BMW R nineT, Moto Guzzi Griso 1200, Yamaha XJR 1300 und Honda CB 1100 im Vergleich

BMW R nineT, Moto Guzzi Griso 1200, Yamaha XJR 1300 und Honda CB 1100 im Vergleich Fernab von Kurven-ABS und Traktionskontrolle

Wenn zwischen Bürostuhl und heimischer Garage noch ein ganzer Arbeitstag liegt, braucht man ein besonderes Motorrad, um die Vorfreude bis zur Feierabendtour aufrechtzuerhalten. Fernab von Kurven-ABS und Traktionskontrolle beweisen diese vier luftgekühlten Retro-Bikes, dass Motorradfahren vor allem eines hervorbringen muss: Gefühle.

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Vor dem Café im südfranzösischen Cassis bleiben immer mehr Menschen stehen. Das Interesse gilt nicht leicht bekleideten Frauen, sondern vier luftgekühlten, nackten Retro-Bikes, deren Motoren sich knisternd und knackend von der Arbeit erholen. Das bringt einen Motorrad-Tester schnell zum Grübeln. Denn eifern die Zweirad-Hersteller mit technologischen Neuheiten um die Wette, begeistern gerade die Puritaner der Modellpaletten die Passanten.

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BMW R nineT, Moto Guzzi Griso 1200, Yamaha XJR 1300 und Honda CB 1100 im Vergleich Fernab von Kurven-ABS und Traktionskontrolle
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Ob die Seele beim Blick auf das eigene Motorrad jubiliert, entscheidet keine Griffheizung – das weiß man schon lange. Aber welch unheimliche Anziehungskraft die BMW R nineT, Moto Guzzi Griso 1200, Yamaha XJR 1300 und Honda CB 1100 in Südfrankreich auslösen, öffnet einem abermals die Augen dafür, was Motorradfahren so intensiv macht: Gefühle. Das mag zwar kitschig klingen, trifft aber den Kern. Dass jener Kern stets anders ausgefüllt sein kann, beweist jedes dieser vier Motorräder auf jeweils eigene Weise.

BMW R nineT – der Edel-Roadster

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Herrlich, wie euphorisierend sich die ehrliche und transparente Technik der BMW R nineT auf den Organismus auswirkt. Mit jeder Kurve beginnt die Perfektion dieses Handlungsablaufs von vorn, der Fahrer grinst nach jeder Kurve breiter durchs Visier.

Selbst wenn man mit den Bayern auf Kriegsfuß steht, muss man beim Blick auf die BMW R nineT eingestehen, dass die Münchner mit ihr das bisher schönste Motorrad abliefern. Ketzerische Stimmen sagen: ihr erstes schönes. Gut, das könnte sein. Die konsequente Umsetzung des Edel-Roadsters beginnt zur Freude vieler beim Fahrwerk. Endlich erhält man neben der Supersport-Rakete S 1000 RR und der nackten Kanone S 1000 R eine BMW, die ohne Telelever an den Start geht. Mit konventioneller Upside-down-Gabel ausgestattet, kommt sie nun für all jene in Frage, für die ein glasklares Feedback von der Front genauso ­unverzichtbar ist wie der Ketchup auf der Currywurst.

Genussvoll saust man nun mit dem luftgekühlten Boxer auf eine enge Kurve zu, greift zunächst kräftig in die mit einem tollen Druckpunkt versehene Vorderradbremse, gibt sie mit dem Einlenken ins Eck sukzessive frei, um sie erst in tiefer Schräglage völlig zu lösen. Herrlich, wie euphorisierend sich ehrliche und transparente Technik auf den Organismus auswirkt. Mit jeder Kurve beginnt die Perfektion dieses Handlungsablaufs von vorn, der Fahrer der BMW R nineT grinst nach jeder Kurve breiter durchs Visier.

