Professor Spiegels Fahrtipps, Teil 4: Mentale Fitness und Vorbereitung

Serie »Professor Spiegels Fahrtipps« (Teil 4)
Mentale Fitness und Vorbereitung

ArtikeldatumVeröffentlicht am 22.10.2025
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Professor Spiegels Fahrtipps, Teil 4 Mentale Fitness und Vorbereitung
Foto: Jörg Künstle

Wenn jemand früher von Tuning sprach, dann war es ganz selbstverständlich, dass er Motoren-Tuning meinte. Bis schlaue Leute dahinterkamen, dass mit Fahrwerks-Tuning, gerade beim wettbewerbsmäßigen Motorradfahren, oft noch viel mehr erreicht werden kann. Dann gab es wiederum andere, die sagten, dass es mindestens ebenso wichtig sei, dass der Fahrer sich körperlich fit macht. "Bevor du dir für ein Heidengeld sämtliche Schrauben und Achsen hohl bohren lässt, um vielleicht ein paar hundert Gramm zu sparen", so war da zu hören, "nimmst du besser erst mal ein paar Kilo ab. Das bringt viel mehr und kostet weniger."

Und schließlich eilten die Psychologen herbei und teilten mit, dass man auch mental einiges tun könne. Mentales Training spielte von da an eine immer größere Rolle, und zwar in nahezu allen Wettkampfsportarten. Aber auch bei uns, wo es zum weniger um ein Training als erst einmal um die Vorbereitung geht, spielt das Mentale eine gewichtige Rolle. Es gilt also, vor allem auch zum Saisonbeginn:

  • Zunächst einmal die technische Vorbereitung, die selbstverständlich sein sollte, dennoch manchmal nicht so ernst genommen wird.
  • Dann die körperliche Vorbereitung, die ebenfalls nicht schaden kann.
  • Und nun die mentale Vorbereitung, eine Art "Sicherheits-Tuning" für den Kopf.

Sensibilisierung für hochgefährliche Situationen

Bei dieser mentalen Vorbereitung kann es um zweierlei gehen: einmal um die Aktualisierung bestimmter Handlungsabläufe, die während einer Pause etwas in den Hintergrund geraten sind oder die möglicherweise sogar neu eingeübt werden müssen, und zweitens um die Sensibilisierung für hochgefährliche Situationen, die harmlos aussehen, aber sofort als potenzielle Gefahrenquelle erkannt werden müssen. Mit ihnen wollen wir uns hier vor allem befassen.

In beiden Fällen soll etwas mental "in Bereitschaft gesetzt" werden: zum einen ein bestimmter Handlungsablauf (der vielleicht sogar ein ausgesprochener Not-Handlungsablauf ist, so dass man ihn real gar nicht üben kann, der im Notfall jedoch zur Verfügung stehen sollte). Zum anderen eben jene nur scheinbar harmlosen Verkehrssituationen, deren Gefahrenpotenzial sofort durchschaut werden muss.

Darauf einrichten und besser reagieren

Dieses "in Bereitschaft setzen" hat eine lange Geschichte. Am einfachen Urmodell sieht man die Strukturen am deutlichsten: Bei einer extrem kurzzeitigen Darbietung etwa einer Buchstaben-Zahlen-Kombination wie etwa 83ZK69 wird diese von einer Versuchsperson viel rascher und zuverlässiger erkannt, wenn man ihr vorher gesagt hat, dass es sich um "zwei Ziffern, zwei Buchstaben und zwei Ziffern" handelt. Die Versuchsperson weiß also, "was kommt", doch nicht, was das konkret sein wird; trotzdem kann sie sich darauf schon einrichten und viel besser reagieren.

Bilder und Verkehrssituationen in Bereitschaft setzen

Diesen Ablauf machen wir uns für viel komplexere Situationen zunutze, die sich im Verkehrsgeschehen ständig ergeben. Wir setzen bestimmte Bilder, bestimmte Verkehrssituationen in Bereitschaft. Wir wissen dann zwar noch nicht im Einzelnen, wie diese aussehen werden, kennen jedoch ihre grundsätzliche Struktur.

