Glencoe vor 331 Jahren: Es ist kalt und nass. Schreie hallen durch die Winternacht, Dutzende Frauen, Kinder und Männer werden in ihren Betten grausam erdolcht. Von Mitgliedern des Campbell-Clans, die zuvor zehn Tage lang völlig friedlich die Gastfreundschaft des MacDonald-Clans genossen und dann auf einen bösen Befehl hin ihr Mordwerk begonnen hatten. Das Massaker von Glencoe hat blutige Geschichte geschrieben. Es ist ein Lehrstück dafür, wie damals die zahlreichen schottischen Clans von der großen Politik gegeneinander ausgespielt und die wahren Schuldigen nie bestraft wurden.
Mystische Landschaft bei Glenoce
In der Gegenwart ist es friedlich hier in der Gegend um Glencoe. Das Wetter ist ähnlich schlecht wie damals, obwohl es nicht Februar, sondern Juni ist. Regen und Sturmböen peitschen über die mystische Landschaft südlich des 1.344 Meter hohen Ben Nevis. Wenn es kurz aufklart, geraten schroffe, jetzt wieder schneebedeckte Hänge ins Visier.
Die Motorräder kämpfen sich über eine von Gletschern erodierte Hochebene, durch Moore und tundraartige Vegetation. Wenn die Witterung schön ist, geht die Gegend jedem zu Herzen. Das ist auch der Grund, warum die szenische A 82 an sonnigen Wochenenden vom fahrenden Volk völlig überfüllt ist. Heute ist außer uns kaum jemand da, und so können wir den rauen Charme dieser Hochstraße fast allein genießen.
Wie wir schon oft auf Schottland-Trips wahrnehmen konnten, belastet auch jetzt das schlechte Wetter die Seele weniger, als wenn wir in anderen Gegenden unterwegs wären. Die frische Luft scheint gewürzt mit Spannung, Geschichten und Abenteuer. Vielleicht auch mit einem Hauch Whisky. Alltogether ist die Stimmung sogar so gut, dass Claudia, Diana und Dirk bei jeder Pause den Regen verspotten. Dabei werden, was mehr ist als Unterhaltungsprogramm, Feinheiten von Flora und Fauna gewürdigt. Und wenn der Himmel dann mal kurz aufreißt, um seine Idee von Blau anzudeuten, entsteht eine Euphorie, die den nächsten Schauer locker und lässig abwettert.
Über die B 8974 durch das schottische Highland
Gesetzt den Fall, die A 82 ist zu voll: Dann ergeben sich ein paar Möglichkeiten, der Blechlawine zu entfliehen und in Seitenstraßen zu verschwinden: bei Inverlochy links auf die unverschämt kleine B 8074. Die führt entlang des wilden Flusses Orchy höchst unterhaltsam, wild und schmal über Achnafalnich, Arichastlich, am Easan-Dubha-Wasserfall vorbei zur Allt Kinglass Bridge, wo man wieder links auf die A 82 zurückschwenken kann. Andere Abstecher, liebe Leute, sind noch cooler: Fahrt einfach durch die szenischen Seen Lochan na h-Achlaise und Loch Bá, passiert die Aussichtspunkte Rannoch Moor und Stob Dearg, dann kommt links das "Glencoe Mountain Resort" mit wahrhaft tollen Wandermöglichkeiten.
Weiter? Okay, kurz hinter der River Etive Bridge geht es irgendwann links ab in ein schmales Sträßchen namens Skyfall Road, das durch einen hinreißenden Traum von schottischen High-Landschaften führt. Entlang des Flusses Etive surfen wir zu einem dramatischen Drehort des James-Bond-Movies "Skyfall". Aber vorher stoppen wir für Ken und Will. Die beiden Studenten aus Glasgow trainieren an mehreren kleinen Wasserfällen sturzfreies Stand-up-Paddling. Jeder Versuch endet in einem Sturz, vielleicht ist es unmöglich, diese Fälle im Stehen zu meistern, doch die Jungs geben nicht auf und stellen ihre Stunts in Netz. Sehr unterhaltsam, genau wie die ganze weite Szenerie drum herum, die nicht umsonst im "Bond" ein Millionenpublikum gefesselt hat.
Küste von Loch Linhe und der Fährhafen von Oban
Fesselnd ist auch unsere wilde Weiterfahrt. Fast ehrfürchtig passieren wir das geschichtsgeplagte, heute aber adrette Clencoe, reiten gefühlt ewig entlang windgepeitschter Küsten von Loch Linnhe, Loch Creran und der Ardmucknish Bay, bevor sich die Stadt Oban vor den Motorrädern aus dem Nebel schält. Was den Ort interessant macht? Er ist Fährhafen zu zahlreichen Inseln, bietet Gelegenheit für leckeren Fischverzehr, stimmungsvolle Architektur, wie immer dramatische Historie, den unvollendeten Nachbau des römischen Kolosseums durch den megalomanischen Banker John Stuart McCaig, eine bekannte Whisky-Destille und viele weitere Gründe für eine Übernachtung.
Inveraray: Hafenstädchen mit urigen Pubs
Genauso wie Inveraray, das Hafenstädtchen an der Mündung des River Aray in den Meeresarm des Loch Fyne, gut 38 gischtgepeitschte, aber auch bei schönem Wetter fahrerisch nicht unspannende Meilen südöstlich. Ein Ort zum Träumen und Genießen. Nachdem ich am Hafen Steve kennengelernt habe, der mir die Vorteile seiner mit Liebe umgebauten Triumph Bonneville und die Nachteile unserer BMW erläutert, landen wir in einem urigen Pub, dem bekannten "George". Steve meint: "Vielleicht die bestsortierte Bar auf dem Weg von Glasgow nach Islay, eine riesige Auswahl an Ales, 100 Malzwhiskys und eine reichhhaltige Weinliste". Hier kann man nicht nur übernachten wie ein Lord, sondern auch unfassbar schmackhaft speisen.
Der sympathische Junge hinter dem Tresen ist der letzte Spross der Gründerfamilie Familie Clark und erzählt uns die Geschichte vom berühmten Inveraray Castle, das ein paar Hundert Meter entfernt liegt: Schön, aber dekadent sei das Schloss der Dukes of Argyll, die aus dem Clan Campbell stammen. Alle Räume seien ausgestattet mit Stuckmalereien, Wandteppichen und edelsten Möbeln. Im Zentrum des Schlosses sei die Waffenkammer mit 1.300 Musketen wie Hellebarden. Und dem Dolch des schottischen "Robin Hood" Rob Roy MacGregor. Der junge Clark hebt sein Whiskyglas und erzählt weiter: "Als der Duke von Argyll 1770 in sein neues Schloss zog, hat ihm die Lage des Dorfes Inveraray die Sicht auf den Meeresarm versperrt. Da ließ er das ganze Dorf versetzen. Nein, nicht alle Mitglieder der Campbells waren so schlimm, aber ich bin froh, dass die Zeit der Clans vorbei ist. Lasst uns darauf trinken!"