Naked Bike
Modern Classic

Straße lässt sich mit der BMW R nineT förmlich erfühlen

Die Conti-Schlauchreifen unterstützen das Feedback dabei hervorragend und verzahnen sich selbst bei kühlen Bedingungen energisch mit dem Asphalt. Nie braucht man als Fahrer über die Beschaffenheit der Haftverhältnisse zu zweifeln. Gleiches gilt für das Hinterrad der BMW R nineT, über dessen Kontakt zur Fahrbahn ein eher straff ausgelegtes Zentralfederbein wacht. Da es zudem nicht mit einem feinen Ansprechverhalten ausgestattet ist, poltert man auf welligem Fahrbahnbelag langfristig die Bandscheibe zum Vorfall. Wer noch nicht mit altersbedingten Krankheitssymptomen zu kämpfen hat, erntet dafür ein traditionelles Fahrgefühl par excellence. Und mehr als das: Wen schert schon der mäßige Federungskomfort, wenn man dem Boxer an jedem Scheitelpunkt genau so kräftig die Sporen geben kann, wie es der Grip gerade noch zulässt? Mit dem optimal in der Hand liegenden Lenker und der harten Sitzbank lässt sich die Straße mit der BMW R nineT förmlich erfühlen.

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Selbst wenn man mit den Bayern auf Kriegsfuß steht, muss man beim Blick auf die R nineT eingestehen, dass die Münchner mit ihr das bisher schönste Motorrad abliefern.

Das Gefühl, das die BMW R nineT transportiert, ist einmalig: ultradirekt, super ehrlich und nichts für Wasserbett-Besitzer. Mehr Komfort bieten andere Modelle, nur steht keines mit einer solch edlen Anmutung beim Händler. Selbst nach drei Tagen intensiver Auseinandersetzung mit dem 222 Kilogramm leichten Edel-Boxer findet man noch Schräubchen am Krad, an denen man erkennen kann, wie viel Liebe in dieses Motorrad geflossen ist. Vom geschmiedeten Aluminium-Handrad der hydraulischen Federbeinverstellung über die schicke, ebenfalls geschmiedete Gabelbrücke mit konisch zulaufenden Schraubdomen bis hin zum selbstbewusst in Szene gesetzten BMW-Emblem im Rundscheinwerfer. Wertige Materialien treffen auf feine Verarbeitung, elegante Linienführung und sensationelles Finish. Wer immer noch kritisch auf die Bilder äugt, muss in Gedanken nur mal über den gebürsteten und mit Klarlack überzogenen Alu-Tank streicheln. Danach versteht man die Begeisterung für die BMW R nineT, die sich auch vor dem Café in Cassis bei den vorbeischlendernden Passanten breit macht.

Markant hängt der zwischen dem vorderen und hinteren Teil des Stahlgitterrohrrahmens als tragendes Element integrierte Boxermotor im Wind. Das luftgekühlte Herz­stück, das man letztes Jahr zugunsten eines wassergekühlten Hochleistungsboxers kurzzeitig zur Geschichte erklärte, erlebt in der BMW R nineT seine Wiedergeburt. Oder besser: seine Auferstehung in endgültiger Bestimmung.

Sitzpolster erlaubt keine Mammut-Etappen

Spätestens wenn der Startknopf die mächtigen zwei Zylinder in Wallungen versetzt, erfolgt die symbiotische Vereinigung von Motor und Fahrwerk als evolutionäres Endstadium. Diese anregende Optik, dieses Wachrütteln des gesamten Krads durch die längsliegende Kurbelwelle und die hohen Schwungmassen lassen das Fahrerherz im Gleichtakt mit dem Boxer pulsieren. Der unverfälschte Blick auf die seitlich herausragenden Zylinder unterstützt dieses Gefühl ungemein. Wer die Liebe auf den ersten Blick nie erfahren durfte, kann das ab sofort für 14.500 Euro nachholen. Dass das Sitzpolster der BMW R nineT keine Mammut-Etappen erlaubt, der Kniewinkel für Menschen über 1,85 Meter sportlich ausfällt und der (ansonsten unauffällige) Kardanantrieb beim Runterschalten ein stempelndes Hinterrad begünstigt, darf getrost vernachlässigt werden. Ebenso die nur befriedigende Handlichkeit. Denn mit dem fulminanten Antritt des bis zu 115 Newtonmeter drückenden Aggregats sind jegliche Zweifel wie weggeblasen.

