Reportage: Glemseck 101
Motorrad-Kultur

Wer wissen will, was rund um das Thema "Motorisiertes Zweirad" geht, kommt am Glemseck 101 nicht vorbei. Hier triffst du sie alle, die schrägen, skurrilen und coolen Typen auf zwei Rädern und zwei Beinen. Willkommen bei Deutschlands buntestem Motorradtreffen!

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Foto: Schmieder

Der letzte Freitagabend im August. Es dämmert über der ehema­ligen Solitude-Rennstrecke vor den Toren Stuttgarts. Schemenhaftes Licht macht Menschen und Maschinen zu Scherenschnitten, gibt nach und nach herrliche kleine Verrücktheiten frei. Der Chopper da vorn etwa ist keine Harley. Sondern ein Radikalstumbau einer KTM LC4! Daneben stellt ein Trupp Engländer seine Suzukis GSX 1400 ab. Bunte LED-Leuchten an den Flanken tauchen die Vierzylinder unbescheiden in blaue Werksfarben.

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Mit der Dauertest-125er folge ich in Schrittgeschwindigkeit einer Boss Hoss. Ihr mächtiger Big Block-V8 teilt die vielen Fußgänger wie einst Moses das Rote Meer nach links und rechts. Alle bleiben ruhig und gelassen, relaxed: Fahr lässig, aber nicht fahrlässig.

So geht’s zu bei der achten Runde vom Glemseck 101, dem wohl buntesten und vielseitigsten Motorradtreffen in Deutschland. Und das hier ist erst der Auftakt, einer der Parkplätze. Jetzt komme ich an der Händlermeile vorbei. Volle 101 Meter misst der Triumph-Strand, äh Stand. „Strand“-Bar inklusive. Der Sponsor lässt sich beim Umsonst-und-draußen-Festival rund um zwei Räder nicht lumpen. Bollernd bahnt sich eine BSA den Weg durch die Besuchermenge. Viele polierte Alu- oder verchromte Stahltanks strahlen um die Wette beim Stelldichein der deutschen Café Racer-Szene. Höckersitzbänke, Lenkerstummel und klangstarke Auspuffe nicht zu vergessen.

„Unsere Veranstaltung steht für Motorräder mit Charakter"

So wie es damals auch war, in den ­Roaring Sixties, als private Hinterhof- und Garagenkonstrukteure ihre Triumphs und Nortons sportlicher, schnittiger machten. Diesen Geist, diesen Spirit, will das Glemseck 101 bewahren. Das erklärt mir Jörg
Litzenburger bei einem Bier: „Unsere Veranstaltung steht für Motorräder mit Charakter, für individuelle, minimalistische Umbauten jeder Richtung, egal ob Bobber oder Café Racer, Scrambler oder Roadster.“ Der Suchtbeauftragte des Kreises Böblingen organisiert das Treffen in seiner Freizeit zusammen mit vielen anderen Helfern. „Wir mögen pure und puristische Motorräder, echte Fahrmaschinen“, sagt Jörg. „Wir haben bestimmt nichts gegen Gore Tex, aber wir stehen hier mehr auf Leder.“ Herzlich willkommen sind zu diesem Festival des Motorrads alle Typen auf zwei Rädern und zwei Beinen.

Der Abend klingt mit Punkrock-Mucke von Los Skeleteros aus. Morgensonne erhellt später die ganze Pracht und Herrlichkeit. Die internationale Tunergilde gibt sich die Ehre, zeigt, was sie draufhat: LSL aus Krefeld, Jens vom Brauck aus Köln. Urban Motor aus Berlin und Fuel Motorcycles aus Barcelona zeigen coole, betörende BMW-Zweiventil-Umbauten, das Walzwerk aus Hockenheim Highend-Metall. Bei Benders Echte beweisen radikale TR1-Umbauten, welches Potenzial Yamaha vor 30 Jahren ungenutzt ließ. Auf einer dieser heiß gemachten 1000er-V-Zwos eröffnet der Rutesheimer Motorrad-Pfarrer Jürgen Schwarz die Sprint­rennen auf der Achtelmeile, tritt gegen Landrat Roland Bernhard an.

Gramm, Spankowski, TSR
… und los!!! MOTORRAD-Redakteur Thomas Schmieder gibt beim Sprint mit dem Louis-Tuningbike Honda Sevenfifty alles.

