Südfrankreich ist schön. Das wissen viele. Deshalb ist die Mittelmeerküste zur Hauptsaison überlaufen. Die Provence auch. Aber was tun, wenn man ohnehin schon mal in der Gegend ist oder nicht anders kann als zur Hauptsaison? Es muss doch Schleichwege geben. Wenig befahrene Routen, die nur Locals kennen. Ich kenne einen Local. Mehrere, um genau zu sein.
Start der Motorradtour in Viviers
Wir sitzen an der Hausbar von Raoul und seinem Sohn Philippe in Viviers. Die beiden sprühen gleich vor Ideen, wirbeln mit Ortsnamen um sich, von denen ich noch nie gehört habe: Montselgues, La Garde Guérin, Meyrueis. Die anderen kann ich mir gar nicht erst merken. Aber egal, ich muss ja nur hinterherfahren. Zum Hinterherfahren habe ich meine umgebaute BMW Urban G/S mitgebracht. Die sieht aus, als ob Rallye-Legende Gaston Rahier es noch mal mit der Dakar versuchen wollte. Aber tatsächlich ist sie eine Eins-a-Landstraßen-Feile. Und eins ist sicher: Es wird jede Menge zu feilen geben! Aber zunächst malt sich ein unsichtbares Fragezeichen auf meine Stirn. Wieso fahren wir nicht südwärts zum Klassiker Ardèche?
Raoul und Philippe teilen sich eine rabenschwarze BMW F 800 GS und brummeln an der sommerlich trägen Rhone nach Norden. Haben wir uns missverstanden? Oder ist meine Orientierung so lädiert wie Le Teil? Das Städtchen am linken Ufer der Rhone wurde 2019 von einem Erdbeben erschüttert, und viele Gebäude haben sich bis heute nicht von diesem geologischen Knall erholt.
Über die N 102 zu den Hügeln der Ardèche
Dagegen erholt sich meine Stimmungslage erheblich, als Raoul den Blinker links setzt. Auf einem blassen Schild steht "Aubenas, Le Puy". Die Rhone diffundiert nun im Rückspiegel und die Hügel der Ardèche zwingen die N 102 zu erfreulich langen Kurven. Vorbei an blühenden Wiesen und Rebstöcken taucht dann doch – Überraschung! – plötzlich die Ardèche vor uns auf. Und in einer sanften Biegung schmiegt sich Vogüé, eines der schönsten Dörfer Frankreichs, an ihr Ufer. Hierher, an den Oberlauf des Flusses, verirren sich die üblichen Verdächtigen mit Wohnmobil und Paddel-Equipment nicht. "Die bleiben lieber an den Hotspots Vallon-Pont-d’Arc und Pont Saint Esprit", kommentiert Raoul seine Routenentscheidung.
Und er hat noch mehr im Sinn. Dem romantischen Charme von Vogüe folgt der von Balazuc mit seinen Bruchsteinhäusern und der schmalen Brücke über die Ardèche. Aber von jetzt an wird’s herber. Und wer will, für den wird’s derber. Philippe, der jetzt den schwarzen Reihenzweier lenkt, will. Zuerst noch zart durch würzige Kiefernwälder, bügelt er bald durch schmissige Serpentinen weiter bergauf. Ich hinterher. Das ist DAS Terrain für die Urban G/S. Der durchwachsene Fahrbahnbelag? Egal! Philippes souverän forscher Stil? Astrein! Dann werden die Kurven länger, der Asphalt brilliert in der typisch südfranzösischen Art: unglaublich hell und unglaublich griffig.
Zwischenstopp in Montselgues
Wir halten in Montselgues, denn Raoul hat einen Stopp bei der Verwandtschaft eingeplant. Sein Neffe Morgan wohnt mit seiner Familie hier und unterhält dortmehrere Fischfangteiche. Weil Morgan damit nur mittelmäßig ausgelastet ist, mäht er geometrische Muster in die Hänge des Anwesens, sodass man sie auch aus dem Weltall sehen kann. Oder er fährt über die zahlreichen Pisten in der Umgebung. Oder er baut seinem fünfjährigen Sohn ein Mini-Moped mit Rasenmähermotor. Oder er experimentiert mit Explosivstoffen.
Mir kommt sofort der Film "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" in den Sinn. Nur: Morgan ist noch lange keine 100. Dafür kommt er gerade mit einer Mischung aus Chinakracher und Kanonenschlag aus der Werkstatt. "Ich mag einfach den Knall", grinst er unter seinem Lockenkopf und zündet den Kracher. Wumms! Zwei Gedanken gehen mir durch den Kopf. Erstens: Schön, wenn man keine Nachbarn hat. Zweitens: Ich mache mir nie wieder Sorgen um die Akustik des Urban-Endtopfs.
Villefort: Overtourism? Fehlanzeige!
