Stark sieht Cagivas Funbike aus. Doch mit 34 PS scheint die Canyon 600 für einen großen Single etwas schwach motorisiert zu sein.
Stark sieht Cagivas Funbike aus. Doch mit 34 PS scheint die Canyon 600 für einen großen Single etwas schwach motorisiert zu sein.
Eine Mischung aus Ducati 916 und einem langbeinigen Insekt: Schöner kann ein Funbike kaum aussehen. Darüber waren sich nicht nur alle Journalisten bei der ersten Präsentation in Varese im Herbst 1995 einig, sondern auch alle Redaktionsmitglieder, als die Canyon in Stuttgart eintraf. Eine Frontverkleidung mit Doppelscheinwerfern, integrierten Blinkern, zwei Endschalldämpfer, symmetrisch unter der Heckpartie plaziert - wieder einmal ein typisch italienisches Design.
Nun ist ein gelungenes Äußeres nicht alles, was zählt. Beim Blick aufs technische Datenblatt wird die Begeisterung zunächst gedämpft. Das gleiche alte, kurzhubige, vierventilige Triebwerk, wie es schon in der Enduro W 16 und dem Allround-Bike River mit 601 Kubikzentimeter Hubraum und maximal 34 PS unspektakulär seine Arbeit tat. Schlechte Aussichten für zügiges Vorwärtskommen.
Doch dann ein kleiner Lichtblick. Geänderte Nockenwellen verpassen dem luftgekühlten Single der Canyon ein höheres Drehmoment: 50 statt 45 Newtonmeter, und das bei 250/min niedrigerer Drehzahl. Dafür rotiert der Motor für seine Spitzenleistung 1000 Touren mehr als zuvor. Das läßt auf eine freundlichere Charakteristik hoffen.In der Tat geht der Motor in Verbindung mit einer etwas kürzeren Gesamtübersetzung nun lebendiger, drehfreudiger zur Sache. In höheren Drehzahlregionen entwickelt er seine Leistung nicht mehr so träge wie zuvor. Zwischen 3000 und 6500/min steigt die Leistung kontinuierlich an. Erst darüber hinaus verlangt der Single nach einer höheren Gangstufe.
Eines allerdings nimmt der Motor seinem Fahrer übel: schaltfaule, niedertourige Fahrweise. Unter 3000 Touren ist die Canyon schwer fahrbar. Da ruckelt der Motor und peitscht die Antriebskette, daß jeder sofort einen niedrigeren Gang sucht.
Leistungs- wie Fahrleistungsmessungen bestätigen den subjektiv positiven Eindruck. 37 PS attestiert der Bosch-Prüfstand der Canyon, dazu eine füllige Leistungskurve und einen günstigen Drehmomentverlauf. Überraschung bei den Fahrleistungen: Satte 157 km/h ist die Canyon schnell und damit auf dem Niveau ungedrosselter, etwa zehn PS stärkerer Enduro- und Funbike-Einzylinder. Und im Durchzugsvermögen aus dem letzten Gang heraus erzielt sie ebenfalls Werte, die einer Yamaha XT 600 E oder Suzuki DR 650 SE durchaus ebenbürtig sind: Von 60 auf 100 km/h in 8,3 Sekunden, auf 120 km/h in 13,4 Sekunden, da vergißt man schnell dieangegebene Leistung. Lediglich in der Disziplin Beschleunigung kann die Canyon nicht ganz mit den anderen, weit über 40 PS starken Singles konkurrieren.
Kurzum: Die Befürchtung, mit 34 PS nur mäßig motorisiert zu sein, ist bald verflogen. Auch deshalb, weil sich die Canyon auf kurvenreichen Straßen ganz in ihrem Element fühlt. Die aufrechte Sitzposition dicht hinter dem breiten Enduro-Lenker und nicht zuletzt das kleine Vorderrad sorgen dafür, daß schnelle Richtungswechsel zum Kinderspiel werden. Allerdings hat das 100/90-19 Zoll-Vorderrad in Verbindung mit der 140/80-17 Zoll breiten Walze hinten auch so seine Tücken. Die Tendenz zur Spurrillenempfindlichkeit und bisweilen kippeliges Fahrverhalten rütteln etwas an der Zielgenauigkeit der Canyon, gerade in engen Kurven. Keinerlei Schwächen leistet sie sich indes in der Federungsabstimmung.
Das Boge-Federbein zeigt sich nicht nur allen Beladungszuständen gewachsen, sondern hält stets sicher und komfortabel Bodenkontakt. Die Telegabel von Marzocchi mit massiven Standrohrdurchmessern von 45 Millimetern, im ersten Fahrbericht (MOTORRAD 24/1995) in der Abstimmung noch als zu weich kritisiert, kann zumindest in diesem Testmotorrad überzeugen. Stets sensibel genug ansprechend, läßt sie sich auch von groben Bodenunebenheiten nicht beeindrucken. Daß sie bei heftigen Bremsmanövern einen großen Teil ihres Federwegs ohne durchzuschlagen beansprucht, hat sie eher der kräftigen, leicht zu bedienenden und gut dosierbaren vorderen Scheibenbremse von Nissin zu verdanken. Um so erstaunlicher ist es allerdings, daß sich die Telegabel bei so hoher, einseitiger Beanspruchung nur unwesentlich und deshalb keineswegs störend verwindet.
Mit 185 Kilogramm Gewicht ist die Canyon zwar zehn Kilogramm leichter als ein Funbike wie die BMW F 650, aber noch längst kein Leichtgewicht. Erschwerend für den Umgang mit der Cagiva kommt für kleinere Leute ihre Sitzhöhe von 860 Millimetern hinzu, und der große Wendekreis von knapp fünf Metern kann beim Rangieren bisweilen lästig werden. Außerdem kann die zunächst angenehme breite und dick gepolsterte Sitzfläche für langes Touren nicht zufriedenstellen. Nach ein paar Stunden Fahrzeit drückt sich die Polsterung durch und sorgt für Beschwerden. Besonderes Lob geht dagegen an die Lichtanlage. Der Doppelscheinwerfer sieht nicht nur schön aus, er spendet auch gutes Abblend- und noch viel besseres Fernlicht.
Ansonsten ist die Ausstattung der Canyon nur Durchschnitt. Keine verstellbaren Handhebel, kein Hauptständer, der zur leichteren Pflege der Kette sehr nützlich wäre, kein Gepäckträger, obwohl er ursprünglich als Serienausstattung angekündigt wurde, kein Reservehahn. Zwar gibt es im Cockpit nebst Tachometer und Drehzahlmesser eine Tankuhr und eine Benzinleuchte, doch ganz im Gegensatz zum Geschwindigkeitsmesser geht die Benzinanzeige sehr ungenau. Wenn die Nadel auf den roten Bereich trifft, bunkert der 20 Liter fassende Kunststofftank noch mehr als zehn Liter. Leuchtet die gelbe Warnleuchte, bleibt ein Rest von sechs Litern, um sicher die nächste Tankstelle aufzusuchen.
Hier zeigt sich die Canyon nicht von ihrer besten Seite. Im Schnitt zwischen fünf und sechs Liter bleifreier Superkraftstoff auf 100 Kilometer sind zuviel, da trösten auch die zwei ungeregelten Katalysatoren in den Endschalldämpfern nicht.
Akzeptabel ist dagegen der Preis. 9990 Mark inklusive aller Nebenkosten liegen eher unter dem Durchschnitt, was ein Funbike heute kostet. Auch wenn die Canyon nur 34 PS stark ist. Doch ihr Auftritt ist weit stärker, als es die Leistung vermuten läßt.