Vergleichstest
Honda XR 600 R gegen Yamaha TT 600 R

Muß es denn unbedingt wassergekühlte High-Tech-Maschinerie auf dem letzten Stand der Technik sein? Oder können auch grundehrliche Einzylinder-Enduros, bei denen noch Luft durch die Kühlrippen pfeift, gute Laune verbreiten?

Honda XR 600 R gegen Yamaha TT 600 R
Foto: Yamaha TT 600 R

XR gegen TT - dieses Thema beschäftigt die Stollenreiter schon seit Anfang der achtziger Jahre. Bereits 1981 hatte Honda eine Sportvariante der zahmen XL 500 S-Enduro, die XR 500 R mit Pro-Link-Federung, präsentiert. 1983 konterte Yamaha mit der TT 600, die jedoch bei den Verkaufszahlen stets im Schatten der Honda stand. Denn die XR war in vielerlei Hinsicht extremer: höher, härter, handlicher, haltbarer - und das kam vor allem beim amerikanischen Off-Road-Publikum an. Kein Wunder, daß Yamaha die TT bei den notwendigen Modellpflegemaßnahmen nur recht stiefmütterlich behandelte, denn außerhalb einer kleinen Fangemeinde nahm eigentlich niemand mehr von ihr Notiz. Währenddessen leistete es sich Honda, die XR als 600er unverdrossen und beinahe unverändert bis heute weiterzubauen, allen technischen Entwicklungen in der Enduro-Szene zum Trotz.
Auch die zweite Attacke von Yamaha durch die mit Weichspüler behandelte, durchgestylte TT 600 S von 1993 tat der stets rustikal auftretenden XR nie richtig weh. Mit dem SY-Modell holte sich Yamaha zwar neue Kunden unter den Straßen-Enduristen, Hardcore-Erdarbeiter rümpften aber die Nase. Honda blieb weiter bei der harten Linie. Mit Erfolg: Bis heute ist die XR vor allem in den USA ein Verkaufsschlager.
Nun, da die Ära der luftgekühlten Enduro-Singles sich wohl langsam dem Ende zuneigt, setzt Yamaha zum finalen Angriff auf das in die Jahre gekommene Kultobjekt an. Alles neu, zurück zu den Ursprüngen - so hieß es daher bei der Präsentation der TT 600 R. Doch das ist nur bedingt richtig: Das Design ist neu, dazu auch der Rahmen und jede Menge Technik, nur nicht der Motor. Denn als Antrieb dient immer noch der zwar modifizierte, aber altbekannte Einzylinder-Vierventiler, der in se9iner Grundkonstruktion schon seit Ende der siebziger Jahre unzählige Yamaha-Enduros in Bewegung setzte.
Solange die Leistung stimmt, sind Diskussionen über Wasserkühlung, Fünf-Ventiler oder Einspritzung hinfällig. Und an deren harmonischer Entfaltung hat Yamaha konsequent gearbeitet. Mit 45 PS und einer schönen Drehmomentkurve kann sich die Testmaschine sehen lassen. Zumindest da, wo keine wassergekühlten Europa-Enduros in der Nähe sind, denn die schlankeren Wasserkocher von KTM oder Husqvarna können noch einige PS draufpacken. Dann erscheinen 45 PS angesichts der Tatsache, daß sie schon vor mehr als zehn Jahren gerade mal Standard waren, wenig fortschrittlich, doch dabei liegt das Problem weniger im mechanischern als im umwelttechnischen Bereich.
Wie sich so etwas ganz ohne technische Weiterentwicklung auswirken kann, zeigt die geradezu erbärmliche Kurve der XR. Was ist bloß aus der Legende geworden? Schon bei 5800 Umdrehungen und 37 PS ist Schluß mit lustig, darüber wirkt die Test-XR des Importeurs Könemann
