Helmnorm ECE 22.06: Neue Regeln für noch mehr Sicherheit

Helmnorm ECE 22.06 Neue Regeln für noch mehr Sicherheit

Nach gut 20 Jahren wird die Sicherheitsnorm für Motorradhelme reformiert. Seit Anfang 2021 können Helme nach der neuen ECE-R-22.06 geprüft werden. Ab dem 3.6.2022 wird nur noch nach der neuen Norm geprüft.

Helmtest Markus Jahn

Die ECE-Verordnung 22 der Vereinten Nationen regelt, welche Auflagen Motorradhelme erfüllen müssen, damit sie für den Straßenverkehr zugelassen sind. Die ECE 22.05 ist seit fast zwanzig Jahren in Kraft und wird von der reformierten Regelung ECE 22.06 abgelöst. Geprüft werden können Helme nach der neuen Norm bereits seit Anfang 2021. Ab Juni 2022 wird nur noch nach der neuen Norm geprüft. Ab Juni 2023 dürfen dann keine Helme mehr mit der Norm ECE 22.05 produziert werden. Ab Anfang 2024 kann deren Verkauf dann verboten werden. Die neue ECE 22.06 soll Helme und auch Visiere, wie sie für den Einsatz auf motorisierten Zweirädern vorgeschrieben sind, vor allem noch sicherer machen. Nach ECE 22.05 geprüfte Helme dürfen natürlich weiterverwendet werden. Hier gibt es keine Austauschpflicht. Bei einer Neuanschaffung sollte man natürlich auf die aktuellste Prüfnorm achten.

Verschärfte Testanforderungen

Und was ändert sich? Wie die FEMA (Federation of European Motorcyclists’ Associations) mitteilt, beschreibt die neue Norm vor allem Veränderungen beim Prüfverfahren von Helmen. Generell wird mit einer höheren Aufprallgeschwindigkeit geprüft, zudem dürfen die Prüfer den Anprallpunkt jetzt frei wählen. Vorher war dieser vordefiniert, entsprechend hatten Hersteller teilweise auch ihre Helme darauf optimiert.

Helmtest
Klaus Herder

Modular aufgebaute Helme (beispielsweise Klapphelme und Jethelme mit angeflanschtem Kinnteil) werden künftig mit und ohne Kinnschutz oder aufgeklapptem Kinnteil geprüft. Auch die mittlerweile sehr verbreiteten integrierten Sonnenblenden werden stärker begutachtet. Die Sonnenblenden müssen sich unabhängig vom Visier bewegen lassen. Ist ein Sonnenschutz integriert, so muss dieser zur Prüfung heruntergeklappt werden. Gleiches gilt auch für Zubehörteile. Nur die bei der Prüfung montierten Anbauteile dürfen sich später auch am Serienhelm wiederfinden. Werden Änderungen vorgenommen, so muss der Helm mit den neuen Anbauteilen nachgeprüft werden. Andernfalls erlöscht die Typgenehmigung. Offen bleibt dabei bislang, wie es sich mit Anbauteilen beispielsweise für Action-Cams oder Kommunikationssystemen verhält. Dieses Feld war aber auch schon bislang eine Grauzone. Experten gehen aber davon aus, dass es hier keine Einschränkungen geben wird, solange diese Teile nicht fest mit der Helmschale verbunden werden und sich so bei einem Anprall lösen können.

Visiere müssen widerstandsfähiger werden

Erhöht werden auch die Anforderungen an die Visiere und deren Mechanik. So müssen diese den Anprall einer Stahl-Testkugel mit einer Geschwindigkeit von 60 m/s überstehen ohne zu zerbersten. Auch die Visiermechanik muss den Gewalten trotzen. Neu hinzugefügt zum Testprozedere wird zudem eine Aufpralltestmethode zur Messung der Rotationsbeschleunigung.

