Fahrbericht A.T. American Cycles Stage I

Fahrbericht: A.T. American Cycles Stage I Unterwegs mit einem Custombike

Wie fährt eigentlich ein echtes Custom-Showbike? Testredakteur Rolf Henniges erlebte auf der Suche nach Antworten an einem Tag beinahe mehr als sonst in zehn Jahren zusammen.

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"Du bist zu klein" - Der Satz verfolgt mich mein ganzes Leben. Lange schon hatte ich ihn nicht mehr gehört. Und jetzt das. Die Stimme am anderen Ende klingt nicht bedrohlich. Auch nicht verniedlichend. Nein, sie klingt danach, als wäre Größe die Voraussetzung dafür, das Monster zu fahren. Ich frage nach der Sitzhöhe. "44 Zentimeter", brummt die Stimme, "das ist unterhalb der Kniekehle." Ja, sogar meiner Kniekehle. "Kann nicht sein, ich bin nicht zu klein", widerspreche ich. "Wirst du morgen erleben", grollt die Stimme am anderen Ende. Irgendwie ahne ich, dass sie Recht hat. Die Stimme gehört Aykut Tataroglu, ein Bär von Mann. Zugleich waschechter Türke mit ausgeprägtem schwäbischem Dialekt.

Er ist einer der bekanntesten deutschen Custombike-Hersteller und hat mir angeboten, eins seiner Monster probezufahren. Am Tag nach dem Telefonat stehe ich vor der Tür seines Ladens in Neuffen am Fuß der Schwäbischen Alb. Die Tür ist vergittert, schwerer Stahl, handgeschweißt. Quietschend schwingt sie auf, und Aykut bittet in sein Reich. Mit seinen 1,82 Metern überragt er mich um einen Kopf. Er trägt den ellenlangen Bart zweizöpfig gezwirbelt, eine zerschlissene Baseballcap beschützt den Kahlschädel, seine Füße wohnen in abgerockten Cowboyboots, die jede Ich-geh-meilenweit-Camel-Werbung zum schlechten Witz stempeln.

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Aykuts Reich besteht aus einer 100-Quadratmeter-Werkstatt mit allen gängigen Metallbearbeitungsmaschinen, ein paar Lagerräumen, und seinem Büro mit selbstgezimmertem Interieur. Rustikal, zweckmäßig, sehenswert. Denn das Büro ist gleichzeitig auch Museum, beherbergt neben den vielen Pokalen und Preisen, die seine Motorräder auf Messen in aller Welt errungen haben, auch skurrilste Präsente. Hier hat jede zerknautschte Coladose ihre Story. Eine erzählenswerte.

"Die hier wirst du heute fahren", sagt der Meister, geht zu seinem Showbike mit dem Namen Stage I, packt die mittlerweile vier Jahre alte Maschine am Lenker und schiebt sie lässig in die Kälte des Oktobertags. Da steht er nun, der Brocken: Gewicht 330 Kilogramm, Radstand 1,83 Meter, Gesamtlänge 2,40 Meter. Das Monster wird angetrieben von einem luftgekühlten S&S-Motor, der aus 2030 Kubik rund 150 Pferde kitzelt. Das Drehmoment von 220 Newtonmeter braucht sich ebenfalls nicht zu verstecken - eine Yamaha Vmax hat gerade mal 167 Nm. "Ich nehme an, du kennst dich aus", sagt Aykut. Drückt auf einen kleinen runden schwarzen Knopf am Lenker, der Anlasser spurt ein und schickt die rund 105 Millimeter dicken Kolben auf ihren langen Weg durch die Zylinder.

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Die beiden Endrohre sorgen für einen enormen Sound.

