Motorradtour durch China: Jenseits der Vorurteile

Motorradtour durch das pulsierende China
China jenseits der Vorurteile

Veröffentlicht am 24.03.2025

Hölle. Die Dichte hier. Alle Straßen voll. Massen drängen sich durch die Acht-Millionen-Metropole Kunming, kleine Elektroroller wuseln durch den dichten Stadtverkehr, auf meiner Boxer-BMW mit Koffern und Topcase komme ich mir hilflos vor, stehe elendig im Stau. Eigentlich dürfte ich hier gar nicht fahren, der innerstädtische Ring ist – wie in vielen Großstädten Chinas – für Motorräder tabu. Seltsame Politik, großen SUVs und fetten Limousinen die Ein- und Durchfahrt zu gestatten, Einspurfahrzeuge aber zu reglementieren …

Die reichhaltige Flora und Fauna Chinas

Nun, absurde Regeln und Bürokratie muss man in dieser riesengroßen Nation wohl hinnehmen. Hier leben fast doppelt so viele Menschen wie in Europa, flächenmäßig sind China und Europa gleichauf. Ein Land also so groß wie ein ganzer Kontinent, neun der weltweit 14 Achttausender befinden sich hier (zum Teil), der Jangtse als drittgrößter Fluss dieser Erde durchfließt das Land, gut 30.000 Kilometer Küstenlinie, es gibt ausgedehnte Wüsten, Steppen und schier unendliche Hügellandschaften, das Klima mit ähnlicher Bandbreite: von tropisch heiß bis kühl gemäßigt und frostig kalt, die Flora und Fauna ist reich und vielfältig.

Ein enorm vielseitiges und kaum fassbares Land, ein Riese mit einer mehrere Jahrtausende alten Geschichte und Kultur, mit Multi-Millionenstädten und einem weitverzweigten, teils perfekt ausgebauten Straßennetz aus über fünf Millionen Kilometern, die abwechslungsreich durch alle Landesteile führen. Man bräuchte Wochen und Monate, um dieses Mega-Land auch nur ansatzweise selbst "erfahren" zu können. Und trotzdem ist China nur ein Zwerg. Motorradtouristisch betrachtet jedenfalls. Obwohl seit geraumer Zeit sogar sehr taugliche Reise-Motorräder "made in China" auch auf unseren europäischen Markt drängen. Ja, für wen bauen die denn solche Maschinen? Ist das alles nur Exportware?

Zahlreiche Überwachungskameras und Polizeikontrollen

In der Volksrepublik füllen kleine, nutzwertige Motorräder die Straßen, aber nur wenige Tourenmaschinen sind unterwegs, und ausländische Tourenfahrer gibt es so gut wie gar nicht. Warum bloß? Ist das Land tatsächlich keine Reisen wert? Sind es vielleicht die vielen Bedenken und Vorurteile, die von einer Tour dort abhalten – autoritärer Staat, Verletzung von Menschenrechten, Luft- und Umweltverschmutzung, Überbevölkerung? Ich bereise die ganze Welt und möchte mich nicht in einen politisch-ideologischen Rahmen pressen lassen, der mich von einer Fahrt irgendwohin abhält. China interessiert mich, trotz der zahlreichen Ressentiments, die auch ich pflege. Deshalb war ich hocherfreut, eine Chance zu bekommen, zusammen mit Edelweiss Bike Travel auf eine Premieren-Tour gehen zu dürfen: den Mystery Ride China in der Provinz Yunnan.

Als eine der beliebtesten Urlaubs- und Reiseregionen Chinas mit mehr als 25 ethnischen Minderheiten perfekt, um auf einem Motorradtrip zumindest einen Teil vom "echten" China besser kennenlernen zu können. Kurioserweise kämpfte ich mich auf dem Hinflug nach Peking durch das reichlich abgehangene Hippie-Kultbuch "Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten" von Robert M. Pirsig, dessen mitunter zähe Lehrrede immerhin eine auch für die anstehende Tour sehr passende Weisheit parat hielt: "Auf dem Motorrad ist der Rahmen weg. Man ist mit allem ganz in Fühlung. Man ist mittendrin in der Szene, anstatt sie nur zu betrachten, und das Gefühl der Gegenwärtigkeit ist überwältigend." Recht hat er, der Robert, doch im Moment ist mein Bild und Gefühl der Gegenwärtigkeit, inmitten vom Stadtverkehr in Kunming: überwältigend beengend. Hinzu kommt, dass die Verkehrsteilnehmer alle paar Hundert Meter geblitzt werden. Nicht wegen überhöhter Geschwindigkeit (wie auch, ist sowieso nur Schritttempo möglich …), sondern weil der Staat gerne kontrolliert. An jeder Ecke, selbst in abgelegenen Dörfern, hängen Überwachungskameras, Polizeikontrollen sind auf manchen Straßen wie ein Grenzübergang organisiert, Ordnungshüter omnipräsent, und bei einem Check sollten alle Papiere picobello in Ordnung sein.