Helmtest
Markus Jahn

In Abhängigkeit von weiteren nationalen Vorgaben müssen die neuen Helme mit reflektierenden Oberflächen oder alternativ mit reflektierenden Aufklebern versehen sein. Diese können auch zusammen mit einem entsprechenden Montagehinweis dem Helm beigelegt werden.

TÜV-Experte im Interview

Peter Schaudt (57) vom TÜV Rheinland in Köln ist seit vielen Jahren der MOTORRAD-Ansprechpartner, wenn es um die Prüfstandsversuche im Rahmen von Helmtests geht. Im "normalen" Tagesgeschäft prüft er u. a. für die unterschiedlichsten Helmhersteller, ob ihre Produkte (neben Motorradhelmen z. B. auch Fahrrad- und Reiterhelme) den gültigen ECE-Normen entsprechen. MOTORRAD-Redakteur Klaus Herder befragte ihn zu den Auswirkungen des Wechsels von der seit 19 Jahren (!) gültigen ECE-R 22.5 zur neuen ECE-R 22.06.

Wie lautet deine offizielle Funktionsbezeichnung beim TÜV Rheinland? Wie lange bist du schon mit dem Helmprüfen im Geschäft?

Schaudt: Was die Helme betrifft: Sachverständiger Technischer Dienst. Ansonsten bin ich amtlich anerkannter Sachverständiger für den Kraftfahrzeugverkehr. Zuständig für die Helmprüfung bin ich jetzt seit 2001.

Warum war die ECE-R 22.05 längst überholungsbedürftig?

Schaudt: Wie jeder Standard muss auch die 22.05 den Anforderungen angepasst werden. Das können technische Anforderungen sein, wie z. B. neue Materialien. Die Prüftemperatur für die kalten Helme liegt nun bei minus zehn statt minus 20 Grad, das erleichtert den Einsatz von anderen Materialien als z. B. nur EPS (Styropor). Eine Anpassung kann auch aufgrund von neuen Erkenntnissen aus dem Unfallgeschehen erforderlich sein. Daher auch die Einführung der Rotationsprüfung oder die Helmabstreifprüfung in beide Richtungen. Die Notwendigkeit für Letztere haben wir sicher alle schon mal erlebt, ein Helm kann ohne Mühe nach hinten geschoben werden. Das ist nun nicht mehr zulässig, zu der erhöhten Sicherheit kommt damit auch eine Verbesserung des Komforts, weil das Kinnriemenschloss nicht mehr am Kehlkopf liegt.

In welcher Form warst du bzw. der TÜV Rheinland in die Gestaltung der ECE-R 22.06 eingebunden?

Schaudt: Das Verfahren, eine UN-Regelung zu ändern, ist sehr breit aufgestellt und langwierig, weil alle Staaten (CP), die das 1958er-Abkommen der UNECE unterzeichnet hatten, ein Mitspracherecht haben. Zurzeit sind das 64 Staaten (von denen 47 Staaten die Vorschrift auf ihrem Territorium anwenden). Auch Non-Governmental Organizations (NGOs) werden an den Beratungen beteiligt. Der TÜV Rheinland ist als Berater des BMVI ständig mit einem Mitarbeiter in den relevanten Sitzungen vertreten. Dieser Kollege wird dann gegebenenfalls von den Spezialisten des TÜV Rheinland unterstützt. So einer bin ich im Fall der UN-R 22.

Seit wann gilt die ECE-R 22.06, wie sieht der weitere Zeitplan aus?

Schaudt: Seit dem 3.1.2021 können ECE-R-22.06-Genehmigungen oder -Nachträge erteilt werden. Ab dem 3.6.2022 werden nur noch ECE-R-22.06-Genehmigungen erteilt. Ab dem 3.6.2023 darf das Genehmigungszeichen gemäß ECE-R 22.05 nicht mehr angebracht werden (Produktionsverbot). Ab dem 3.1.2024 kann der Verkauf von ECE-R-22.05-genehmigten Helmen verboten werden.

