Handling Spezial

Handling Spezial
Lustspiel in vier Akten

Zuletzt aktualisiert am 13.09.2002
Lustspiel in vier Akten
Foto: Gargolov

»Schhhhhhh - jetzt fliegt sie ab!!!!« Mit spitzem Mund und verkniffen Augen kommentieren die MOTORRAD-Tester das waghalsige Tänzchen von Corinna mit der BMW R1150 GS. Corinna Ehmann, im echten Leben als Produktionerin in der Redaktion für makelloses Schriftbild zuständig, verdreht heute der Testcrew auf ganz andere Art die Köpfe als sonst. Als, na sagen wir, waschechte Motorrad-Amateurin ist sie mit den Profis auf der Suche nach dem Handling-König. Dass die zierliche Person ausgerechnet mit dem übergewichtigen Enduro-Monster wie von der Tarantel gestochen durch den MOTORRAD-Handling-Parcours Nummer 2 witscht - nein, damit hatte niemand gerechnet. Am allerwenigsten Corinna selbst. »Was für ein Brocken,« hatte sie geseufzt und das bajuwarische Schiff vom Seitenständer gestemmt, aber bereits in der zweiten Runde durch wackere Schräglagen scheinbar die Physik auf den Kopf gestellt. Der dickste Brummer sauste mit ihr am schnellsten durch den S-förmig angelegten Slalom-Parcours Nummer 2. Wie kommt’s? Ganz einfach. Weil Corinna im Intensivkurs die Tipps und Tricks der MOTORRAD-Testcrew gelernt hat, und dazu gehört auch ein wichtiger Grundsatz: In der Ruhe liegt das Geheimnis schneller Runden. Schon bei der ersten Pylone nach dem Start muss die Linie stimmen, wer hektisch losdrischt, verheddert sich spätestens in der dritten Kurve und verliert komplett den Rhythmus. Das passiert auch dann, wenn mit zu niedriger Gangstufe und zu hoher Motordrehzahl durchgebolzt wird. Das fühlt und hört sich zwar höchst dynamisch an, macht das Kurventänzchen jedoch viel zu hektisch und abgehackt.
Womit wir schon am Knackpunkt der Geschichte angelangt sind: Handling steht nie und nimmer für sich alleine, perfektes Handling ist mehr als eine leichte, agile Lenkung. Denn was Corinna mehr beeindruckt als die Wendigkeit der schmal bereiften BWM R 1150 GS, ist das neutrale Kurvenverhalten. »Nix kippelt, nix sträubt sich, sie lenkt ein, als ob sie Gedanken lesen könnte. Das ist viel mehr wert als ein federleichtes Lenkverhalten«, freut sich die Produktionerin, die ihre heißgeliebte Suzuki SV 650 bislang als Traummotorrad verehrte. Mit der kompromisslos auf Supersport getrimmten Yamaha YZF-R1 und der ZRX 1200, deren Rohrlenker tatsächlich nur 20 Millimeter breiter ist als die Stummel der Yamaha, kommt sie nicht so recht in Schwung. Da liegt ihr die KTM Supermoto, ebenfalls mit extrabreitem Lenker ausgerüstet, schon besser. Platz zwei in der objektiven Messung, aber Platz eins in der höchst emotionalen Wertung »Spaßfaktor«.
»Her mit der Kuh!« Testperson Nummer zwei wird ungeduldig. Stefan Weber, Grafiker bei MOTORRAD und Besitzer höchst spezifischer Kräder, unter anderem einer aufgepeppten Buell und einer Triumph Speed Triple für die eher gepflegte Ausfahrt. Stefan lässt die Kuh mächtig fliegen, scharrt mit den Zylinderdeckeln ungeduldig übern Asphalt und nagelt – patsch - mit der BMW R 1150 GS kurzerhand die drei Konkurrenten an die Wand. »Gibt’s doch nicht«, grübelt der routinierte Vielfahrer über seinen persönlichen Rekord, den er doch eher der Kawasaki oder Yamaha zugetraut hätte. Und wenn schon nicht diesen beiden, dann seinem heimlichen Schwarm, der KTM, die er auf Platz zwei lenkt.
Nur eine halbe Sekunde schneller als Grafiker Stefan scheucht der MOTORRAD-Testprofi die R 1150 GS durch den Slalom, markiert jedoch mit schmalen schwarzen Streifen in den Kurven das physikalische Ende der Fahnenstange. Nur noch ein Hauch von Sicherheit trennt den Boxer vom Unfallschaden. So landet die GS beim Profi auf Platz drei hinter der KTM Supermoto und der Yamaha R1. Die Kawasaki lahmt, kommt nicht in die Gänge und sorgt mit höchst merkwürdigem Schunkeln und Eiern für lange Gesichter. »Der Hinterradreifen«, kommentiert der Testprofi die Unstimmigkeiten und montiert einen neuen Gummi. Dass der alte Pneu mit 50 Prozent Restprofiltiefe der Grund für die lästige Kippeligkeit sein sollte, war für Corinna und Stefan nicht einzusehen. Tatsächlich ist Verschleiß bei vielen Maschinen für einen schleichenden Abbau an Handlichkeit und Lenkpräzision verantwortlich. Mehr dazu in Teil drei.