Bürokratische Stolpersteine der China Motorrad-Reise

In diesem Zusammenhang hier die wichtigsten Stolpersteine für China-Motorradreisende: Du benötigst einen chinesischen Führerschein, ein internationaler Führerschein reicht nicht. Möchtest du mit eigenem Motorrad China bereisen oder einfach nur im Transit das Land durchqueren, bekommst du nur mit erheblichem zeitlichem Vorlauf und intensiven Behördengängen eine Erlaubnis und passende Zulassungsdokumente. Motorradvermietung ist selten, und du brauchst einen staatlich zugelassenen, einheimischen Tourguide, der dich die ganze Zeit begleitet. Klingt kompliziert – ist es auch. Den Amtsschimmel mit nervenaufreibenden Antragsstellungen haben allerdings bereits im Vorfeld dieser Motorrad-Pauschalreise die Organisatoren von Edelweiss Bike Travel geritten. Wir Reisende mussten lediglich einen halben Tag auf der Polizeistation in Kunming verbringen, um nach einem Sehtest und reichlich Papierkram die chinesische Fahrerlaubnis in Händen halten zu dürfen.

Nun bange ich, den Führerschein gleich in der ersten Polizeikontrolle wieder loszuwerden, wer weiß, wie streng die das hier mit der "Innenstadt-Motorrad-Regel" nehmen. Doch die Verkehrspolizisten winken unsere 18 Motorräder und 21 Passagiere starke Reisegruppe nach skeptischem, aber auch verdattertem Blick schnell durch. So ein Maxi-Motorrad-Rudel, bestehend aus BMW GS und RT, sieht man in China nicht alle Tage, wir sind Exoten und ein ungewohnter Anblick zwischen all den modernen Elektroautos, Bussen und kleinen Krafträdern.

Rutschiger Asphalt, stockender Verkehr

Schnell lassen wir die große Stadt und deren Peripherie mit siloartigen, gleichförmigen Wohntürmen hinter uns, endlich öffnet sich die Landschaft, es lässt sich wieder befreit rollen. Doch der Himmel ist bedeckt, ein graubrauner Schleier aus Dunst legt sich übers Land, es ist schwül-heiß, auf der eher stumpf geraden Landstraße blockieren rußende Lkw den Fahrfluss, es geht vorbei an Zementwerken, Lagerhallen und anderen hässlichen Industriebauten, die zwar von wirtschaftlichem Wachstum zeugen, aber nicht gerade zu einem schönen Panorama beitragen. Eine Mischpoke aus Staub, Öl und Bremsabrieb verleiht dem Asphalt außerdem vielerorts eine rutschige Oberfläche – die Traktionskontrolle der 1250er-Reiseenduro ist jedenfalls gut beschäftigt und verhindert mehrfach einen Abflug.

Später, im hochmodernen, kühl-klimatisierten Hotel mit großem Pool, weltläufiger Weinkarte, internationalem Büfett und synthetisch aus dem Boden gestampftem Touristen-Dorf als Kulisse für Urlaubsfotos, schlüpfe ich aus der staubigen Textilkombi, dusche den klebrigen Schweiß vom Körper und resümiere: Nein, bisher kann mich China nicht überzeugen. Auch der Folgetag lässt zweifeln, hier freiwillig Motorradurlaub machen zu wollen. Baustellen, stockender Verkehr und Autobahn, auf der wir als Motorradfahrer wie schon in der Innenstadt eher geduldet als erlaubt sind. Auch das ist so eine absurde Regel aus einer Zeit, als es in China so gut wie keine größeren Motorräder gab. Die millionenfach verbreiteten kleinen Krafträder mit kaum mehr als 150 Kubik wollte man als Sicherheitsrisiko von der exklusiven Schnellstraße lieber fernhalten, daher gibt es an den Autobahn-Mautstationen kein spezielles Ticket für Motorräder. Mit einem Big Bike wird man aber meistens durchgewinkt respektive fährt einfach an der Schranke vorbei. Eine rechtliche Grauzone.