Schon ab 1000 Umdrehungen nehmen die 1200 Kubik Hubraum ohne Murren den Ladungswechsel vor, machen das Fahren im sechsten Gang ab 40 km/h problemlos möglich. Wer von hier an das Gas aufzieht, wird nicht nur mit stets ausreichendem Vortrieb belohnt, sondern auch mit einer einmaligen, unnachahmlichen und keineswegs zurückhaltenden Soundkulisse aus dem linksseitigen Doppelschalldämpfer. Der dabei ausgebreitete, bassige Klangteppich lässt die letzten Zweifler verblassen. Wer braucht schon die 15 zusätzlichen PS aus dem modernen Wasserkocher? Mit in der Spitze bis zu 110 PS steht immer genug Schmackes zur Verfügung. So brät man mit der BMW R nineT mitunter hastig durchs Geläuf, als wäre man auf Partnersuche bei der Hüttengaudi. Dabei kann man es mit dem Motorrad durchaus gelassen angehen.

Ihren Charme versprüht die BMW R nineT auch ohne schnell zu sein. Sie schmeckt schon nach frühlingshaftem Freiheitsdrang, da liegt außerhalb der Garage noch meterhoch Schnee. Ob das italienische Vorbild, die Moto Guzzi Griso, diesen Gefühlsausbruch parieren kann?

Daten

Bauart Motor



Luft-/ölgekühlter Zweizylinder-
Viertakt-Boxermotor, zwei
oben­liegende, kettengetriebene
­Nockenwellen, vier Ventile pro
Zylinder, Schlepphebel, E-Starter
Gemischaufbereitung Einspritzung, Ø 50 mm
Kupplung Einscheiben-Trockenkupplung
Getriebe Sechsgang
Sekundärantrieb Kardan
Bohrung x Hub 101,0 x 73,0 mm
Hubraum 1170 cm³
Verdichtung 12,0:1
Leistung 81,0 kW (110 PS) bei 7750/min
Drehmoment 119 Nm bei 6000/min
Gewicht vollgetankt 222 kg
Höchstgeschwindigkeit  217 km/h
Preis 14.500/15.597* Euro
Nebenkosten 390 Euro
*inkl. Aluminium-Höckersitzbank (395 Euro), Heizgriffen (282 Euro),
Custom-Fahrersitz (280 Euro) und LED-Blinkern (140 Euro);

Moto Guzzi Griso – massig, bassig

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Bildlich gesprochen fährt Hersteller Moto Guzzi bereits seit 2007 in dem Zug, auf den BMW erst jetzt aufspringt. Mit der Griso 1200 8V Special Edition haben die Italiener ein monumentales Kunstwerk im Roadster-Look auf die Beine gestellt.

Sie kann. Bildlich gesprochen fährt Hersteller Moto Guzzi bereits seit 2007 in dem Zug, auf den BMW erst jetzt aufspringt. Mit der Moto Guzzi Griso 1200 8V Special Edition haben die Italiener ein monumentales Kunstwerk im Roadster-Look auf die Beine gestellt. Ganz anders als die BMW R nineT, verzückt sie ihre Betrachter mit massiven und muskulösen Elementen, die sich zu einem geradlinigen Äußeren verbinden. Die Griso begeistert mit einem systematischen Aufbau wie ein Einfamilienhaus mit roter Klinkerfassade.

Unglaublich harmonisch fügen sich der quer eingebaute V-Motor, die Kupplung, das Getriebe und der mächtige Kardanantrieb in ein stimmiges Gesamtbild. Jegliche Teile sind fein verarbeitet, wirken wie für die Ewigkeit gemacht. Die schwarzen Speichenräder, der schwarze Rahmen und der Sitzbankbezug unterscheiden die SE-Version von der bisherigen Standardversionder Moto Guzzi Griso 1200, die seit 2013 nicht mehr im Programm ist.