Unsichtbar für Entgegenkommende

Ein Musterbeispiel für ein solches nur scheinbar harmloses Bild ist unsere eigene Silhouette als langer Schatten voraus. Hübsch anzuschauen. Die Sicht könnte besser nicht sein, denn man hat die Sonne im Rücken. Aber je länger der Schatten ist, desto weniger kann uns ein Entgegenkommender erkennen. Und wenn uns gar die Sonne aus dem eigenen Rückspiegel blendet, sind wir für die Entgegenkommenden endgültig unsichtbar geworden.

Extremfall Rückspiegelblendung

Der lange Schatten voraus muss als ein Alarmauslöser ersten Ranges in Bereitschaft gesetzt sein, damit man gewissermaßen zusammenzuckt und augenblicklich die richtige "Antwort" darauf hat. Sie lautet: höchste Wachsamkeit; grundsätzlich davon ausgehen, dass man nicht gesehen wird; im Extremfall (Rückspiegelblendung) sogar Fahrpause einlegen – oft genügen schon ein paar Minuten.

Gedanklich so anschaulich wie möglich durchspielen

Anhand dieses Musterbeispiels sollte man nun versuchen, möglichst viele harmlos scheinende Verkehrssituationen ausfindig zu machen, die ein Gefahrenpotenzial in sich tragen. Diese Situationen spielt man dann in möglichst entspannter Situation gedanklich so anschaulich wie möglich immer wieder durch – jeweils bis fast zum Crash und mit jeweils etwas veränderten Ausgangsbedingungen – und erreicht so, dass sie zu Alarmsignalen und damit zu Auslösern für die richtigen "Antworten", nämlich für eine gezielte (und mental vorbereitete) Gefahrenabwehr werden. Das war bei dem Beispiel mit dem langen Schatten voraus der "Generalverdacht" gegen-über allen Entgegenkommenden beziehungsweise die Fahrtunterbrechung.

Fahrzeuge, die höher sind als Motorradfahrer

Da bekommt man rasch ein halbes Dutzend verschiedenster Situationen zusammen! Man untersuche nur einmal alle möglichen hohen Fahrzeuge, über die man als Motorradfahrer nicht hinwegblicken kann! Da kommt einem als erstes fast zwangsläufig der Linienbus in den Sinn, der in einer Haltebucht anhält und hinter dem im nächsten Augenblick Fahrgäste hervoreilen können, die auf die andere Straßenseite möchten.

Oder der große SUV, der sich zum Linksabbiegen ordnungsgemäß links eingereiht hat und dort auf eine Unterbrechung im Gegenverkehr wartet, während wir rechts an ihm vorbeifahren – nun, was kann da im nächsten Augenblick geschehen? Geradezu klassisch ist der Entgegenkommende, der langsamer wird und dabei, statt links zu blinken, nur nach links blickt ...

Vorausfahrende Linksabbieger

Oder der Vorausfahrende, den wir gerade überholen wollten, der sich aber offenbar anschickt, nach links abzubiegen – nun, was gibt es da alles an verdachtsauslösenden Merkmalen? Jetzt nicht nur nicken, sondern sie gleich einmal auflisten, das lohnt sich!

Verkehrsfantasie spielen lassen

Es ist nun einfach die Verkehrsfantasie gefordert, und mental kann man diese am ehesten spielen lassen. Sobald man dann eine kritische Situation gefunden hat, wird diese sogleich mit allen möglichen Gefahrenkonsequenzen gedanklich durchgespielt, damit sie den oben geschilderten Status eines "Alarmauslösers" bekommt. So können wir genügend wachsam gegenüber diesen heimtückischen Situationen werden. Und das ist das beste Tuning für den Kopf.

Prof. Dr. Bernt Spiegel

Prof. Dr. Bernt Spiegel ist Psychologe und Verhaltensforscher sowie der Verfasser des Klassikers "Die obere Hälfte des Motorrads” (über die Einheit von Fahrer und Maschine) und des Übungsbuchs "Motorradtraining – alle Tage!”, in dem auch der oben genannte Selbsttest ausführlich beschrieben wird. Zu bestellen im MOTORRAD-Shop unter www.motorradonline.de