Es gibt Tage, da bereut man sein forsches Mundwerk. Heute ist so einer. Es donnert fürchterlich aus den zwei Endrohren, Stichflammen blecken aus den offenen 45er-Weber-Vergasern, Seismologen werden im 250 Kilometer entfernten Freiburg bestimmt leichte Erschütterungen aufzeichnen. Der S&S-Antrieb scheint eher Explosions- als Verbrennungsmotor zu sein. Dieses Ding hier, mit seinem rochenlederbezogenen Sattel, dem bumerangförmigen Lenker und einem Hinterreifen, dessen 330er-Dimension man eher auf einem Formel 1-Wagen vermutet, nötigt mir allein im Stand mehr Respekt ab, als ich ihn vor all meinen potenziellen Schwiegervätern zusammen hatte. Und das waren einige.

Flammen blecken, Donnerhall, das Untier stampft asynchron mit seinem Seitenständer. "Erster Gang unten, Rest oben, weißt du ja sicher", sagt Aykut. Steigt mit dem Fotograf ins Auto und verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich nehme Platz. Wenn je eine Sitzhaltung die Beschreibung embryonal verdient hat, dann diese hier. Mist, schießt es mir durch den Kopf, ich bin tatsächlich zu klein. Denn ich muss mich extrem vorbeugen, um den Lenker überhaupt zu erreichen. Für engagierte Wendemanöver fehlen mir die nötigen Zentimeter Armlänge. Fürs Schalten die notwendige Schuhgröße. Auf Aykuts Boots steht die 47. Auf meinen 41.

Losfahren! Die Kupplungsbetätigung verlangt sechs Finger. Blöderweise habe ich nur fünf. Kupplung raus. Und aus. Peinlich. Egal, es gibt ja einen E-Starter. Und der wird über einen der acht schwarzen kleinen Knöpfe aktiviert. Welcher das war, habe ich leider vergessen...Was wohl passiert, wenn ich den falschen Knopf drücke?
Während des Nachsinnens kehrt Aykut zurück. Er grinst. Startet das Ding und drückt mir den Lenker wieder in die Hand. Schweißperlen im Stand. Erhöhter Puls. Respekt. Furcht. Ich paddele mit den Füßen, spanne meinen Oberkörper über den Tank, um zu lenken.

Nach lkw-mäßigem Wendekreis landen wir auf der Straße, die auf die Alb führt. Es geht geradeaus durch den Ort. Gut so. Denn die Stage I verschenkt das Gefühl von 100 Meter Radstand. Den ersten Zone-30-Buckel überrumpeln wir mit zehn km/h. Vorn dämpft eine Gabel mit 65 Millimetern, hinten ein Luftfedersystem mit 50 Millimetern Weg. Erinnerungen an Fahrten im tiefergelegten Golf aus Jugendtagen kommen hoch, denn so etwa hoppelt man mit der Stage I über Unebenheiten.

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Gewicht 330 Kilogramm, Radstand 1.83 Meter, Gesamtlänge 2,40 Meter. Das sind die Eckdaten der Stage I.

Ortsausgang Neuffen. 500 Meter sind geschafft. Der Motor lief bislang nur wenig über Standgasdrehzahl. Augenblick mal, da war doch irgendwas, oder? Genau: Die Neuffener Steige war berühmt als Austragungsort von Bergrennen und ist berüchtigt für ihre engen Kehren... Gottlob kommt zuerst eine Gerade. Gaaas!
150 PS, 117,5 Millimeter Kolbenweg, verstärkte Dragster-Kupplung, super starker E-Starter,  Verdichtungsverhältnis von 10,8 zu eins. Jeder Zylinder atmet durch seinen eigenen Vergaser, und der monströse V2 ist starr mit dem Dragstyle-Rahmen verschraubt - schön und gut, was Aykut über seine Stage I so erzählt. Beim Gasaufreißen vibrieren die Rasten jedoch, als würde dir jemand mit dem Hammer unter die Füße schlagen. Spermaproduktion: gefährdet. Gelenkverschleiß: garantiert. Zahnkronen: bitte nachzählen. Was hatte Aykut noch gesagt? "Vorsicht beim Gasgeben! Der hintere Schlappen dreht noch bis in den dritten Gang durch..." Ob's stimmt? Drosselklappen auf! Jeder Kolbenhub gleicht dem Treffen von Hammer und Amboss. Aus dem Zwei-in-nichts-Auspuff brüllt Teufel persönlich, und die Maschine schnellt vorwärts.