Dezenter, aber keineswegs weniger emotional

Beim Blick auf die Moto Guzzi Griso 1200 8V Special Edition bleibt man stets bei dessen dominantem Herzstück hängen, dessen Zylinderköpfe bis heute „Quattrovalvole“ zieren. Ein Hinweis darauf, was mittlerweile gang und gäbe ist: vier Ventile pro Zylinder. Selbstbewusst ragen die Zylinder rechts und links schräg nach oben aus dem Stahl-Brückenrahmen heraus. Trotz weit nach hinten verlagerter Sitzposition werden die Beine des Fahrers wegen der platzbedürftigen Motorkonstruktion stark gespreizt. Und auch die Arme müssen sich trotz hoher Riser weit nach vorn strecken, um den Lenker richtig anpacken zu können. So klassisch wie ihr Look ist eben auch die lang gestreckte Sitzposition. Dafür hockt man als Fahrer ganz nahe am Geschehen, wenn das Triebwerk die Arbeit aufnimmt und sich beim An­lassen von links nach rechts schüttelt.

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Ganz anders als die BMW, verzückt sie ihre Betrachter mit massiven und muskulösen Elementen.

An Schwungmasse mangelt es der Moto Guzzi Griso 1200 8V Special Edition jedenfalls nicht. Mit schlürfendem Ansauggeräusch geht sie manierlich ans Gas und pulsiert sich auf den ersten Metern noch etwas unrhythmisch warm. Macht aber nix, denn die montierten Pilot Road 3 von Michelin benötigen ebenfalls eine kurze Warmknetphase. Ausreichend Zeit also, um sich am sonor schnaufenden Auspuffsound zu erfreuen, der eine Spur dezenter, aber keineswegs weniger emotional als der der BMW R nineT ausfällt. Verkehrte Welt, könnte man meinen: Vor einigen Jahren war es noch undenkbar, dass eine BMW lauter stampft als eine Moto Guzzi. Und wo man schon den direkten Vergleich bemüht: Die höhere Gesamtmasse der Griso von insgesamt 248 Kilogramm fällt nicht nur sprichwörtlich ins Gewicht. Mit deutlich mehr Muckis muss die Guzzi ins Eck gewuchtet werden. Sie lässt sich zwar über den gesamten Bereich neutral in Schräglage bringen, hält von kurzfristigen Kurskorrekturen allerdings wenig.

Die Abstimmung der Upside-down-Gabel und des Federbeins, die beide von Showa stammen, können dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Beide taugen sowohl für die flotte Landstraßenhatz als auch für sinnliches Dahinbollern. Sie brillieren im Vergleich zur BMW mit deutlich besserem Ansprechverhalten. So gleitet man mit der Italienerin genüsslich über Schlaglöcher, wo der BMW R nineT-Treiber einen Stoß nach dem nächsten versetzt bekommt. Dass die Moto Guzzi Griso 1200 in puncto Handling nicht vom besser ab­gestimmten Fahrwerk profitiert, liegt auch an ihrem langen Radstand von 1554 Millimetern. Mit etwas Zug am Lenkerende kann man sie dennoch flott über verwinkelte Straßen scheuchen.

In Mandello weiß man, was feine Verarbeitung ist

Dass man in Mandello weiß, was feine Verarbeitung ist, erkennt man rasch – beispielsweise am elegant geschwungenen Heck mit perfekt integriertem Rücklicht, der gefrästen Steuerkopfmutter oder dem mit Lufthutzen versehenen, seitlichen Ölkühler. Die markentypischen, oberarmdicken Krüm­mer sehen nicht nur erstklassig aus, sondern stellen sogleich die Muskeln der Moto Guzzi Griso 1200 zur Schau.

Etwas rustikaler präsentiert sich der Italo-Twin. Er quittiert jeden Gasstoß mit spürbaren Vibrationen. Doch das darf so sein: Sie lassen den Fahrer die Einzigartigkeit der Moto Guzzi Griso 1200spüren. Verwunderlich bleibt beim Rausbeschleunigen auf der Geraden nur, dass die Leistungskurve immer noch zwischen 3500 und 5000 in ein kleines Drehmomentloch purzelt. Aber was soll’s? Schließlich gibt der V2 vor und nach diesem Loch lebendig Zunder und brennt in der Spitze auf dem Niveau der BMW R nineT durch die Botanik.