wie zugeschnürt. Da tröstet auch nicht, daß sie ohne den drosselnden Einsatz im Schalldämpfer wieder den alten Biß zeigt und wie in früheren MOTORRAD-Tests satte 44 PS auf die Rolle drückt, denn offen ist die Lärmemission nicht zeitgemäß und der Umwelt wirklich nicht zumutbar. Im Fahrbetrieb gelingt es der XR, das Leistungsdefizit durch geringeres Gewicht zum großen Teil wettzumachen. Auf kurvigen Sträßchen mit vielen Beschleunigungsphasen kann sie sich im Windschatten der TT halten. Gute Laune verbreitet die zugeschnürte XR in diesem Zustand jedoch kaum.
Für die meisten heißt Endurofahren nicht Drehzahlorgien und Dauer-Vollgas, sondern beschauliches Wandern im mittleren Drehzahlbereich. Dabei fallen die Probleme der Test-XR ebenfalls auf. Der Motor wirkt im unteren Bereich saftlos, zumal er auch nicht so direkt und agil am Gas hängt wie der TT-Antrieb. Die lange Endübersetzung kommt erschwerend hinzu. Einen herzhaften Dreh am Gasgriff quittiert die XR mit einem heftigen Schluckauf, die Gemischaufbereitung wirkt überfordert. Selbst Wheelie-Fahren, früher eine Spezialität der hochbeinigen XR, ist mit dieser Abstimmung nur mit viel Konzentration und wenig Respekt vor unliebsamen Konsequenzen möglich. Pluspunkte sammelt dagegen die Kraftübertragung der Honda. Die Gangwechsel sind exakter, und die Kupplung funktioniert erheblich leichtgängiger als bei der TT.
Ein Lob verdienen auch die Nissin-Bremsen der XR. Sie erfordern geringere Handkräfte als die Brembo-Stopper der TT, das Gefühl für die Dosierung ist off- wie on-Road immer einen Deut besser. Dennoch muß der Endurist mit den TT-Bremsen nicht unzufrieden sein. Japan gegen Europa heißt es auch bei weiteren Zutaten. Yamaha verbaut bei der in Italien produzierten TT ein Öhlins-Federbein plus Paioli-Gabel. Honda setzt dagegen auf die bewährte Showa-Kombination, die noch aus den achtziger Jahren stammt. Bei beiden Maschinen sprechen die vielfach einstellbaren Federelemente sauber an. Die Honda mit strafferer Dämpfung wirkt auf der Straße hier und da etwas bockiger, die Yamaha bügelt Unebenheiten eleganter weg. Die XR ist aufgrund der Einmann-Zulassung den Solisten vorbehalten, während der TT-Fahrer auch mal Freund oder Freundin transportieren kann, solange diese keine besonderen Ansprüche an den Sitzkomfort stellen.
Überhaupt sollten die Ansprüche im Asphalt-Betrieb nicht allzu hoch angesetzt werden. Denn forschen Schräglagen setzen auf der Straße die grobstolligen Reifen frühzeitig Grenzen. Besonders die Pirelli MT 21 der TT schmieren auf glattem Asphalt schnell weg, der Grenzbereich deutet sich aber rechtzeitig an und bleibt so leicht kontrollierbar. Bessere Haftungsqualität auf der Straße bieten die crossmäßig wirkenden IRC-Reifen der Honda.
Die groben Stollen beider Motorräder weisen bereits auf den bevorzugten Einsatzbereich hin: Straßenetappen werden gern gesehen, Geländebetrieb dagegen bevorzugt. Beide Enduros verkörpern den ursprünglichen Enduro-Gedanken. Sie sind keine verkappten, hochspezialisierten Rennmaschinen, sondern einfache, robuste Allround-Enduros, Motorräder für jeden Tag und jede Gelegenheit. Daher liegt auf der Hand, daß der Käufer stets mit einem Kompromiß leben muß. Für knallharte Eskapaden auf Cross-Pisten oder Trial-Passagen im Hochgebirge sind die beiden Luft-Fahrzeuge ziemlich schwer und klotzig geraten. Hier fällt besonders die TT auf, die vollgetankt das mit 131 Kilogramm deklarierte Trockengewicht um satte 22 Kilogramm übertrifft. Die hochbeinige Honda ist mit ihren 143 Kilogramm zwar auch nicht so handlich wie eine DR 350, läßt sich aber spürbar leichter um Klippen und Wurzelpassagen zirkeln.
