Nein, es war kein Unfall.« Honda-Pressesprecher Klaus Wilkniss beteuert, das Design der X-Eleven sei nicht irgendwie passiert, sondern ganz bewusst gewählt. Bewusst anders. Bewusst ungefällig. Die Welt sollte nicht einfach über die 1100er hinwegsehen können. Sie sollte hängen bleiben. Und das tut sie. Irritiert, entgeistert, schockiert. »Allerdings legt sich das schnell«, erklären die Verantwortlichen. Man müsse dieses Motorrad erleben, damit umgehen. Fahren, fahren, fahren, dann erschließe sich alles. Der mächtige Tank, die monströse Kühlerabdeckung, das Trumm von Rahmen - mit jedem Kilometer wachse das Verstehen. Da darf man ja gespannt sein.
Die Voraussetzungen sind günstig. Wir befinden uns in Poitiers, Westfrankreich. 120 Kilometer von der Atlantikküste entfernt. Honda wählte diesen Ort für die Präsentation der X-Eleven. Doch entgegen des üblichen Prozederes - Anreise, Pressekonferenz, »ohhh, aaah«, ein paar Runden drehen, Abreise - dürfen die Maschinen nach Hause mitgenommen werden. Es ist 14.00 Uhr. In genau 19 Stunden erwartet mich Markus Jahn, die Kamera im Anschlag, auf der 1100 Kilometer entferten Schwäbischen Alb. Fototermin: X 11 von rechts, links, vorn und hinten, stehend, fahrend, im Detail. Also nix wie los. Tours, Orléans, Sens, Troyes, Bar-le-Duc, Metz, Landau, Stuttgart.
Die ersten Kilometer stehen ganz im Zeichen des von der CBR 1100 XX übernommenen Motors. Konsequent auf Durchzug getrimmt, hält der modifizierte Einspritzer ab Standgas bergeweise Drehmoment parat. Nahezu digital setzt er Bewegungen am Gasgriff in Vortrieb um und katapultiert die 257 Kilogramm schwere Honda völlig mühelos in höchst illegale Sphären. Hier in Frankreich, wo der Gesetzgeber ab 130 km/h keinen Spaß mehr versteht, lässt sich das Potenzial dieses Triebwerks nur erahnen. Später allerdings wird das Tellert-Messgerät bestätigen, dass die X-Eleven rekordverdächtige Fahrleistungen zuwege bringt. Den Spurt von 60 auf 180 km/h beispielsweise erledigt sie in sensationellen 11,7 Sekunden. Im letzten Gang wohlgemerkt. Eine Doppel-X braucht dafür knapp fünf Sekunden mehr.
Letzter Gang heißt übrigens Fünfter. Gegenüber der CBR 1100 XX wurde eine Übersetzung eingespart. Weniger schalten erhöhe das Fahrvergnügen auf so einer unverkleideten Maschine, meint Honda. Falsch ist das nicht. Vor allem, wenn das Getriebe wie im vorliegenden Fall zur geräuschvolleren Art gehört. Tatsächlich aber kann die Fußarbeit auf der X-Eleven nahezu niedergelegt werden. Bei Bedarf erledigt sie auch das Anfahren im fünften Gang. Allerdings geriet die Gesamtübersetzung so kurz, dass man immer wieder mal nach einer höheren Fahrstufe sucht.
Orléans: Der Hintern meldet Alarm. Viel zu früh. Sitzbank definitiv zu hart. Eben springt der digitale Tageskilometerzähler erst auf 191 um. Das kann ja heiter werden. 24 Kilometer weiter: erster Tankstopp. Sicher ist sicher. Zwar bunkert das schwarze Monstrum zwischen Sattel und Lenker ganze 22 Liter, aber man weiß nie, wie viel so ein Durchzugswunder in sich reinkippt. Reservehahn ist auch nicht, nur eine kleine Warnleuchte, die bei direkter Sonneneinstrahlung vergeblich um Aufmerksamkeit ringt.