Entsprechend stolz dürfen Griso-Besitzer auf ihr Bike sein. Es sieht klasse aus, massiert mit seinem Klang die Fahrerseele und bleibt dabei ein exklusives, wertig gefertigtes Motorrad. Mit 14.590 Euro leistet die Moto Guzzi Griso 1200 der BMW R nineT in finanzieller Hinsicht Gesellschaft. Eine Guzzi ist eben nicht für jedermann. Auch das stärkt den Charakter. Und wer mit Exklusivität nichts am Hut hat, sondern auf echtes Muscle-Bike-Feeling Wert legt, wäre mit der Yamaha eh besser bedient.

Hier finden Sie Gebrauchtangebote zur Moto Guzzi Griso

Daten

Bauart Motor




Luft-/ölgekühlter Zweizylinder-
Viertakt-90-Grad-V-Motor, eine
obenliegende, kettengetriebene
Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder,
Kipphebel, E-Starter
Gemischaufbereitung
Einspritzung, Ø 50 mm
Kupplung
Einscheiben-Trockenkupplung
Getriebe
Sechsgang
Sekundärantrieb
Kardan
Bohrung x Hub
95,0 x 81,2 mm
Hubraum
1151 cm³
Verdichtung
11,0:1
Leistung
78,0 kW (106 PS) bei 7100/min
Drehmoment
107 Nm bei 6600/min
Gewicht vollgetankt
248 kg
Höchstgeschwindigkeit 
210 km/h
Preis
14.590 Euro
Nebenkosten
inklusive

Yamaha XJR 1300 – das Original

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Dieses Bike verdient sich vorab eine Verneigung. Nicht weil esirgendwelche Super­lative verkörpert oder Rekorde gebrochen hat, sondern weil es eine Yamaha XJR ist.

Dieses Bike verdient sich vorab eine Verneigung. Nicht weil es irgendwelche Super­lative verkörpert oder Rekorde gebrochen hat, sondern weil es eine Yamaha XJR ist. Mittlerweile schon seit 19 Jahren im Programm (davon 13 Jahre als 1300er), bekommt dieses Motorrad vor Lachen fast ­Tränen in die Augen, wenn es den Begriff ­Retro-Bike hört. Schließlich pumpt sie mit ihrem sahnigen Vierzylinder-Kraftprotz seit ewigen Zeiten als echtes Original über die Straßen der Welt. Was das heißt?

Als letzte Überlebende einer aussterbenden Art hält die Yamaha XJR 1300 tapfer die Fahne der Big Bikes hoch. 1300 Kubikzentimeter Brennraum, verteilt auf vier luftgekühlte Zylinder in Reihe, das Ganze muskulös verpackt in einem stattlichen Stahlrohrrahmen: Die 90er-Jahre-Big-Bike-Ära lebt in Gestalt dieser Yamaha weiter. Gut so, denn optisch materialisiert sich in ihr, was Menschen als Bild im Kopf haben, wenn sie den Begriff „Motorrad“ hören. Okay, das mag von Generation zu Generation leicht differieren, die XJR verbindet aber zahlreiche traditionelle Elemente unterschiedlicher Epochen zu einem sinnhaften Ganzen.

XJR 1300 mit edlen Öhlins-Stereofederbeinen

Man schaue sich nur mal die edlen Öhlins-Stereofederbeine an, die kein Zweirad schöner in die Luft stellt. Der tropfenförmig gestaltete 21-Liter-Tank, der nur leicht gekröpfte Alu-Lenker, die klassischen, in Chrom eingefassten analogen Rundinstrumente, ja, vor allem der stets im Mittelpunkt stehende, massiv verrippte Vierzylinder verbinden Vergangenheit und Gegenwart so wunderbar, dass man sich beim Blick in die Zukunft weiterhin auf der Yamaha XJR 1300 durch die Weltgeschichte brummen sieht.

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Als letzte Überlebende einer aussterbenden Art hält sie tapfer die Fahne der Big Bikes hoch. 1300 Kubikzentimeter Brennraum, verteilt auf vier luftgekühlte Zylinder in Reihe, das Ganze muskulös verpackt in einem stattlichen Stahlrohrrahmen.

Und selbst hinterherfahrende Mopedpiloten werden an die wohligen Zeiten ihrer Geschichte erinnert. Wer das Heck der Yamaha XJR 1300 vor sich sieht, hat unweigerlich die ersten R1-Superbike-Granaten vor Augen. Doch ganz so sportlich wie das Heck suggeriert, düst der 251 Kilogramm schwere Mohikaner erwartungsgemäß nicht über die Hausstrecke. Braucht er aber auch nicht.