Extrem-Touren werden dem Enduristen auch aus weiteren Gründen schwergemacht: Der erste Gang beider Enduros ist ellenlang übersetzt, daher muß viel mit der Kupplung gearbeitet werden. Besonders die TT stirbt leicht ab und springt in heißem Zustand erst nach mehreren kräftigen Tritten wieder an. Wer schwerpunktmäßig im Gelände unterwegs ist, sollte auf kleinere Ritzel oder größere Kettenräder umrüsten. XR wie TT fehlt die Spannweite eines Sechsganggetriebes.
Lange Federwege versprechen crossmäßiges Schluckvermögen. Technisch ist die TT 600 R zwar up to date, dennoch sind die Federungseigenschaften der vergleichsweise antiquierten XR im Gelände gar nicht schlecht. Die Elemente sprechen erstaunlich feinfühlig an. Die nicht mehr ganz taufrische, 43 Millimeter dicke Gabel wirkt auf zerbombten Pisten allerdings etwas wackelig, arbeitet aber progressiv und geht praktisch nie hart auf Block - die Handgelenke danken es. Die ebenso weich ansprechende Paioli-Gabel der neuen TT gibt ebenfalls kaum Anlaß zur Klage. Nur bei gröbsten Landungen gibt sie mit einem häßlichen, metallischen Geräusch zu erkennen, daß sie an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt ist. Hinten sammelt die hervorragend abgestimmte Yamaha mit ihrem Öhlins-Federbein weitere Pluspunkte. Das Honda-Pro-Link-System der XR arbeitet zwar progressiv, hat mit der Bewältigung grober Wellen aber mehr Probleme. Zudem läßt die Dämpfung des Showa-Federbeins bei harter Beanspruchung nach.
Bilanz: XR und TT sind wie eh und je zwischen den echten Sport-Enduros à la KTM LC 4 und den schwereren E-Start-Singles wie Suzuki DR 650 positioniert. Dabei tendiert die XR eher zur sportlichen Seite, die TT bietet bessere Alltags-Eigenschaften. Durch das zugeschnürte Triebwerk der XR bleibt der Spaß weitgehend auf der Strecke, während Yamaha es verstanden hat, den TT-Antrieb ohne Abstriche an der Agilität den aktuellen Vorschriften anzupassen.

Unsere Highlights

Platz 2 - Honda XR 600 R

Es wird allmählich Herbst für die gute alte XR, die der Enduro-Gemeinde mehr als ein Jahrzehnt brav und zuverlässig zu Diensten war. Aber nun scheinen ihre Tage gezählt. Solange es nicht gelingt, den Motor ohne Einbußen an Kraft und Spontanität aktuellen Emissions-Standards anzupassen, dürfte der Kundenkreis sich drastisch einschränken. Obwohl sie in manchen Diszplinen immer noch überzeugen kann, ist eine Generalüberholung allmählich fällig.

Platz 1 - Yamaha TT 600 R

Letztendlich setzt sich die TT 600 R klar durch. Es wäre ja auch eine Schande, wenn das modernere Gesamtkonzept eine Niederlage gegen den Oldtimer einstecken müßte. Yamaha hat die neue TT mit hochwertigen Zutaten verfeinert, eine reine Sportmaschine ist sie nicht. Als Universal-Enduro für Straße und mittelschweres Gelände wird sie ihre Fans finden. Ihre Stärke ist der herzhafte Motor, für sportliche Ambitionen müßte noch ein bißchen abgespeckt werden.

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023