Warum Aprilia Tuono V4 Factory und Ducati Streetfighter V4 S sehr ähnlich und doch so verschieden sind, zeigt dieser Vergleichstest.
Warum Aprilia Tuono V4 Factory und Ducati Streetfighter V4 S sehr ähnlich und doch so verschieden sind, zeigt dieser Vergleichstest.
Wenn die pure Unvernunft ruft, musst du stark sein. Du weißt, sie wird sonst Besitz von dir ergreifen. Aber kannst du es? Wegschauen, wenn eine wunderschöne Italienerin vor dir lehnt, bereit, dich in den Sattel zu nehmen? Weghören, wenn sie dir mit lieblicher Stimme das Lied der Leidenschaft im V4-teltakt ins Ohr haucht? Widerstehen, wenn sie dir auf dem Datenblatt aberwitzige Leistungsangaben präsentiert und zum Tanz gebeten werden will? Wenn du bis hierher gelesen hast, brauchst du es gar nicht versuchen, es ist eh schon zu spät.
Allein beim Anblick der beiden schlägt das eigene Herz höher. Auf unterschiedliche Weise. Ducatis Streetfighter V4 S trägt zum Test Mattschwarz und grinst aus der knappen Frontmaske. Die Symbiose aus filigran und muskulös wirkt gefährlich, breit ausgestellte Winglets machen Eindruck. Dagegen scheint die Tuono V4 Factory aus Noale beinahe konservativ. Ihre Aprilia-Einheitsfront, wie gewohnt recht breit, macht eher auf Super- als auf radikales Naked Bike, und die Fast-Vollverkleidung versteckt ihre Luftleitkanäle geschickt.
Und auch in Sachen Power ist die Poserin unter den Poserinnen die Ducati Streetfighter V4 S. 208 sagenhafte PS leistet ihr Motor. Wir wollen jedes davon spüren, also ab auf die Bikes und mit ihnen auf die Tanzfläche, die Landstraße. Dort gibt sich der 90-Grad-V4 mit 70 Grad Hubzapfenversatz der Ducati zunächst handzahm. Gasbefehle werden samtig in kalkulierbaren Vortrieb umgewandelt, von über 200 an der Kette reißenden PS keine Spur. Die Streetfighter hält das Drehmoment-Gatter in Gang 1 und 2 nämlich elektronisch noch recht weit geschlossen, in Gang 3 und 4 schon weniger und ab dem 5. liegt die volle Kraft an. Dann gibt es kein Halten mehr, und die Streetfighter macht bei der Durchzugsmessung klar, dass sie mehr kann als nur Posen.
Die Aprilia Tuono V4 Factory natürlich genauso, auch wenn sie bei den Fahrleistungen hinten liegt. Ihr nicht ganz so weich ans Gas gehender 65-Grad-V4 kämpft eindeutig mit der neuen Euro-5-Konfiguration. Zwischen 4.000/min und 5.000/min leistet er sich einen ausgeprägten Drehmomenthänger, der im Fahrbetrieb deutlich spürbar wird. Darüber geht’s auch richtig zur Sache, und die Tuono hält im scharfen Mapping "1" nur im 1. Gang Leistung zurück. Ab Gang 2 (in den moderaten Mappings ab Gang 3) gibt’s volle 175 PS. Um sie abzurufen braucht es Drehzahl – und das bedeutet, dass die voluminöse Stimme der Aprilia ungedämpft in die Umgebung schallt. Für Fans Gänsehautfeeling, alle anderen aber wünschen sich eine deutlich dezentere Lautstärke. Immerhin ist es möglich, die Tuono bis 5.000/min leise zu bewegen, um innerorts nicht negativ aufzufallen.
Auf der Ducatis Streetfighter V4 S wird selbiges Vorhaben zur unlösbaren Aufgabe. In einem minimalen Geschwindigkeitsbereich um 50 km/h flüstert sie angenehm, darüber und darunter bollert der V4 im sich akustisch klar unterscheidenden V2-4-teltakt dahin. Und wer mit der Ducati eine kurvige Steige erklimmt, lässt seine Umgebung am Fortschritt dieses Unterfangens teilhaben, egal wie früh er oder sie über den vorzüglichen Schaltautomaten (natürlich mit Blipperfunktion) im präzisen Getriebe den nächsten Gang einlegt. Der Tuono-Reiter hat den Lärmpegel noch in der Gashand und hält ihn mit niedrigen Drehzahlen – Schaltassistent und Getriebe funktionieren ebenfalls prächtig, die Schaltwege sind minimal länger – im sozialverträglichen Rahmen.
