Die müssen ihm das am 1. April erzählt haben. Und er hat’s geschluckt. Ehrlich: Mein Boss Michael Pfeiffer, der den Reitwagen eigentlich fahren sollte, jedoch geschäftlich verhindert ist, hat mir die Aufgabe übertragen und mich vorgewarnt: „Achtung in den Kurven! Das Ding soll alles andere als einfach zu fahren sein!“ Ich komme mir vor wie ein Zweijähriger, den sein Vater vor den Gefahren des Laufrades warnt. Gefahren? Welche Gefahren? Der Reitwagen wiegt 90 Kilo, beschleunigt laut Datenblatt auf maximal 12 km/h und hat auch noch Stützräder! Wie soll man damit verunglücken können?
Drei Tage später. Unter bedecktem Himmel hat sich ein halbes Dutzend Mercedes-Benz-Mitarbeiter eingefunden. Ihr Schätzchen parkt nur zwei Meter entfernt von Gottlieb Daimlers ehemaliger Werkstatt, von der nur noch ein paar Sandsteinsockel übrig sind. Shakehands, Smalltalk – und schon geht’s ans Eingemachte. Michael Plag, seit 34 Jahren im Unternehmen und Projektleiter im Mercedes-Benz Classic-Center, ist der Hüter des Heiligen Grals. Er darf, was andere nicht dürfen: Reitwagen fahren. Vor allem aber weiß er, wie’s geht. „Wir haben Ihnen hier eine Schotterstrecke ausgesucht, auf der es nicht so schwer sein wird, den Reitwagen zu lenken“, meint er. Michael Plag ist ein Typ Mensch, den scheinbar nichts erschüttern kann. „Auf Asphalt haben Sie leider keinen Grip“, grinst er.
Zehn Speichen, 600 Millimeter im Durchmesser
Sein Finger zeigt auf die stahlringumspannten Holzräder: zehn Speichen, 600 Millimeter im Durchmesser, die Lauffläche 35 Millimeter breit. Dies hier ist nicht irgendein Custombike, von denen ich in den zurückliegenden Jahren unzählige gefahren bin. Nein, ich stehe vor dem Urknall des Motorradfahrens. Ehrfürchtig. Glücklich. Und vor allem auch staunend. Denn der gute Gottlieb hatte nicht nur ein Gespür für fortschrittliche Technik, sondern muss auch Perfektionist gewesen sein. Das Oberflächenfinish des aus Esche und Buche gefertigten Chassis und auch die Präzision, mit der Verbindungsteile, Gelenke und Lagerungen hergestellt wurden, sind perfekt.
Dieser Reitwagen hier ist einer von zehn, die weltweit existieren und exakt nach dem Urmodell von 1885 gefertigt wurden. Das Original ging bedauerlicherweise 1903 bei einem Brand in Rauch auf. Während ich staune, befüllt Michael Plag den kleinen Tank, der das Feuer fürs Glührohr füttern soll. Dieses Glührohr im Zylinderkopf des 264 Kubik großen Einzylindermotors sorgt für die Entzündung des Gemisches. Gefahren wird mit Leichtbenzin, Ligroin, ein leicht entzündlicher Brennstoff, der bereits ab 1850 zur Fleckenentfernung genutzt wurde. Er war damals in Apotheken erhältlich.
„Standuhr“ war aus technischer Sicht ein Riesenfortschritt
Am zischenden Geräusch erkennt Michael Plag den Beginn der Verdunstung. „So, jetzt ist Kurbeln angesagt“, meint er und greift zur Handkurbel, mit der über eine Verzahnung das Schwungrad in Drehung gesetzt wird. Zwei, drei Umdrehungen, dann warten, schauen, ob er anspringt. „Es gibt Tage, da brauchen wir in der Werkstatt Stunden, bis der Motor optimal läuft“, grinst er schweißtropfend. Heute scheint so ein Tag zu sein. Denn der Single will nicht. Furzt dann und wann, bollert desinteressiert und faucht ab und an ein paar Wolken entzündetes Abgas durch den kleinen Schalldämpfer nach unten in den Staub.
