
Zunächst einmal gelingt es der Tiger nicht nur, ihren Charakter, sondern auch ihre Herkunft zu verschleiern, denn man muss schon sehr genau hinschauen, um in ihr keine BMW F 800 GS zu sehen. Womit schon mal die Richtung vorgegeben wäre: Freuden spendendes Universalgenie.
Beim Druck aufs Knöpfchen am rechten Ende des breiten, konifizierten Rohrlenkers wird dieser Eindruck unter-strichen. So wie es in der Musikszene berechtigterweise heißt: Only Dylan sings Dylan like Dylan, muss man bestätigen, only a triple sounds like a triple. Allein dieses rotzige, kehlige Knurren, das sich bei höheren Drehzahlen in Richtung Kreissäge verändert, ist für manchen -Piloten den Kauf wert. Musikalisches -Talent ist also vorhanden. Doch wenn es nur darum ginge, das könnte eine Street Triple noch besser. Denn die dreht deutlich höher, drückt bei 11800/min 108 PS und bei 10100/min 69 Nm auf die Rolle. Die Tiger belässt es bei 93 PS bei moderaten 9800/min, kontert aber mit 75 Nm, die schon bei 7700/min anliegen.
Der Grund dieser fürs Landstraßen-cruisen besser geeigneten Charakteristik der Tiger liegt in der massiven Hubraumaufstockung. Bei unveränderter Bohrung wuchs der Hub von 52,3 Millimetern um 9,6 Millimeter auf deren 61,9. Zusammen mit Modifikationen am Zylinderkopf sowie eines angepassten Mappings sorgt das Hubraumplus für lehrbuch-artige Leistungs- und Drehmomentkurven. Kleines Schmankerl am Rande: -Einer der Programmierer, offensichtlich italienischer Herkunft, hat ins Mapping die Fiat 127-Sound-App eingeschmuggelt, anders lässt sich das herrliche Gespratzel und Gesprotzel im Schiebebetrieb aus dem Edelstahlauspuff im Euro-3-Zeitalter nicht erklären.
Im Gegensatz zu den 1050er-Triples lässt sich die sechsgängige Schaltbox in beiden Richtungen leicht und exakt bedienen. Die oft bemängelte Knochigkeit fehlt. Das ist gut so, denn bei zügiger Gangart müssen desöfteren die Zahnradpaarungen neu sortiert werden. Ein Tribut an die recht lange Gesamtübersetzung und die gebremste Drehfreude im oberen Drehzahldrittel. Dafür läuft der Triple ohne nervige Vibrationen, geht sanft ans Gas und hält sich mit einem Testverbrauch von 5,3 Litern vornehm zurück. In Kombination mit dem 19-Liter-Tank lässt sich die kleine Tiger ganz schön lang reiten. Das erfreut nicht nur vernunftorientierte Zeitgenossen.
Ein Sozius fährt auch gerne mit, denn beide Plätze bieten Europäern hinreichend Platz, wobei der Hintermann aber beim Bremsen ständig nach vorne rutscht und zudem über harte Kanten im Polster klagt. Dass Zweimannbetrieb nicht ganz vorne im Lastenheft stand, merkt man auch daran, dass selbst bei voll vorgespanntem Federbein - übrigens die einzige Einstell-Möglichkeit des Fahrwerks überhaupt - die Tiger links herum recht früh und unsanft mit dem Seitenständer samt dazu gehörigem Rahmenausleger aufsetzt. Wenn es ganz dumm läuft, wird sogar der Seitenständer-Schalter betätigt und der Motor geht kurz aus. Hier -besteht dringender Handlungsbedarf, -zumal für diesen Effekt weder eine führerschein- noch lebensverneinende Fahrweise erforderlich ist. Im Single--Betrieb ist das Problem naturgemäß nicht so groß, aus der Welt ist es aber nicht.
Bis es jedoch soweit ist, faucht sich das Tigerlein beschwingt und präzise von -Radius zu Radius und der Dompteur -hätte nichts zu klagen, wenn er sich nicht auf die bei der Fotoproduktion gleichfalls anwesende Honda Crossrunner gesetzt hätte. Die deckt ja ebenso wie die Triumph das „irgendwie-so-adventure-crossover-mäßige“ Marktsegment ab. Trotz deutlich breiterer Reifen zeigt sie der Engländerin in puncto Handlichkeit und Lenkpräzision, wo der Hammer hängt. Ebenso in Sachen Bremsfeeling. Nicht, dass die Tiger ihre Sache schlecht macht, nein, das für 600 Euro erhältliche ABS arbeitet ebenso unauffällig wie gut. Es gibt weder pulsierende -Hebel noch aufsteigende Hinterräder noch -unge bührlich lange Regelintervalle auf holprigem Geläuf. Aber die Bremse mit ihren billigen Doppelkolben-Schwimmsätteln vorne fühlt sich einfach stumpf an. Sportlich ist definitiv anders.