Szenenwechsel, die BMW kurvt jetzt durch den schnellen Testparcours Nummer 1, bei dem die Kandidaten mit bis zu 120 km/h durch die Pylonen wirbeln. Und schon hat der Spaß ein Loch. Corinna zerrt mächtig am breiten BMW-Lenker, schafft noch einmal knapp persönliche Bestzeit und ihre höchste Geschwindigkeit, moniert jedoch das instabile Schaukeln des Boxers mit seinen langen Federwegen und der weichen Abstimmung, die wenig Rückmeldung und Sicherheit vermitteln. Breites Grinsen auf der KTM, weil beim Supermoto-Floh über den breiten Lenker genügend starke Impulse eingeleitet werden, um flott durch die Pylonen zu zippen.
Stefan Weber, großgewachsen und fahrfertig locker 100 Kilogramm schwer, schaukelt mit der BMW auf den letzten Platz und stellt in diesem Parcours die ausreichend straff abgestimmte Kawasaki und die kernige Yamaha auf die vorderen Plätze, gefolgt von der KTM Supermoto. Warum? Weil beim zackigen Schräglagenwechsel ein stabiles Fahrwerk mit kurzen Federwegen Garant dafür ist, dass sich die Lenkgeometrie nicht dramatisch verändert und sich die Fahrzeugmasse nicht aufschaukelt. Einzig die tief platzierten Lenkerstummel an der YZF-R1 stören an dem sehr langsamen, einer Spitzkehre ähnlichen Wendepunkt. Dort zeigt auch die Kawasaki Schwächen und erfordert eine hohe Gegenlenkkraft, um einen schönen runden Bogen hinzuzirkeln.
Zwischen dem weit gesteckten, schnellen Pylonenwald brennt der MOTORRAD-Testfahrer mit der Yamaha Bestzeit in den Asphalt. Klare Vorteile: die sehr leichten Räder für geringe Kreiselkräfte, eine verwindungssteife Telegabel, welche die Lenkimpulse direkt und präzise umsetzt und hochwertige Federelemente mit fein justierbarer Dämpfung. Denn im Gegensatz zum Parcours Nummer 2 stellen die abrupten Richtungswechsel bei über 100 km/h höchste Anforderungen ans Chassis. Motorräder mit schweren Rädern (21-Zoll-Drahtspeichenräder, massive Gussräder) oder verwindungsanfällige Telegabeln (lange, dünne Standrohre und Achsen) haben in diesem Teil der MOTORRAD-Teststrecke alle Mühe und kegeln beim Versuch, schneller zu fahren, als die Physik es erlaubt, regelmäßig die Pylonen von der Piste. Auch dazu mehr im zweiten Teil, der die fahrphysikalischen Hintergründe beleuchtet.
So, und unterm Strich stehen Ergebnisse, die auf den ersten Blick einen ganzen Berg an Fragezeichen aufwerfen. Für die MOTORRAD-Crew, die Woche für Woche ganz verschiedene Maschinen durch die Testmangel dreht, lassen sich die Unterschiede jedoch leicht erklären.
So ist es kein Zufall, dass an die Wertung »Handling« in der 1000-Punkte-Tabelle direkt die Kriterien Kurvenstabilität und Lenkpräzision angegliedert sind. Wie bereits anfangs erwähnt: Handling steht nie und nimmer für sich alleine, sondern geht immer einher mit Kurvenstabilität und Lenkpräzision. Dass das subjektive Empfinden für Handlichkeit auch mit den ergonomischen Verhältnissen wie der Sitzposition oder der Lenkerbreite zusammenhängt, zeigen die Ergebnisse von Testfahrerin Corinna, die die physikalisch mögliche Grenze einer Yamaha R1 nicht ausloten kann, weil ihr die zusammengefaltete Sitzposition nicht behagt. Auf der anderen Seite ist sie von der phantastischen Lenkpräzision und Stabilität der Yamaha restlos begeistert.
Anders sieht es bei Stefan Weber und dem MOTORRAD-Testfahrer aus. Mit viel Routine und Hunderttausenden Kilometer Erfahrung, schießen sich beide nach wenigen Metern fast instinktiv auf die einzelnen Motorrad-Konzepte ein, verstehen wie das Motorrad dirigiert werden muss und setzen diese halb im Unterbewusstsein gewonnenen Erkenntnisse in gute Rundenzeiten und einen hohen Kurvenspeed um. Aber auch bei den Routiniers ist, wie bei Corinna, Handling nur die halbe Miete. Blitzschnelle Lenkreaktionen nützen nichts, wenn das Motorrad unkontrolliert in Schräglage kippt, beim Beschleunigen widerspenstig von der Ideallinie nach außen drängt oder beim Einlenken vor lauter Überhandlichkeit am gewünschten Scheitelpunkt vorbeisaust. Was aber hat der synthetische Slalomparcours mit dem echten Leben zwischen Schwarzwald und Eifel zu tun? Viel mehr als Zahlen und Messwerte vermuten lassen. Um es mit den Worten unserer Gastfahrer auszudrücken, die vier Motorräder noch einen ganzen Tag lang über anspruchsvolle Landstraßen-Teststrecken scheuchten: »Unglaublich, was auf dem Handling-Parcours funktioniert, funktioniert exakt im gleichen Maß auf der Landstraße - oder eben auch nicht.« Und weil die beiden beim Pylonenwedeln nicht mehr zu bremsen waren, wird das MOTORRAD-ACTION-TEAM im nächsten Jahr einen Wedelkurs mit Tipps und Tricks der Testprofis aufziehen.