Tropisches Bergland, kurvenreiche Strecken

Nun geht es südwärts und dann entlang der Grenzen zu Vietnam und Laos. Auf langen Anreise- und Verbindungsetappen vermittelt die Autobahn nun in der Tat Freiheit, weil: komplett frei. Kein Verkehr, also Tempomat rein und zurücklehnen. Verrückt, da führt eine mehrspurige Trasse durchs Niemandsland, es sind sogar schon große Flächen für Rasthäuser mit vielen Parkplätzen angelegt, aber außer den Toiletten ist nichts in Betrieb. Freie Fahrt für … nun ja, die Bürger sollen dorthin ja erst umsiedeln. Freiwillig? Egal, man plant halt für die Zukunft, in wenigen Jahren werden dort voraussichtlich große Städte entstehen, die passende Infrastruktur entsteht vorauseilend. Auch das ist typisch China: Land im Umbruch, ultradynamisch und mitunter beängstigend schnell.

Wir verlassen die Bahn aber wieder, denn Fahrfreude kommt – wie wohl überall auf der Welt – eher auf Berg- und kurvigen Nebenstrecken auf. Davon gibt es ab sofort viele! Die Tour ändert ihren Charakter. Waren es zuvor die netten Annehmlichkeiten der noblen Unterkünfte oder die bunten Innen- und Altstädte (zum Beispiel Jianshui, wunderschön!), die – erst nach dem Abstellen des Motorrads – den Reiz des Reisens ausmachten, sind es jetzt die Straßen. Der Weg zu den Honghe-Hani-Reisterrassen (UNESCO-Welterbe) und weiter nach Pu’er (berühmt für den Tee) führt durch tropisches Bergland, flüssige Kurven und kaum befahrene Routen lassen das Herz höherschlagen. Der Asphalt bleibt aber an manchen Stellen kritisch glatt, höchste Aufmerksamkeit und ein sensibler Popometer sind gefragt. In den Bergdörfern sammeln sich beim Halt die Menschen um die Motorräder. Wir sind eine Attraktion und sie begegnen uns mit einer völlig anderen Willkommenskultur als in den Städten, wo viele oft nur wie hypnotisiert in ihre Handys starren. Hier, in abgelegenen Orten, halten zwar auch selbst die einfachsten Leute ein Smartphone in der Hand, überraschenderweise aber, um etwa mit Übersetzungs-Apps mehr von uns zu erfahren. Selfies und Gruppenbilder mit neugierigen und humorvollen Menschen werden fast schon zum Standard für uns, mitunter kommen ganze Schulklassen herangeeilt, um Fotos von und mit uns "Aliens" zu schießen.

Tengchong: zahlreiche Lotusblüten, historische Tempel

Das Klima wird gemäßigter mit jedem Höhenmeter, langsam und stetig klettern wir an der Grenze zu Myanmar gen tibetisches Hochland. Die Stadt Tengchong liegt auf rund 1.600 Metern Höhe mit angenehmen subtropischen Temperaturen und einer üppigen Vegetation. Der Ortsteil Heshun wuchert mit zahlreichen Fotomotiven: Teiche voller Lotusblüten, geschnitzte Hausfassaden, alte Brücken und Tempel. Zudem locken kulinarische Freuden: von Garküchen mit chillischarfen Nudelsuppen, die einen ins Schwitzen bringen, bis hin zu westlich geprägten Kaffeehäusern mit Cappuccino und Cheesecake. Heshun ist voll mit Besuchern und ein gutes Beispiel für viele, in den letzten Jahren herausgeputzte, traditionsreiche Orte in Yunnan, in denen der Tourismus boomt. Vor allem inländische Urlauber aus der gut verdienenden Mittel- und Oberschicht zieht es hierher, die mit ihren teuren Autos auf Familienurlaub gehen.

Ausländische Reisende sieht man hingegen nur selten, ebenso nur wenige Motorradfahrer. Aber es gibt sie: Im Schatten eines Baumes auf einer wunderschönen Bergstraße treffen wir einen Studenten aus Shanghai, der für mehrere Monate auf seiner Suzuki V-Strom nach Lhasa (Tibet) unterwegs ist; ein paar ältere Herren mit zentnerschwer bepackten 500er-Voge-Cruisern sind auf verlängertem Wochenendtrip; ein junges Pärchen mit Klapphelmen, Bluetooth-Intercom und Tourentextil macht auf einer CFMoto-Reiseenduro für zwei Wochen Erlebnisurlaub. Ja, es gibt Tourenfahrer, aber Motorradtourismus steckt noch in den Kinderschuhen. Da wirkt es schon fast unwirklich und hoffnungslos, als wir mitten im Nichts auf ein sehr spitz auf BMW-Fahrer zugeschnittenes Motorrad-Designerhotel stoßen mit originellen, garagenartigen Ferienhütten. Coole Anlage, auch noch mit Thermalquellen und einem alten Tempel nebendran, aber wer bitte schön soll sich hierher verirren? Man plant halt für die Zukunft …

