal die BMW-Klientel - und auf diese zielt die Varadero - diesbezüglich mehr sensibiliert ist als die Kundschaft japanischer Hersteller.
Unklar ist auch noch, ob die Honda-Ingenieure dem aus der VTR 1000 entlehnten V2 seine bis dato ungezügelten Trinksitten abgewöhnen konnten. Zumal die riesige Frontfläche mit dem auffallend großen Kühlluftschacht keine Bestwerte in Sachen Aerodynamik in Aussicht stellen. Egal wie die Sache ausgeht, mit 25 Litern Tankinhalt ist kein Stop-and-go-Rhythmus zu befürchten.
Exakte Antworten auf alle noch offenen Fragen sind fällig, sobald die Varadero nach der ersten ausführlichen Test-Reise durch dick und dünn vor Anker geht. Sie wissen ja: »wenn einer eine Reise tut ...« .