Auch fahrwerksmäßig ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Wie bereits erwähnt, erschöpfen sich die -Setup-Möglichkeiten im Einstellen der hinteren Federbasis. Die recht straffe Abstimmung ist für den zügigen Ritt über drittklassige Landstraßen gemacht, im Dümpel-Modus, der sich ja nicht immer vermeiden lässt, sprechen Gabel und Federbein eher unwillig an, was für ständige Nickbewegungen sorgt. Ein kleines Zicklein steckt also auch in der Tiger Ebenfalls für Nicken, in diesem Fall zustimmendes, sorgt das nicht verstell-bare Windschild. Es nimmt den Druck vom Oberkörper, nervt nicht mit ungebührlicher Lautstärke und lässt auch bei hohem Tempo das Visier in der untersten Stufe offen. Der Pragmatiker erfreut sich an den einstellbaren Handhebeln, dem gut ausgestatteten Cockpit, dem nur ein Außenthermometer fehlt und, ach ja der Schaltblitz aus der Street Triple wäre auch nett. Ebenso praktisch: die helle Straßenbeleuchtung und die abgewinkelten Ventile in den Gussrädern. Er fragt sich aber auch, warum sowohl Rahmenheck als auch Soziusrastenausleger verschweißt statt verschraubt sind, warum sich am Gepäckträger keine Gurte durchfädeln lassen und wo der Hauptständer bleibt? Den immerhin gibt’s für 199 Euro Aufpreis.
Am Ende eines langen Tages kommt man schließlich hinter das Geheimnis der Tiger. Für Menschen, die gerne Strecke machen, ist sie die gute Freundin für alle Tage, macht alles mit, ob Autobahn oder Schotterpass, Bummeln oder Brennen, allein oder in Begleitung. Gibt viel, nimmt wenig. Und, um mit Robert Lembke abzuschließen: Welches Tigerl hätten‘s denn gerne? Antwort: Am liebsten eins mit „R“ - wie es Triumph schon bei der Speedy und Streety vorgemacht hat. Möge sie bald den Markt bereichern.
Technische Daten / PS-Urteil

Antrieb
Dreizylinder-Reihenmotor, vier Ventile/Zylinder, 70 kW (95 PS) bei 9300/min*, 79 Nm bei 7850/min*, 799 cm³, Bohrung/Hub: 74,0/61,9 mm, Verdichtungsverhältnis: 11,1:1, Zünd-/Einspritzanlage, 44-mm-Drosselklappen, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbad-Kupplung, Sechsganggetriebe, G-Kat, Kette
Fahrwerk
Stahl-Gitterrohrrahmen, Lenkkopfwinkel: 66,3 Grad, Nachlauf: 86 mm, Radstand: 1555 mm, Upside-down-Gabel, Ø Gabelinnenrohr: 43 mm. Zentralfederbein mit Umlenkung, einstellbare Federbasis. Federweg vorn/hinten: 180/170 mm
Räder und Bremsen
Leichtmetall-Gussräder, 2.50 x 19/4.25 x 17, Reifen vorn: 100/90-19, hinten: 150/70 R 17, Erstbereifung: Pirelli Scorpion Trail, 308-mm-Doppelscheibenbremse mit Doppelkolben-Schwimmsätteln vorn, 255-mm-Einzelscheibe mit EinkolbenSchwimmsattel hinten, ABS
Maße und Gewicht
Länge/Breite/Höhe: 2220/900/1350 mm *, Sitz-/Lenkerhöhe: 840 -860/1120 mm, Lenkerbreite: 775 mm, 220 kg vollgetankt, v./h.: 49,5/50,5 %
Hinterradleistung im letzten Gang
62 kW (84 PS) bei 200 km/h
Verbrauch
Kraftstoffart: Super bleifrei. Durchschnitts-testverbrauch: 5,3 Liter/100 km, Tankinhalt: 19 Liter, Reichweite: 350 km
Grundpreis 9390 Euro (zzgl. Nk)
PS-Urteil
Gut gebrüllt Löwe, äh Tiger. Abgesehen von der Optik, die doch stark an den bayrischen Hauptkonkurrenten erinnert, ist die Engländerin eine eigenständige Erscheinung. Stil- und charakterbildend ist der einzigartige Triple, der hier sehr zurückhaltend und elektromotormäßig auftritt. Ein bisschen mehr Aggressivität dürfte schon sein. Wir warten auf die Tiger R. Ansonsten Hut ab.