Genau der hallt kurz darauf von den Steilwänden an der D 151 nach Villefort zurück. Das Sträßchen ist zunächst kaum breiter als ein Saunatuch und Raoul fährt wie mit einer Ladung Meißner Porzellan im Topcase. Als wir den Weiler Pied-de-Borne passieren, ändert sich offenbar der Topcase-Inhalt und Raoul gibt der F die Sporen. Die Straße zwängt sich jetzt mit dem fast trockengefallenen Altier durch dessen Schlucht. Hatte ich schon erwähnt, dass außer uns fast niemand unterwegs ist?
Als wir in Villefort einlaufen, herrscht dort bescheidener Trubel. Unter den schattigen Platanen parken nur Autos mit heimischem Kennzeichen. Overtourism? Ist woanders. Neben der Bar "Le National" klappen wir die Seitenständer aus. Raoul schaut mich fragend an, den Grad meiner Zufriedenheit checkend. Ich schließe die Augen und schüttle den Kopf. "Was ist?", will er wissen. "Ich vermisse die Touristen!" Zwei Sekunden schaue ich in die irritierten Gesichter meiner Freunde. Dann kann ich mich nicht mehr halten und pruste los. "Na ihr habt ja beste Laune!", begrüßt uns der schnauzbärtige Kellner des National. "Darf’s schon was zu trinken sein?" – "Ja, wir nehmen zwei Café und für den Herrn dort", Raoul deutet grinsend auf mich, "ein paar mehr Touristen." Die Touristen bleiben aber auch bei Raouls nächstem Highlight aus. La Garde-Guérin hat nur 31 Häuser, alle aus Bruchstein. Der mittelalterliche Ort ist noch von einer Mauer umgeben und wird von einem massiven Wehrturm beherrscht. Den Magen noch voll vom Mittagessen im "Le National" nehme ich die Stufen hinauf nur widerwillig. Aber die fabulöse Aussicht lohnt sich. "Im Mittelalter war der Ort eine wichtige Kreuzung. Daher die Burganlage. Als später die Eisenbahn kam und den Ort umging, war es um ihn geschehen. Die Eisenbahnstrecke gibt es immer noch. Wir kommen gleich dran vorbei", erklärt Raoul.
Auf der D 901 Richtung Badaroux
Die Bahnlinie habe ich schon längst vergessen, als wir auf der D 901 den Lac de Villefort überqueren. Was sich jetzt an Strecke auftut, ist ein absoluter Traum. Makelloser Asphalt, stramme Kurven entlang des tiefblauen Sees und … halt! Was ist denn das? In einer Rechtskurve, Philippe war gar nicht vom Gas gegangen, überspannt die Eisenbahnlinie den Stausee mit einem gewaltigen Viadukt. Wieder so ein Hammer, der einem Einheimischen wahrscheinlich schon fast nicht mehr bewusst ist. Mir als Newbie in der Gegend reißt es an den Augäpfeln. Die 901 im weiteren Verlauf ebenso. Es wird eine fahrerische Feierstunde, die bis Badaroux anhält. Beim Tankstopp checke ich aus Spaß die Reifentemperatur. Wohltemperiert!
Die Sonne hat dem Himmel schon in ein tiefes Orange getaucht, als wir bei Sainte-Enimie in die Gorges du Tarn, also die Schlucht des Tarn, einlaufen. Hier im Tal sind die Schatten schon lang geworden, die Hitze des Tags abgeklungen und ein gescheites Abendessen dringend erforderlich. Wir steuern geradewegs auf die "Auberge du Moulin" zu. Nicht, weil sie Raoul oder Philippe schon bekannt ist, sondern weil die Herberge wie auf dem Präsentierteller im Scheitel einer 90-Grad-Kurve liegt. Feierabend!
Von Sainte-Enimie durch die Tarnschlucht
Wieso gehen mir immer wieder Filme durch den Kopf? Jetzt ist es der Herr der Ringe mit dem Elfenort Bruchtal. Mit den ersten Sonnenstrahlen sind wir in Sainte-Enimie gestartet und folgen der Tarnschlucht nach Südwesten. Kurz vor einem der vielen Naturtunnel liegt auf der anderen Flussseite Saint-Chély-du-Tarn. Eine Brücke führt hinüber zu den Bruchsteinhäusern. Aus einem von ihnen strömt ein breiter Bach über eine Kaskade hinab in den Tarn. Märchenhaft!
Das Schlimme an Strecken wie der durch die Tarnschlucht ist, dass sie selbst natürlich ein Muss ist. Die abzweigenden Strecken mit ihren Serpentinen aber ebenfalls eine unwiderstehliche Verlockung sind. Alle kann man nicht nehmen, aber die, die in Les Vignes zum Aussichtspunkt "Point Sublime" führt, ist für Raoul und Philippe unverzichtbar. Zu Recht! Eine Serpentine besser als die andere, eine Aussicht schöner als die vorherige. Und es kommen noch die Jonte-Schlucht, die über 50 Kilometer lange Panoramastraße Corniche des Cévennes und, und, und. Gut, dass alle anderen gerade woanders sind.