Apropos kurvige Steigen: Hier beginnt der schwungvolle, der richtig spaßige Teil des Tanzes. Die jüngst mit der neuen Schwinge im MotoGP-Style ausgestattete Aprilia Tuono V4 Factory gleitet dabei wie folgt über die graue Fläche. Über die wunderbar dosierbare Bremse baut sie Geschwindigkeit ab. Egal ob noch am Bremshebel oder nicht, winkelt sie willig, aber nicht überhandlich ab, lehnt sich an den Flanken der Pirelli Diablo Supercorsa SP an und gibt zu jeder Zeit glasklares Feedback vom Vorderrad an die Hände. Zwischenwünsche zur Kurskorrektur nimmt sie ohne Bearbeitungszeit oder Beschwerden entgegen. Den Ausgang anvisiert, richtet sie sich mit dem Gas wieder auf und freut sich schon auf die nächste Runde.
Und die Ducatis Streetfighter V4 S? Sie bereitet die Tanzfiguren über eine noch feiner dosierbare Bremse vor (mit Brembo-Stylema- statt – wie bei der Tuono – Brembo-M50-Sätteln) und klappt einen Tick flinker aus der Senkrechten in Schräglage. Über den hohen Lenker und die nicht ganz so supersportlichen Pirelli Diablo Rosso Corsa 2 liefert sie ab hier weniger klares Vorderrad-Feeling und kommt der Wie-auf-Schienen-Stabilität der Tuono zwar nah, aber erreicht sie nicht ganz.
Doch eben jener hohe Lenker punktet auf längerer Tour. Aufrechter Oberkörper, dazu moderater Kniewinkel und weiches Sitzpolster – der Ducatis Streetfighter V4 S fehlt eigentlich nur noch etwas Windschutz, und einem Tanz-Marathon stünde nichts mehr im Wege. Auch weil das semiaktive Fahrwerk Öhlins Smart EC 2.0 im moderaten Road-Modus sämig dämpft und besonders das Federbein mit feinem Ansprechen Schläge zuverlässig absorbiert. Im Sport-Setup wird’s deutlich straffer, fürs glatt gebügelte Parkett perfekt.
Da in der Tuono auch jene semiaktive Öhlins-Hardware steckt, gilt dieses Verhalten im Grunde gleichermaßen für sie. Die Abstufung der drei semiaktiven Modi liegt aber deutlich enger beieinander, und sogar der moderate Modus "A3" ist im Grundsetup noch recht straff, was zur sportlicheren Auslegung mit tiefem Lenker und viel Druck auf den Handgelenken passt. Umfangreiche Möglichkeiten der elektronischen Fahrwerksfeinjustage bieten Aprilia Tuono V4 Factory und Ducatis Streetfighter V4 S gleichermaßen, die Werkssetups funktionieren aber bei beiden sehr gut und bedürfen für den normalen Betrieb keiner Änderung.
Während des Tanzes Fahr- und Fahrwerksmodi zu wechseln, wird auf der Ducatis Streetfighter V4 S zur etwas größeren Herausforderung, denn man muss dafür im Cockpit erst das Menü aufrufen. Auf der Aprilia Tuono V4 Factory lassen sich dagegen Modi, Traktions- und Wheelie-Kontrolle sowie Fahrwerksmodi unkompliziert durchswitchen. Die Fahrassistenten selbst agieren bei ihr auf hohem Niveau. Ihre Traktionskontrolle gibt in den oberen der acht Modi nur wenig Power in Schräglage frei, in der mittleren Einstellung regelt sie auf der Landstraße auch bei flottem Tempo kaum noch. Beim ABS sieht’s etwas anders aus, in Modus 2 und 3 greift es früh ein, Modus 1 ist für sportliche Fahrweise fast Pflicht (Achtung, dann ist der Blockierverhinderer hinten inaktiv). Noch einen Tick besser präsentiert sich das Elektronikpaket der Ducati. Traktionskontrolle und ABS liegen auf gleichem Niveau bei Abstimmung und Einstellmöglichkeiten, dazu kommt aber eine Wheelie-Kontrolle, die den Tanz auf Wunsch mit Hebefiguren anreichert und das Vorderrad schweben lässt, während die Aprilia lieber beide Räder am Boden behält und das vordere auch mal hart darauf zurückholt.
Weil diese Wirbelei auf Dauer anstrengt, legen wir eine Pause an der Benzin-Bar ein. Aprilia und Ducati haben Durst. Aus den 6,3 Litern Verbrauch der Streetfighter und den 6,4 Litern der Tuono bei moderater Fahrweise werden beim engagierten Swing schnell mal über acht. Wirtschaftlichkeit spielt bei diesen beiden eindeutig eine untergeordnete Rolle, aber das wissen ihre Tanzpartner schon seit dem Kauf. Mit knapp 21.000 Euro ist die Tuono V4 Factory kein Schnäppchen, für die auf den zweiten Blick edler und liebevoller verarbeitete Streetfighter V4 S müssen noch mal rund 2.500 Euro draufgelegt werden – Grundpreis. Stolze Summen.