Ehrensache, der Gottesmann liegt vorn. Der Name seiner Leih-TR1: Die Trompeten von Jericho. Nomen est omen. Selbst 200 Meter können große Show bedeuten und durchaus sportlich herausfordernd sein. Davon kann ich mich nun selbst überzeugen. Stehe als einer von 32 Teilnehmern am Start zum ­International Sprint. Zusammen mit Tunern, Rennfahrern, Journalisten und anderen zweiradaffinen Persönlichkeiten. Im K.-o.-System treffe ich mit der Louis-Honda CB Seven fifty auf den TT-Recken Conor Cummins. Ausgerechnet. Mein Kollege, MOTORRAD-Top-Tester Georg Jelicic, hatte mich kurz vorher noch gebrieft: „Drehzahl bei rund 5000 halten und so lange mit leicht schleifender Kupplung fahren, bis die Drehzahl nicht absackt, nur noch steigt.“

Klappt gut, komme gut weg. Fürs Hochschalten ohne Kuppeln bin ich heute zu nervös, greife beim Einlegen des Zweiten und Dritten zum Hebel. In die Lücke sticht Conor Cummins auf seiner Tuning-Buell XB 12 gnadenlos rein. Immerhin: Es war so knapp, dass Moderator Jörg mich nach der Rückkehr zum Start fragt, wer denn vorn lag. Paarung für Paarung fährt nun weiter, ich reihe mich unter die vielen Hundert oder Tausend Zuschauer ein. Im Finale besiegt Jens vom Brauck auf seiner 150 Kilogramm leichten, mindestens 100 PS starken Ducati Flat Red 2 die Rennamazone Nina Prinz auf 1100er-Katana. Glückwunsch. Sind Guy Martin und Conor Cummins mit einer Achtelmeile nicht unterfordert? Sonst sind sie Rennrunden von 37,7 Meilen gewöhnt, volle 60,7 Kilometer.

Guy Martin zum Anfassen nah

Zumal beim Glemseck 101 mörderische Geschwindigkeiten, Irrsinns-Schräglagen und Bruchsteinmauern fehlen. Nein, Conor Cummins lacht: „Das ist überhaupt nicht langweilig. Man muss sich ja beim Start voll konzentrieren, hat kaum Zeit, einen Patzer wiedergutzumachen.“ Und Guy Martin ergänzt, dass es trotz (oder wegen?) der kurzen Distanz „richtig Spaß macht, hier anzutreten“. Guy hat für jeden ein offenes Ohr, gibt freund­lich Autogramme, zum Anfassen nah. Und liegt seelenruhig zwischen zwei Läufen im Gras – neben seiner hübschen neuen Freundin. Hans A. Muth ist aufgetaucht, der vor 40 Jahren die BMW R 90 S und vor gut 30 Jahren die Suzuki Katana entworfen hat. Im ehemaligen Start-Ziel-Turm der Rennstrecke, heute exklusives Clubhaus des AMSC Leonberg, steht er Rede und Antwort.

Am Abend gibt es klasse Konzerte, mitreißende 60er-Beats. Aus einer Epoche, als Motorräder noch „analog“ waren – von ersten digitalen ­Zündungen vielleicht mal abgesehen. Und so ­beflügelt das Glemseck 101 eben auch unsere Sehnsucht nach ehrlichen Motorrädern, echt metallischen Maschinen aus Stahl, Eisen und Aluminium, ohne Plastikfirlefanz. Klar stehen auch Gold Wings und E-Glides rum, dürfen zur Abrundung des Spektrums nicht fehlen. Aber Reiseenduros à la R 1200 GS bilden hier mal nicht die Übermacht. Erst der einsetzende Regen lichtet die Reihen etwas. Eine feuchte Nacht für die Camping-Fraktion.

Gramm, Spankowski, TSR
Männerspielzeug. Herrlich verrückter Harley-Umbau im Stil von Mattels Hot Wheels, nur eben im Maßstab eins zu eins. Bei diesem Treffen ist alles erlaubt, alles vertreten.

Am nächsten Morgen schieben sich auffallend viele Leute mit Kinderwagen durch die Reihen. Die Leonberger kommen zum Sonntagsausflug. Jürgen Schwarz hält seinen Motorrad-Gottesdienst ab. Irgendwo muss auch Fritz W. Egli rumlaufen. Mist, habe ihn verpasst. Aber einige seiner rollenden Kunst-, pardon, Fahrwerke, die konnte man bereits bewundern.

Über die T-förmig an­geordnete Händlermeile zu schlendern ist ein einziger Quell der Freu(n)de. Wer hat was wie umgebaut oder im Angebot? Viele Hersteller und Spezialisten nutzen diese Plattform. Ein Schmelztiegel der Ideen, Inspirationen und Entwürfe.

Bruno Dötsch rollt vorbei, Spezialist für schöne Kawasaki W 650/800. Ulf Penner steht daneben. Der Motorentuner haucht luftgekühlten ­Antrieben satte Power ein. Szenetreff eben. Auf seiner 1936er-Imperia kommt mir Siegbert Renz (69)
aus dem Naturpark Schönbuch entgegen. Wir plaudern über die bildschöne Maschine aus Bad Godesberg. Ein Motorradfestival vom Feinsten, das meint hier nicht elitär.

Auf der Bühne interviewt Jörg Litzenburger gerade Steven Hofmann, der auf seiner V-Strom 650 25000 Kilometer von Malaysia nach Deutschland fuhr. Zwei Ohren, zwei Augen sind zu wenig, um alles zu erfassen.

Schon was vor fürs erste September-Wochen­ende 2014? Wie wäre es damit, bei der neunten Auf­lage von Glemseck 101 wieder feine Motorradkultur zu leben und erleben? So wie immer: stilvoll und klassisch, elegant und zeitlos.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023