Ein 330-Kilo-Torpedo, der das Gefühl vermittelt, notfalls einem Kampfpanzer ernsthaften Schaden zufügen zu können. Schwarze Striche malt die Stage I allerdings zur zaghaft. Doch nicht der Speed oder die Beschleunigung als solche beeindrucken. Vereinzelte Flammen schlagen aus den Vergasern, umzüngeln die Knie. Links rotiert der offen laufende Primärtrieb, ein Fingerschnipsler par excellence, hinzu gesellt sich die mechanische Sinfonie des Vau: Bleischwere Bauteile mit Spiel, völlig unter Stress, aufgeputscht vom Zorn. Bereit zum Explodieren. Ich freue mich über jeden Meter, den ich unbeschadet überlebe, und jeden Gangwechsel, der meinem kleinen Fuß gelingt.

Es geht zügig voran.Der S&S-Motor hängt sauber am Gas und dreht nach oben heraus relativ frei. Keine Frage, wir nähern uns einander an, die Stage I und ich. Ein Tagtraum, aus dem mich die erste Kurve brutal reißt. Doch was heißt Kurve? Es ist ein leichter Linksknick. Weite Regenlinie, drücken, drücken! Fester drücken - na bitte, wer sagt's denn? Mit rund 60 km/h bollert die Stage I in gefühlten 15 Grad Schräglage durch den Knick. Nichts raspelt, und die Schräglage mit dem Bolzen euphorisiert. Weil man sich wie ein Kind freut, diesen Brocken abgeklappt zu haben. Gas aufreißen, dritten Gang rein nesteln (hoffentlich ist das Leder meines Schuhes ausreichend abriebfest) und gezielter Anflug auf die erste richtige Kurve. Eine Rechtskurve.

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Es ist die Liebe zum Detail welche die Motorräder von Aykut so einzigartig macht.

Dass ich diese Zeilen überhaupt tippen kann, verdanke ich dem Umstand, dass es im Augenblick des Einlenkens keinen Gegenverkehr gab. Denn die Stage I hasst Rechtskurven wie der Chrom den Rost. Erstens: Beide Räder laufen wegen der ausladenden Primär- und Sekundärtriebe nicht in einer Linie - das Hinterrad ist leicht rechtsversetzt verbaut. Zweitens: Der Spurversatz erhöht sich zusätzlich mit jedem Grad Schräglage, denn die Auflagefläche des 330er-Hinterrades wandert nach außen. Und da gibt’s viel zu wandern. Wer die Kiste rechts runter drücken will, kämpft gegen gewaltige Aufstellkräfte. Kräfte, mit denen ich niemals gerechnet hätte. Wir schießen auf den Graben zu. Erster Gedanke: 95000 Euro - dafür muss ich 53 Monate arbeiten. Netto. Kohle für Butter oder Obst Fehlanzeige. Zweiter: In der Stage I stecken 1800 Stunden Arbeit - ich weiß nicht, was erboste Türken mit ihren Feinden machen. Also bremsen, sofort!