Welche sind die wesentlichen Unterschiede zur ECE-R 22.05?

Schaudt: Wesentlich sind die geänderte Prüftemperatur bei Kälte, zusätzliche geringere- bzw. höhere Aufprallgeschwindigkeit (6 m/s bzw. 8,2 m/s). Der technische Dienst kann zusätzlich Prüfpunkte wählen. Das bedeutet, dass eine gezielte Konstruktion von Helmen auf die bestehenden Prüfpunkte im Grunde nicht mehr möglich ist. Weitere Unterschiede: Einführung der Rotationsprüfung. Erweiterung der Helmabstreifprüfung, nach vorne wie gehabt, nun auch nach hinten. Beschussprüfung von Visieren. Die Prüfung der Sonnenblenden kam hinzu. Bisher wurde nichts geprüft, das führte zum Teil dazu, dass Verkehrslichtfarben nicht erkannt werden konnten; Rot oder Grün erschienen in Grau!

Wie wirken sich die Änderungen konkret im täglichen Prüfgeschehen aus?

Schaudt: Das Prüfgeschehen ist deutlich umfangreicher. Ein Beispiel: Für einen Helm, der in zwei Schalengrößen angeboten wird, müssen für die Grundgenehmigung bisher 17 Helme geprüft werden, nach der ECE-R 22.06 sind 33 Muster erforderlich.

Was sind die Vor- und Nachteile der ECE-R 22.06 für a) den Endverbraucher?

Schaudt: Zunächst werden die Helme vermutlich teurer, auf bestehende Konstruktionen kann nicht mehr ohne Weiteres zugegriffen werden.

b) die Helmhersteller?

Schaudt: Die Modellauswahl wird zwangsläufig kleiner ausfallen, Neukonstruktionen sind sehr teuer.

c) die Prüforganisationen?

Schaudt: Aufgrund der größeren Prüfmusterzahlen werden die Prüfzeiten länger, längere Genehmigungszeiten bei Behörden sehe ich nicht.

Was hätte sich Helm-Profi Peter Schaudt (bzw. der TÜV Rheinland …) noch zusätzlich gewünscht, was wäre ggf. entbehrlich gewesen?

Schaudt: Der nun endlich erreichte Standard ist ein guter Kompromiss für die Grundlage besserer Schutzhelme. Nun wird sich zeigen, ob sich das auch im Unfallgeschehen widerspiegelt. Dann sollte gegebenfalls schnell nachgelegt werden und man sollte nicht wieder 19 Jahre verstreichen lassen.

Wie reagieren die Helmhersteller bisher auf die neuen Bestimmungen?

Schaudt: Aktuell ist das Prüfaufkommen sehr hoch, die Hersteller möchten sehen, wo ihr Produkt liegt. Die kleineren Anbieter werden vermutlich erst mal abwarten und schauen, wie sich der Markt entwickelt.

Stichwort Rotation: Welche praktischen Erfahrungen gab es im bisherigen Prüfgeschehen?

Schaudt: Bei den bislang von uns geprüften Helmen gab es keine bösen Überraschungen. Bei den Helmen wären keine konstruktiven Änderungen erforderlich, wenn die Rotations-Grenzwerte so bleiben.

Ist die ECE-R 22.06 in der vorliegenden Form fix, oder gibt es noch Nachbesserungsbedarf? Wenn ja, welchen?

Schaudt: Der Standard muss sich den Gegebenheiten anpassen, eine Diskussion über Grenzwerte oder Interpretation von Prüfabläufen muss kontinuierlich stattfinden.

Dein Fazit: echte Verbesserung oder nur überschaubare Kosmetik?

Schaudt: Die ECE-R 22.06 ist eine echte Verbesserung!

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Fazit

Nach über 19 Jahren gibt es eine neue Prüfnorm für Motorradhelme. Mit der ECE-R 22.06 werden Helme noch sicherer.

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