Mit den polierten Zylinderkopfdeckeln, dem lauten Knacken und Tickern des sich abkühlenden Motors und der erstklassigen Verarbeitung triumphiert man am nächsten Biker-Treff sowieso. Außerdem darf man sich mit der Yamaha XJR 1300 noch als echter Macker fühlen, muss ordentlich schuften, um die Fuhre in Wechselkurven schnell umzuklappen.

Dafür bedient man das hervorragend rastende Getriebe nur in sehr seltenen Fällen: losfahren, fünften Gang einlegen und rollen lassen. Das ist die Devise der Yamaha. Ob langsame Etappen oder flotte Überholvorgänge, dem Triebwerk ist das ganz und gar schnuppe. Es schaufelt in jedem Drehzahlbereich ausreichend Power an die Kurbelwelle und erhebt das Fahren mit der Yamaha XJR 1300 zu einem souveränen Staatsakt.

Dabei blieb der Motor seit 2007 unverändert. Damals erhielt er eine elektronische Einspritzung, eine klappengesteuerte 4-in-1-Auspuffanlage und drei Katalysatoren, die sich seitdem um die Euro-3-konforme Abgasreinigung kümmern. Dass das dem Motorcharakter nicht schadete, verdeutlicht die Prüfstandskurve. In weiten Teilen überflügelt die Yamaha XJR 1300 nicht nur die drei anderen Gefährten, sondern auch ihre vom Hersteller angegebene Nominalleistung. Ein Kult-Objekt kann sich Understatement eben leisten. Und wer aufgrund der gestreckten, aber noch komfortablen Sitzposition Probleme hat, mit den Fingern den Lenker zu umgreifen, muss einfach zwei- bis dreimal voll durchladen, bis die Extremitäten den 115 Newtonmetern nachgegeben haben.

Spottpreis von 8995 Euro

Wie die Honda steht die Yamaha XJR 1300 auf Aluminium-Gussrädern. Die montierten Dunlop Roadsmart 2 harmonieren dabei bestens mit der XJR, lassen sie herrlich neutral um Radien jeder Art zirkeln. Die voll einstellbare Telegabel liegt in der Grundabstimmung zwar auf der komfortablen Seite, passt aber prima zum gemütlichen, urigen Charakter des Motorrads. Diesen fetten Brummer scheucht man eben nicht nonchalant durchs Geläuf wie einen Supersportler.

Man geht mit ihm spazieren, als hätte man die britische Queen an der Hand. Ehre bekommt, wem Ehre gebührt. So ist das eben. Wenn dieser Traditionalist dann noch zu einem Spottpreis von 8995 Euro im ­Handel steht, spricht nichts gegen eine Investition in die geschichtsträchtige Vergangenheit, turbulente Gegenwart und gefühlsintensive Zukunft zugleich. Höchstens man will definitiv ein japanisches Bike mit ABS haben. Dann kommt eher die Honda CB 1100 infrage.

Daten

Bauart Motor




Luftgekühlter Vierzylinder-
Viertakt-Reihenmotor, zwei
oben­liegende, kettengetriebene
­Nockenwellen, vier Ventile pro
Zylinder, Tassenstößel, E-Starter
Gemischaufbereitung
Einspritzung, Ø 34 mm
Kupplung
Mehrscheiben-Ölbadkupplung
Getriebe
Fünfgang
Sekundärantrieb
O-Ring-Kette
Bohrung x Hub
79,0 x 63,8 mm
Hubraum
1251 cm³
Verdichtung
9,7:1
Leistung
72,0 kW (98 PS) bei 8000/min
Drehmoment
108 Nm bei 6000/min
Gewicht vollgetankt
251 kg
Höchstgeschwindigkeit 
213 km/h
Preis
8995 Euro²
Nebenkosten
180 Euro
²Angebotspreis bis 30.06.2014

Honda CB 1100 – die Entspannte

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Knapp 400 Garagen beherbergen eine Honda BN 1100 seit dem letzten Jahr. Das als Hommage an die CB 750 Four konzipierte Retro-Bike war ursprünglich nur für den japanischen und australischen Markt vorgesehen.