13,26 Liter - das wars. Ziemlich gepflegte Trinksitten, zumal diese Autobahnetappe nicht durchgehend den Gefallen der Gendarmerie gefunden hätte. Noch ein kleiner Automatenkaffee, bis das Bitzeln in Händen und Füßen nachlässt. War keine so gute Idee von Honda, auf die zweite Ausgleichswelle des XX-Motors zu verzichten. Zwar gestaltet sich das Ansprechverhalten des Vierzylinders dadurch spontaner, seine ganze Art explosiver; dass »zu so einem Powerfeeling«, wie es im Pressetext heißt, »ein gewisses Maß an Vibrationen gehört«, darf jedoch als Notlüge gewertet werden. Kein Mensch braucht das. Schon gar nicht, wenn die kleinen Nervtöter in dieser fiesen, feinen Art auftreten.
Nächstes Etappenziel: Troyes. Ein bisschen Autobahn, dann 175 Kilometer Landstraße. Größtenteils bolzgerade. Nur ab und an ein paar weit geschwungene Radien, in denen die X-Eleven zu Hochform aufläuft. Stabilität, Zielgenauigkeit, Feedback, Schräglagenfreiheit - es ist alles vorhanden: Kurven, kommt! Die Fahrwerksabstimmung der 11er liegt auf der straffen Seite. Und das ist gut. Bei der Power und dem Gewicht kann sie sich gar nichts anderes erlauben. Mit welcher Härte das direkt angelenkte Federbein jedoch auf zurechtgeflickte Teerabschnitte reagiert, grenzt an Komfortverweigerung. Verantwortlich zeichnet die relativ hohe Dämpfung im sogenannten Lowspeed-Bereich, die allerdings dafür sorgt, dass die Fuhre selbst unter übelsten Bedingungen noch in der richtigen Spur bleibt.
Nicht zuletzt geht das präzise Fahrverhalten auch aufs Konto der serienmäßig montierten Michelin Macadam 90 X, Sonderspezifikation G und M. Die haftfreudigen französischen Pneus unterstützen die Talente der X-Eleven auf breiter Front, tun sich durch keinerlei Eigenmächtigkeiten hervor, verkneifen sich gar das Aufstellen beim Bremsen in Schräglage fast gänzlich.
Troyes: ein trostloser Anblick inmitten einer gottverlassenen Gegend. Tanken und so schnell wie möglich weiter. Über St. Dizier Richtung Verdun. Endlich eine richtige Landschaft, die den Straßen spannende Linien abverlangt. Kurven aller Art, enge, weite, schöne, schlechte. Auch die Honda scheint aufzuleben. Wirft sich begierig ins Winkelwerk, trumpft mit ungeahnter Bewegungslust auf. Verblüffend, wie elegant sie durch den engen Parcours zirkelt. Man sitzt hinter dieser Burg von Tank in dieser tiefen Kuhle und dirigiert das Trumm quasi mit zwei Fingern. Fühlt sich sehr souverän an solange hektische Aktionen am Gasgriff vermieden werden. Ja, sie hat Lastwechselreaktionen, die X-Eleven: leichtes Spiel im Antriebsstrang kombiniert mit einem harten Leistungseinsatz. Das kann zu Irritationen bei der Linienfindung führen.
Kurz vor Metz: Genick im Eimer. Nicht wegen des Winddrucks, dem trutzen die Hutzen über den Instrumenten. Da haben die Aerodynamiker eine wahre Meisterleistung vollbracht. So mickrig, diese Teile, und doch so effektiv. In der Ergonomie-Abteilung scheint man hingegen ein wenig gepennt zu haben. Für kleine Leute ist die Distanz zum Lenker zu groß, für Große sind die Tankausschnitte zu klein, für alle sind die Fußrasten zu hoch montiert und eigentlich auch ein Stück zu weit hinten.