In 4.300 Metern auf dem Baima Pass

Wir fahren weiter, Hunderte Kilometer entlang des Nu Jiang, des "Zornigen Flusses". Erstklassige Strecke mit weit gezogenen Kurven und Möglichkeiten, schwungvoll links und rechts auf fantastische Bergstrecken abzubiegen. Ein Traum für Tourenfahrer, der noch fantastischer wird, sobald die Route ins Hochgebirge führt, teils über gut ausgebaute Bergstraßen ohne Kennnummer oder Namen, die über 3.000 Meter führen. Zack, zick, zack, zick, zack – eine Überdosis an Schräglagenwechseln bis nach Dêqên, hoch im Norden Yunnans, dem letzten Außenposten für Weiterreisende in das Autonome Gebiet Tibet, sofern diese eine Erlaubnis dabei haben. Haben wir nicht, knipsen daher am Morgen nur den sehr fotogenen höchsten Gipfel der Meili-Schneeberge (Khawa Karpo, 6.740 Meter). Auf dem Parkplatz stehen ein paar einheimische Tourenfahrer mit BMW F 900 XR, Honda-Integra-Roller und Kawasaki Versys, die wie wir auf einer der beliebtesten chinesischen Fernstraßen, der Route 214, wieder Kurs Süd nehmen wollen. Kurzer Benzintalk auf zwei, drei Zigarettenlängen in dünner Luft auf 3.500 Metern, und weiter geht’s auf dieser feinen, mit Kurven fast schon überfrachteten Route inklusive des fast 4.300 Meter hohen Baima-Passes – aus Motorradfahrersicht wohl im wahrsten Sinne das Highlight auf unserem Mystery Ride.

Farbenfrohe und vielfältige Kulturen in Shangri-La City

Finale. Die Straßen bleiben schön, die Städte werden immer schöner. Obgleich manche Bemühungen, Reisende anzulocken, aus europäischer Sicht seltsam anmuten. Shangri-La City zum Beispiel. Die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründete, also recht junge 180.000- Einwohner-Stadt hieß früher Zhongdian und wurde 2001 umgetauft, der tibetische Name bedeutet "Land der Heiligkeit und des Friedens". Dort leben mindestens 20 nationale Minderheiten, vor allem Tibeter, Naxi und Han; alte buddhistische Klöster gehören originär zu deren alten Kulturen, genau wie die farbenfrohe traditionelle Kleidung, die von einigen Einwohnern noch stolz getragen wird. Vieles in der Stadt erscheint jedoch wie eine mit Folklore vollgestopfte Kulisse, und jährlich durchströmen Millionen von inländischen Touristen die Gassen, kostümieren sich mit Gewändern und lichten sich Abermillionen Mal mit ihren Handys ab. Tiktok-Selfie-Wahn – von etwas weiter weg betrachtet wirkt das fast schon wieder wie eine Attraktion für sich. Auch die historische Altstadt von Lijang ist ein Touristenmagnet, aber ein sehr angenehmer, der mit quirligem Nachtleben, Postkartenpanoramen (der fast 5.600 Meter hohe Jade Dragon Snow Mountain im Hintergrund, idyllische Parks mit Seen, Wasserkanälen, Blumen-Arrangements usw.) ebenfalls massenhaft Besucher anzieht.

Am letzten Tag in der Stadt Dali, obwohl "nur" rund 800.000 Einwohner, gibt es wieder Gedränge, es geht nur stockend im Schritttempo voran. Diesmal stehen die Motorräder allerdings geparkt in der Tiefgarage vom Hotel. Wir sind per pedes zum Souvenir-Shopping in der Altstadt unterwegs. Hölle, ist das voll hier! Heute ist Feiertag, Frauen, Männer, Kinder tanzen durch die Straßen, überall Aufführungen und Musik. Wir schwimmen mit im Menschenstrom, spüren nach diesen intensiven Wochen besser den Geist dieser Mega-Nation, glauben, auf dieser besonderen Motorradtour China ein Stück weit besser kennengelernt und verstanden zu haben. Die anfängliche Skepsis ist gewichen – dieses großartige Reiseland verdient weitere Besuche, auch und gerade auf zwei Rädern. Hoffentlich das nächste Mal mit weniger bürokratischen Hürden für Motorradfahrer. Wer weiß, das Land entwickelt sich. Schnell.