Gottlob verbeißen sich insgesamt drei Sechskolben-Festsättel in ihre Bremsscheiben und verzögern ordentlich. An Schräglage oder auch nur den Hauch von Ideallinie ist überhaupt nicht zu denken, Stichwort Aufstellmoment. Nur noch ein Meter bis zum vermuteten Einschlag. Ich öffne die Stopper, hänge mein ganzes Gewicht rein, um die Kiste wieder auf meine Straßenseite zu wuchten. Es klappt. Irgendwie. Adrenalinaufgeputscht rauschen wir auf die nächste Kehre zu. Links. Weit ausholen, runter in den Zweiten, Gas sachte aufziehen. Bitte, geht doch. Und es geht auch rechts. Mit aller Kraft zwar, aber wenn man’s weiß, kann man sich drauf einstellen. Angstschweißgebadet erreiche ich die Albhochfläche. Stolz beult sich die Brust und irgendwie kommt es mir trotz fünf Grad plus plötzlich heiß vor.

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Selbst die berühmten Kollegen aus Orange County zeigen sich von der Handwerkskunst des 48-Jährigen beeindruckt.

15 Kilometer liegen hinter mir. Aykut steigt aus dem Wagen und will wissen, wie es war. "Abenteuerlich", gebe ich ehrlich zu. Der Mann mit dem Zopfbart rammt sich die Hände in die Taschen, blickt sinnierend auf sein Werk. Vielleicht ahnt er, wie sehr mich die Eigenheiten der Stage I überrumpelt haben. Vielleicht auch nicht. Dieses Ding hier ist einer seiner wahr gewordenen Träume. Ein Motorrad, das nicht die geringste Schwäche des Piloten duldet und jeden noch so kleinen Fahrfehler sofort und hart bestraft. Eine Maschine, auf die man sich zu hundertzehn Prozent einstellen muss, die alles von einem fordert. Und im Gegenzug unvorstellbar viel schenkt. Jeder Kilometer wird zum Abenteuer. Jeder Halt zur großen Bühne. Vier Stunden werde ich die Stage I noch fahren dürfen. Ich freue mich wie ein Kleinkind über Schokolade. Es ist eine Ehre. Besonders, weil ich so klein bin.

Technische Daten

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Via Airbrush hat sich der Customizer auf dem Tank seiner Stage I verewigt.

Motor:

Luftgekühlter S&S-V2-Viertaktmotor, zwei Ventile pro Zylinder, untenliegende Nockenwelle, Stossstangen, Kipphebel, zwei Weber-Doppelvergaser mit 45er-Drosselklappen, Trockensumpfschmierung, Verdichtungsverhältnis 10,8:1, verstärktes, schräg verzahntes Sechsganggetriebe, hydraulisch betätigte Kupplung, Sekundär- und Primärtrieb über Zahnriemen. Bohrung x Hub 105 x 117,5 mm Hubraum 2030 cm³

Nennleistung: zirka 110 kW (150 PS) bei 6000/min Max.

Drehmoment: zirka 220 Nm bei 3500/min.

Fahrwerk: Drag-Style-Rahmen, OMP-Gabel mit AT- Gabelbrücke, Luftfederbein mit variablem Federweg, Edelstahl-Schwinge mit integriertem Ölausgleichsbehälter, PM-Doppelscheibenbremse vorn, Ø 330 mm, PM-Scheibenbremse hinten, Ø 305 mm, Sechskolben-Festsättel. Räder mit je 80 Speichen.

Felgengröße v/h:    4 x 18 / 12 x 17

Reifen v/h:         130/60 ; 330/30

Maße und Gewichte: Gesamtlänge 2400 mm, Radstand  1830 mm, Lenkkopfwinkel 42 Grad, Nachlauf 105 mm, Sitzhöhe 440  mm, Federweg v/h 65/50 mm,  Gewicht vollgetankt 330 kg, Tankinhalt 12 Liter. Bauzeit 1800 Stunden Preis 95000 Euro

Besonderheiten: Fast alle Bauteile wie Scheinwerfergehäuse (mit Bi-Xenon-Leuchteinheit von Porsche), Auspuffanlage, Lenker, Tank, Schwinge, -Sattel (mit Rochenlederbezug), Bugspoiler, Radnaben, Steckachse oder Rahmen werden von A.T. American Cycles handgefertigt.

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