So wertet MOTORRAD

Weil in der vielschichtigen Motorradszene keine klare Definition des Begriffs Handling zu finden ist, erstellte MOTORRAD ein Testhandbuch, in dem alle Begriffe der 1000-Punkte-Wertung klar definiert sind. Unter Handlichkeit steht: ...Gute Handlichkeit zeichnet sich aus durch geringe Lenkkraft, geringe Lenkkraft bei Korrekturen des Kurvenradius, wenig Kraftaufwand bei Schräglagenwechseln, geringer Kraftaufwand, um das Motorrad in konstanter Schräglage zu halten. Analyse: Handlichkeit wird in allen Geschwindigkeitsbereichen vom Stadtverkehr über schnelle Landstraßen bis zu schnellen Autobahnkurven bewertet. Supersportler müssen müssen außerdem für die Zusatzwertung ihre Handlichkeit auf der Rennstrecke beweisen.

Technik transparent: Fachbegriffe erklärt

Lenkkraft: Darunter versteht man die Kraft, die der Fahrer über den Lenker für einen Richtungswechsel einbringen muss. Breite Lenker erleichtern durch die größere Hebelwirkung diesen Vorgang. Vorteilhaft für eine geringe Lenkkraft sind: leichte Räder mit geringen Kreiselkräften, steiler Lenkkopf, kurzer Nachlauf und Radstand.Lenkpräzision: Dieses Kriterium beschreibt, ob das Motorrad der vom Fahrer gewünschten Linie folgt oder ob die Kurvenlinie und Schräglage korrigiert werden müssen. Störend wirken sich hierbei Reifen mit ungünstiger Kontur, eine zu handlich ausgelegte Fahrwerksgeometrie oder zu weich abgestimmte Federelemente aus. Kurvenstabilität: Bei diesem Begriff fließen die unter Lenkpräzision aufgeführten Kriterien teilweise mit ein. Dazu kommt das Fahrverhalten beim Überfahren von Bodenwellen oder Trennfugen in Schräglage und die Stabilität beim Einbremsen und Beschleunigen in Kurven. Vorteilhaft wirken sich dabei straff und harmonisch abgestimmte Federelemente und Reifen mit stabiler Karkasskonstruktion aus. Aufstellmoment beim Bremsen in Schräglage: In Kurven verlagert sich der Aufstandspunkt der Reifen zur Kurvenseite hin. Wird dabei die Bremse betätigt, will die Lenkung durch den Hebelarm zwischen Lenkachse und Vorderreifenaufstandspunkt in die jeweilige Kurvenrichtung einschlagen. Dadurch richtet sich das Motorrad aus der Schräglage auf. Je breiter der Vorderradreifen, desto stärker das Aufstellmoment, das der Fahrer durch eine Gegenlenkkraft ausgleichen muss, um die gewünschte Schräglage und damit Kurvenlinie beizubehalten.Eigenlenkverhalten in Kurven: Manche Motorräder neigen dazu, in engen Kurven nach innen zu kippen, quasi in die Kurve hineinzufallen. Der Fahrer muss dies durch Gegendruck am Lenker ausgleichen. Bei höheren Geschwindigkeiten ist oft ein anderes Symptom zu beobachten: Das Motorrad will Weite Bögen fahren und muss mit Lenkkraft und Körpereinsatz in die Kurve gezwungen werden.