Doch so richtig rundlaufen mag er nicht wirklich. Während Plag munter weiterkurbelt, erinnere ich mich: Der stehende Einzylinder Gottlieb Daimlers, charmant auch „Standuhr“ genannt, war aus technischer Sicht ein Riesenfortschritt. Damalige Ottomotoren erreichten gerade mal Drehzahlen bis 150/min. Daimlers patentierte Glührohrzündung in Verbindung mit der Kurvennutensteuerung des Auslassventils erlaubten dem neuartigen Motor bis zu 700/min. Dass dieser ausgerechnet in ein motorradähnliches Versuchsgestell statt in eine Kutsche gepflanzt wurde, war schlichtweg eine Geldfrage.
Verbrennung reagiert sensibel auf Wärme und Sauerstoffgehalt
Endlich bollert der Single. Zwar läuft er nur mit gefühlten Umdrehungen zwischen 200 und 400/min, aber immerhin. Über einen kleinen Hebel wird das Gemisch optimal eingestellt. Jeder Millimeter, den der Hebel vor- oder zurückbewegt wird, entscheidet über Absterben, asthmatisches Husten oder optimalen Motorrundlauf.
Die Verbrennung reagiert sensibel auf Wärme und Sauerstoffgehalt der Ansaugluft. Aber gut. Aufsitzen, erste Fahrstunde, Theorie. Michael Plag erklärt und fährt los. Die Strecke ist rund 30 Meter lang, leicht abschüssig, auf einem asphaltierten Stück muss gewendet werden. Es ist ebenfalls leicht abschüssig. Michael Plag wendet schwungvoll. Es sieht einfach aus. Ist es aber nicht. Jetzt sitze ich nämlich auf dem Sattel, einer mit Leder bespannten Stahlkonstruktion, unter der sich der Motor befindet.

Anfahren ist recht unkompliziert: Direkt unter dem Lenker ist ein Hebel. Wird der nach vorn gestellt, entspannt er den Lederriemen und entkoppelt damit den Antrieb, gleichzeitig wird über ein Stahlseil die Bremse aktiviert. Also gefühlvoll nach hinten ziehen, Kraftschluss und Bremse lösen – los geht’s! Natürlich ist die Lenkung ultradirekt. Aber man eiert im Wortsinn vorwärts, kippelt ständig von einem Stützrad aufs andere, da die Stahl-Laufflächen weder Eigendämpfung noch Grip, dafür aber zwei Ecken haben. Asphaltberührung, jetzt ist Wenden angesagt.
Oh Gott! Bei uns Motorradfahrern sind Bewegungsabläufe in Fleisch und Blut übergegangen. Abläufe, die hier nichts nützen. Denn die Kiste will wegen ihrer Stützräder nicht in Schräglage. Besser gesagt: Sie will. Aber nicht so wie ich. Denn der Reitwagen droht umzukippen. „Bremsen!“, ruft Michael Plag. Mache ich, denke aber: Gut, dass der Mann dabei ist. Notfalls wird er sich rettend unter den Reitwagen werfen, falls der doch kippt. „Jetzt schnell ans Gas!“, ruft er am Scheitelpunkt der „Kurve“. Erst beim dritten Versuch bekomme ich Kehrtwendungen flüssig hin, bin aber stets froh, wenn der rund 0,5 PS starke Single uns den leichten Anstieg wieder hochzieht. Seine Schwungmasse ist charmant und sorgt wirklich für „good Vibrations“. Im Stand pulsieren Gabel samt Vorderrad wie der Fuß eines Gangster-Rappers bei seinem Lieblingssong. Zwölf Kilometer ist Daimlers Sohn damals im November 1885 am Stück gefahren. Vermutlich bei Schnee und Eiseskälte. Auf Schotter und Kopfsteinpflaster. Vor dieser Leistung ziehe ich meinen (neuen) Hut.
Technische Daten

Luftgekühlter Einzylinder-Viertaktmotor,
Bohrung x Hub: 58 x 100 mm,
Hubraum: 264 cm³,
Verdichtung 2,6 : 1,
Leistung: 0,5 PS bei 600/min
Einlassventil schnüffelgesteuert,
kurvennutengesteuertes Auslassventil,
Oberflächenvergaser,
Glührohrzündung,
Primärtrieb: Flachriemen von Motor zur Antriebswelle,
Sekundärtrieb: über Ritzel und Innenzahnkranz,
zwei Gänge durch Umlegen des Riemens von Hand,
Holzrahmen aus Buche und Esche,
Zehnspeichen-Holzräder,
Hinterrad-Klotzbremse per Hand angesteuert,
Radstand: 1030 mm,
Gesamtlänge: 1680 mm,
Leergewicht 90 kg,
Höchstgeschwindigkeit: 12 km/h