Test KTM 620 LSE
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Weg vom harten Sport-Image, hin zum alltagstauglichen Bike. Beim jüngsten LC4-Sproß, der 620 LSE, reicht ein Knopfdruck, und das Vergnügen kann beginnen.

Gelobt sei, was hart macht. Diesem heeren Grundsatz getreu, bauen die KTM-Mannen im österreichischen Mattinghofen seit nunmehr zehn Jahren das, was sie als echte und, in ihren Augen, einzige Hard-Enduro der Welt verkaufen. LC4 - die Zahlenkombination für die ganz harten unter den Stollenfreaks. Freilich gibt es in der reichhaltigen LC4-Modellpalete nicht nur Wettbewerbsmaschinen wie die Competition und die Super Competition. Auch an die »Normalos« hat man gedacht und eine entschärfte Variante mit dem sinnigen Beinamen Enduro angeboten. Nur leider orientierten sich bei der Entwicklung dieses Alltagsmotorrads die Herren Ingenieure ebenfalls an den Gardemassen und dem Fahrkönnen eines Heinz Kinigardners.
1997 hat KTM auch ein Herz für weniger extreme Menschen. Mit der LC4 620 Enduro LSE bringen die Österreicher endlich ein Motorrad auf den Markt, das auch für Enduro-Einsteiger interessant ist. Interessant, weil man beim Aufsitzen nicht gegen Höhenangst ankämpfen muß und weil die Startprozedur nicht schon den Großteil der eigenen Kondition verbraucht. LSE steht für Low Seat und E-Starter - für die kleinen Dinge, die das Leben einfacher machen.
Um satte 70 Millimeter wurde der Arbeitsweg der stabilen Upside-down-Gabel auf immer noch reichliche 230 Millimeter gekürzt und auch der Hub am Federbein wurde um 50 auf 270 Millimeter zurechtgestutzt. In Verbindung mit den kleineren Rädern (vorn 19 statt 21, hinten 17 statt 18 Zoll) wirkt diese Beschneidung Wunder. Kein Problem mehr, selbst für die kürzesten Beine, den sicheren Bodenkontakt herzustellen, rangiert sich die LSE wie ein ganz normales Motorrad aus der engen Parklücke.
Ein kurzer Knopfdruck genügt, um den nervösen Einzylinder zum Leben zu erwecken. Wobei auch bei der LSE ein gewisses Feingefühl mit dem Umgang des Chokehebels gefragt ist. In der Basis unterscheidet sich der LSE-Antrieb nämlich nicht von dem anderer LC4-Modelle. Aus 609 Kubikzentimeter Hubraum preßt der wassergekühlte Single standesgemäße 52 PS auf den MOTORRAD-Prüfstand, und auch das hart, aber präzise zu schaltende Fünfganggetriebe entspricht dem üblichen KTM-Standard der bekannten Enduro-Versionen.
Selbst mit dem nach wie vor montierten Kickstarter, der aufgrund der Änderungen in eine praxisorientierte Höhe rückte, ist das Anlassen kein Problem mehr. Ohne die Gefahr, sich das Hüftgelenk auszukugeln, läßt sich die Test-LSE im Zweifelsfalle auch vom größten Weichei spätestens auf den zweiten Tritt starten.
Einmal in Fahrt, zeigt das KTM-Triebwerk sich von seiner besten Seite. Hart, aber herzlich agierend, macht es aus seiner sportlichen Abstammung keinen Hehl und präsentiert sich dank der minimalen Schwungmasse der Kurbelwelle in freudig agiler Form. Ohne große Verzögerung reagiert der Eintopf auf jedes Zucken der Gashand. Über die Vibrationen, die der mit einer Ausgleichswelle gesegnete Motor von sich gibt, sei an dieser Stelle nur so viel gesagt: Es bedarf schon einer gehörig dicken Hornhaut, um diese zu ignorieren. Obgleich die gummibesetzten Fußrasten ihr Bestes tun, jede Art unangenehmer Schwingungen zu unterdrücken. Das Märchen von der kompromißlosen Sportlichkeit der KTM-Triebwerke kann an dieser Stelle in einem weiteren Halbsatz berichtigt werden: Selbst ein in den Augen überzeugter KTM-Fahrer müdes BMW F650-Aggregat läßt die LC4 trotz 40 Kilogramm Gewichtsvorteil sowohl in der Beschleunigung als auch im Durchzug recht durchschnittlich aussehen.