Inzwischen ist es sacknacht geworden. Auf der Autobahn ist bereits Totentanz angesagt. So gut wie nichts mehr los. Um Mitternacht kommt der Grenzübergang bei Saarbrücken in Sicht. Wirklich klasse, das Fernlicht. Umso erschreckender aber die maue Ausbeute des Abblendkegels, dabei zählt der noch lange nicht zu den schlechtesten. Leuchtet zumindest den rechten Straßenrand aus. »Willkommen in der Bundesrepublik Deutschland« steht da. Na dann: voll Stoff. In Nullkommanichts klettert die Tachonadel auf 180 km/h, und just in dem Moment fackelt der Motor ein neuerliches Leistungsfeuerwerk ab, um die X-Eleven mit unbändiger Kraft über die 200er-Marke zu befördern. Die letzten Kilometer bis Stuttgart vergehen wie im Flug. Platt wie eine Briefmarke falle ich ins Koma. In sieben Stunden erwartet mich Markus, die Kamera im Anschlag, auf der Schwäbischen Alb.
Als ich mit der X-Eleven ankomme, fällt ihm sein leicht süffisantes Grinsen aus dem Gesicht: »Mein Gott, was ist denn da passiert? War das ein Unfall?« Mir fällt schon gar nichts mehr zum Design der 11er ein. Ist doch eigentlich ganz okay. Hat so was Unverfälschtes. Markus überwindet sich, beginnt zu fotografieren. Erst mal den ganzen Buchstabensalat: PGM-FI steht für eine kennfeldgesteuerte Einspritzanlage, die den Verbrauch der Honda in äußerst geringen Grenzen hält. HECS3 bezeichnet ein Abgasreinigungssystem, das sich aus einem Sekundärluftsystem plus zwei geregelten Drei-Wege-Kats rekrutiert und sogar die strenge Euro-1-Abgasnorm unterschreitet. H.I.S.S. ist die Wegfahrsperre. Dual-CBS heißt das Integralbremssystem, das bei Betätigung des Fuß- oder Handbremshebels beide Bremsen gleichzeitig aktiviert. Manchen gefällts, manchen nicht. Fakt ist, dass dieses System gewöhnungsbedürftig ist. Anfangs legt die Bremswirkung enorm zu, gegen Ende fehlt jedoch ein wenig der Biss.
Markus schießt sich ein: Hauptständer, Edelstahl-Auspuffanlage, Alu-Schwinge, brauchbarer Rücksitz, Haltegriff alles dran, an diesem Bike. »Du meinst, man könne sich an das Design gewöhnen?«, fragt er. »Auch an diese monstermäßige Kühlerabdeckung?« Man kann. Vor allem, wenn man weiß, wofür sie gut ist. Da haben sich die Damen und Herren Honda nämlich was Schlaues einfallen lassen. Das Teil fungiert ganz nebenbei als Frontspoiler. Das heißt: Der Anstellwinkel der Luftschlitze wurde so gewählt, dass der anströmende Fahrtwind einen ständigen Druck auf das Vorderrad der X-Eleven ausübt. So bleibt die Dicke auch bei Topspeed die Ruhe in Person. Und genau das braucht man bei echten 133 PS.
Fazit Honda X-Eleven -
Am Anfang war der Schock. Dann kam der Motor und mit ihm die Sympathie. Gegen Ende schließlich mochte ich die X-Eleven. Mit all ihren Verschrobenheiten. Weil sie auf jedes Blendwerk verzichtet und allein aus sich heraus lebt. Aus der Kraft ihres Vierzylinders, den Talenten des Fahrwerks und der ungeheuerlichen Präsenz ihres Designs. Richtig schön ist sie nicht. Das stimmt. Aber teuer: 18260 Mark. Allerdings lässt die X 11 auch nichts aus. Vom geregelten Drei-Wege-Kat übers Integralbremssystem ist alles dran.