Zahlen lügen nicht. Zumindest dann, wenn sie ohne Schummelei ermittelt wurden. Bei der Zulassungsstatistik des Kraftfahrtbundesamtes kann man das getrost voraussetzen und somit der Honda CB 1100 Glückwünsche überbringen. Knapp 400 Garagen beherbergen seit dem letzten Jahr das erste luftgekühlte Motorrad von Honda nach zwei Jahrzehnten. Das als Hommage an die CB 750 Four konzipierte Retro-Bike war ursprünglich nur für den japanischen und australischen Markt vorgesehen. Erst als die Stimmen der hiesigen Importeure laut genug schallten, entschied man in der Konzernzentrale, das Modell nachträglich auch nach Europa zu bringen. Für die leistungsverwöhnten EU-Bürger hielt man das Motorrad mit 90 PS Spitzenleistung für zu schwachbrüstig. Dass hier die Uhren längst anders ticken, hat man nun allerdings verstanden.

Wie die zahlreichen interessierten Blicke am Café in Cassis beweisen, hat sich das Warten gelohnt. Zart hört man es aus der Nähe des Triebwerks knistern. Die nur zwei Millimeter dünnen Kühlrippen sind deutlich filigraner ausgeführt als die der Yamaha. Markiert die XJR auch optisch die Speerspitze der Big Bikes, verwöhnt die Honda CB 1100 mit puristischer Gentleman-Attitüde. Sie schmeichelt der Seele durch ihre optische Klarheit, ihre technische Reduktion auf das Nötigste.

Klassiker
Naked Bike
Naked Bike

Honda CB 1100 sieht aus wie ein gut erhaltener Oldtimer

Die Honda CB 1100 sieht einfach nicht aus wie ein Retro-Bike, sie könnte tatsächlich ein gut erhaltener Oldtimer sein. Klar dass das nur gilt, wenn man die 249 Kilogramm von Weitem betrachtet. Dann lebt die Designsprache der 70er-Jahre wieder auf. Der klassische Rundscheinwerfer, der flache Tank, die niedrige Sitzbank und Heckpartie unterstreichen diesen Anspruch der Honda. Mit ihren verchromten Kotflügeln vorn und hinten, den silbernen Stereofederbeinen und dem traditionell um den Motor herumgeführten Stahlrohrrahmen lässt sie die Erinne­rungen an die CB 750 wieder wach werden.

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Das typische 70er-Jahre-Heck besitzt Charme.

Nur der ABS-Kranz an der Vorderradbremse, das verzichtbare LCD-Display zwischen den beiden grün unterlegten Analoguhren und die fehlenden Speichenräder entlarven den Oldtimer – für manchen schneller als gewünscht – als Retro-Bike.

Erst bei Geschwindigkeiten jenseits der 120 km/h stößt das überaus kommod ausgelegte Fahrwerk langsam an seine Grenzen. Macht aber nix, denn die Honda CB 1100 bügelt bis dahin jedes Schlagloch, jede Bodenwelle so sauber weg, dass das Fahren mit der Honda als Entspannungskur der gesetzlichen Krankenkassen angeboten werden könnte. Der maximal 96 Newtonmeter stemmende Motor harmoniert dabei hervorragend mit dem Retro-Jugend­traum. Mit dem enorm elastischen Drehzahlband wirbelt man den anderen Kontrahenten trotz schlechtesten Leistungsgewichts spielerisch hinterher. Von 2000 bis 8000 Umdrehungen baut der Vierer ein langes Drehmoment-Plateau auf, das stets zwischen 80 und 96 Newtonmetern liegt.

Das reicht allemal. Zumal das Getriebe butterweich rastet und die Kupplungsbetätigung nur geringe Handkraft benötigt. Unabhängig vom Drehzahlbereich surrt der Motor sanft, lastwechselarm und mit feinem Ansprechverhalten der vorausfahrenden Meute hinterher. Und genau diese Eigenheiten charakterisieren die Honda CB 1100 am besten. Ihr Old-School-Styling, diese unverwüstlich wirkende Technik und die Unbeschwertheit, die sie dem Fahrer beim Aufsitzen sofort ins Hirn pflanzt, macht ihre besondere Faszination aus. Für 10.990 Euro kann man sich den Entspannungskünstler nach Hause holen.