Weil KTM-Fahrern aber noch nie mit rationalen Argumenten beizukommen war, konzentriert sich des Testers Augenmerk mehr auf den Spaßfaktor. Und der ist bei der niedrigen LSE nicht zu unterschätzen. Unglaublich agil gibt sich der Flachmann im öffentlichen Straßenverkehr. Durch den niedrigen Schwerpunkt gehen selbst Wendemanöver auf engstem Raum locker und souverän von der Hand. Ein plötzliches Absterben des Motors bei niedriger Drehzahl verliert dank E-Starter jeglichen Schrecken, und die straßentaugliche Pirelli MT 60 Bereifung trägt den Rest für ein sicheres Wohlbefinden im Alltag bei.
Wer glaubt, daß diese kastrierte KTM nur noch verweichlichte Warmduscher über asphaltierte Straßen trägt, der irrt gewaltig. Auch im leichten bis mittleren Gelände birgt diese tiefergelegte LC4-Variante jede Menge Vorteile. Ob langsame Trial-Sektionen über unwegsame Felspassagen oder Vollgasetappen auf holprigen Schotterpisten - kein Problem. Die voll einstellbaren und extrem weich abgestimmten Federelemente stecken alles weg, was dem durchschnittlichen Enduro-Fahrer das Leben lebenswert macht. Und sollte dabei der Motor in einer kniffligen Bergaufpassage aufgrund der hakeligen Kupplung wie gewohnt wieder einmal absterben, gilt auch hier - Knopfdruck genügt.
Luxus hat seinen Preis. 13 080 Mark kostet die Neue. Dafür bekommt man aber nicht nur einen E-Starter, sondern ein tiptop verarbeitetes Fahrzeug. Stabiler Stahlrahmen mit Alu-Schwinge, hochwertige White Power-Federelemente, eine endlich überzeugende 300er Scheibenbremse im Vorderrad und jede Menge an blitzsauberen und praktischen Detaillösungen. Vom Luftfilterwechsel bis zum Motorausbau, alles wirkt durchdacht und tausendfach erprobt. Und zum guten Schluß gibt es noch ein ganz besonderes Häppchen Vernunft obendrauf. Alle Enduro-Modelle mit E-Starter sind serienmäßig mit einem Katalysator und einem Sekundärluftsystem ausgerüstet. So muß eine Alltags-Enduro aussehen, dann klappt’s auch mit den Japanern.

Unsere Highlights

Fazit - KTM 620 LC 4 LSE (T)

Na bitte, es geht ja doch. Ohne ihr Gesicht zu verlieren, schafft die LSE den schwierigen Spagat zwischen sportlicher Hard-Enduro und komfortablem Alltagsgerät. Die niedrigere Sitzhöhe überzeugt dabei nicht nur die Kurzbeinigen in der Redaktion. Deutlich agiler und sicherer lassen sich die Schwierigkeiten im Enduro-Alltag bewältigen, und auch auf der Landstaße wirkt die KTM nicht mehr wie ein Fremdkörper, sondern fühlt sich pudelwohl. Nur die Trinkgewohnheiten der LSE, da liegt noch was im argen. Ein 50-PS-Motor, der sich bei 130 km/h sage und schreibe 9,3 Liter Sprit reinzieht, das darf nicht sein. Unter diesen Umständen erscheint selbst der serienmäßige Kat ein wenig lächerlich.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023