Das geistige Auge sah es bildlich vor sich, wie die Off Road-Fans kollektiv auf die Knie fielen, sich dankend in Richtung Fernost verneigten und vor Rührung nur noch ein Wort über die Lippen brachten: »Endlich. « Beinahe ein Jahrzehnt hatten sie auf diesen Moment gewartet, immer wieder Gerüchten geglaubt und immer wieder dieselbe Enttäuschung erlebt. Doch nun ist sie da - die XR 400 R, die neue sportorientierte Viertakt-Enduro von Honda. Das erste Rendezvous. Schrecksekunde. Die alte XR 600, nur mit weniger Hubraum? Doch die nächsten Blicke beruhigen: Sie ist neu. Von Grund auf. Trotz der trügerisch traditionellen Optik. Wo denn? Überall. Der Rahmen: abnehmbares Heckteil, ultrakurzer Radstand. Der Motor: 397 Kubikzentimeter, 35 PS, fünf Zentimeter kürzer, zehn Zentimeter schmaler und sieben Kilogramm leichter als der 600er Eintopf. Das Fahrwerk: Alu-Schwinge, Showa-Federbein mit Ausgleichsbehälter, 43er Vorderradgabel mit aufwendiger Cartridge-Dämpfung von Kayaba, Bremsanlagen direkt aus dem Ausstattungsregal der Honda-Zweitakt-Crosser.
Alles zusammen: schmal, kurz und mit 119 Kilogramm mindestens fünf Kilo leichter als die meisten viertaktenden Euro-Sportler sowie 22 Pfund weniger als die etwas dickliche ältere Schwester. Klingt gut. Und fährt auch so? Ab auf die Moto Cross-Piste. Zäher Sand, garstige Bodenwellen und Sprünge mit steilen Absprungrampen. Nicht unbedingt das Traumterrain für freiheitssuchende Enduristen - aber perfekt, um erstmal die Grenzen der Neuen auszuloten. Auf der Strecke die große Überraschung. Die kleine XR steckt alles weg. Egal wie schnell die Debütantin durch die Wellen geprügelt oder in die Absprungrampen gestaucht wird. Durchschlagen - Fehlanzeige. Und dies, obwohl Gabel und Federbein auch auf die kleinen Kanten sauber und komfortabel ansprechen. Beeindruckend. Oder in engen Kehren. Anbremsen, abwinkeln, aufrichten, Gaaas.
Ein 100-Kilo-Crosser könnt´s nicht viel besser. Warum auch? Tank und Sitzbank sind kaum ausladender als bei der Zweitakt-Verwandtschaft. Die von der 600er unsäglich bekannte breite Heckpartie ist erfreulich erschlankt. Aber gemach, kein Honda-Werbetext bitte. In Ordnung. 119 Kilogramm sind trotz allem kein Pappenstiel. Beim Springen und Anbremsen ist die Masse deutlich zu spüren und verlangt nach entschlossen führender Hand. Gemächlicher geht´s beim Beschleunigen zur Sache. 35 PS machen aus der XR 400 keinen Dragster. KTMs, Huskies und Husabergs sind schnell außer Sichtweite - auf der Cross-Piste. Über enges, holpriges und steiniges Enduro-Terrain spielt die XR andere Qualitäten aus. Ihr weicher, schon aus niedrigen Drehzahlen sauber anschiebender Motor setzt jedes PS in Traktion um. Das flinke Handling erledigt den Rest, um die Konkurrenz gehörig ins Schwitzen zu bringen. Übrigens: Selbst Vollgas-Passagen bringen das extrem kurze Fahrwerk der kleinen Honda nicht in Unruhe - erstaunlich.
Zu schön, um wahr zu sein? Ja, denn der trendige, kleinvolumige Viertakter muß teuer erkauft werden. Knapp 13 000 Mark, über 3000 Mark mehr als die XR 600, dämpfen Freude und Marktchancen empfindlich. Zumal die Richter über die neuen Abgas- und Lärmgrenzwerte der letztlich zulassungsfähigen Version der XR 400 den Kragen kräftig zudrehen werden. Mit einer Reduzierblende im Ansaugkanal, die den Gasstrom aus dem 36er Vergaser durch kümmerliche 24 Millimeter zwängt, und einem Restriktor im Schalldämpfer wird der Off Road-Sproß auf 25 PS Motorleistung und 79 Dezibel Lautstärke heruntergeknebelt. Doch wie heißt es so schön: Wo kein Kläger, da kein Richter. Sie wissen schon.