Daten

Bauart Motor




Luftgekühlter Vierzylinder-
Viertakt-Reihenmotor, zwei
oben­liegende, kettengetriebene
­Nockenwellen, vier Ventile pro
Zylinder, Tassenstößel, E-Starter
Gemischaufbereitung
Einspritzung, Ø 32 mm
Kupplung
Mehrscheiben-Ölbadkupplung
Getriebe
Fünfgang
Sekundärantrieb
O-Ring-Kette
Bohrung x Hub
73,5 x 67,2 mm
Hubraum
1140 cm³
Verdichtung
9,5:1
Leistung
66,0 kW (90 PS) bei 7500/min
Drehmoment
93 Nm bei 5000/min
Gewicht vollgetankt
249 kg
Höchstgeschwindigkeit 
180 km/h
Preis
10.990 Euro
Nebenkosten
265 Euro

Leistungs-Messung und Fazit

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Es wird dunkel am Cafe in Cassis. Zeit um ein Resümee zu ziehen.

Leistungs-Messung

MRD
Die Leistungs-Messung der vier Retro-Bikes.

Der subjektive Eindruck bestätigt sich: Die BMW R nineT und die Yamaha XJR 1300 haben Druck ohne Ende. Dass der Vierzylinder hinsichtlich der Laufkultur Pluspunkte verbuchen kann, mag bei diesen Bikes bedingt nebensächlich sein. Vibrationen sind ja durchaus willkommene Lebensäußerungen. Diese bietet selbstverständlich auch der V2 der Moto Guzzi Griso 1200, der zwischen 2000 und 4000 Umdrehungen zwar bärig anschiebt, dann aber eine Verschnaufpause benötigt. Erst wenn der Drehzahlmesser auf die Fünf zurennt, brennt der Mandello-Twin ein Feuerwerk ab. Dennoch bleibt er stets un­terhalb des Niveaus der BMW, deren Schaf­fenspause bei 5500 Touren unbemerkt bleibt. Die Honda CB 1100 macht die paar fehlenden PS und Nm durch ein tolles Getriebe und die vermittelte Gelassenheit wett. Im Fahrbetrieb fühlt sie sich nicht so schwach an, wie es die Leistungskurve suggeriert.

Fazit

Es wird dunkel am Cafe in Cassis. Zeit um ein Resümee zu ziehen: Wer auf gefühlsechte Produkte steht, liegt mit BMW R nineT, Moto Guzzi Griso 1200, Yamaha XJR 1300 oder Honda CB 1100 goldrichtig. Jede von ihnen entwickelt einen speziellen Charme, vermitteln dem Fahrer seine individuelle Geschichte. Neben den ganzen Hightech-Rennsemmeln präsentieren sie sich grundsolide, ehrlich und sehr ästhetisch. Damit treffen die Hersteller zielsicher ins Mark der Szene. Bleibt nur zu hoffen, dass künftige Abgasvorschriften nicht das Aus der luftgekühlten, schön verrippten Motoren mit sich ziehen. Es würde mehr verloren gehen als ihr wohliges Knistern nach dem Absteigen.

BMW R nineT
Ein so sinnliches Bike aus München hätte man nicht erwartet. Die R nineT besticht durch detailverliebte Verarbeitung und den erstklassigen Boxermotor.

Moto Guzzi Griso 1200 8V S.E.
Die italienische Interpretation des Roadsters gleicht einem monumentalen Kunstwerk: alles massiv, wertig – wie aus einem Guss. Und dann dieser V2-Puls...

Honda CB 1100
Die Unbeschwertheit der Honda, ihre traditionelle Optik und das einfache Handling sind kaum zu toppen. Der Vierzylinder schnurrt wie ein Kätzchen.

Yamaha XJR 1300
Als einziges Original neben den Retro-Öfen zieht die XJR die ­Blicke auf sich. Ein Big Bike eben, das mit tollen Details, einem druckvollen Motor und attraktiven Preis begeistert.

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