Westalpen mit Vintage-Enduros: Schotter-Paradies vor der Haustür

Mit Vintage-Enduros in den Westalpen
Schotter-Paradies vor der Haustür

ArtikeldatumVeröffentlicht am 15.11.2025
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Angefangen habe ich mit einer 2016er-Yamaha R3 mit ABS und allem Möglichen", erzählt Chiara. Es ist ihr Partner Flo, der die Ausbildungsleiterin mit seiner Leidenschaft für ältere Yamaha-Enduros begeistert. Nicht nur Kickstarter statt Knöpfchen und Popometer statt Drehzahlmesser reizten die 24-Jährige, auch die geringe Masse und das Handling der 1991 gebauten TT 350 begeisterten sie und animierten schon bald zu ersten Ausflügen auf unbefestigten Wegen.

Trial-Trainings zur Vorbereitung

Zwei Trial-Trainings steigerten die Vorfreude auf kniffelige Action im Gelände. Naheliegendes Ziel für die in der Nähe von Ulm lebende Chiara: die zahlreichen Schotterpisten der Westalpen, die nach wie vor legal befahrbar sind und Endurofreunden viel Auslauf bieten. Mit neuer Zylinderfußdichtung und frischem Öl startete das Yamaha-Pärchen an einem trüben Septembermorgen 2022 in sein erstes gemeinsames Offroad-Abenteuer.

Abgesehen von einem kaputten Blinkerbirnchen an der TT 350 und einem defekten Lichtschalter an der XT 500, die unterwegs ausgetauscht wurden, gab es bei 1725 Kilometern in sechs Tagen keine weiteren Verluste. Stattdessen: viel Fahrspaß, unvergessliche Ausblicke und jede Menge Gelände-Erfahrung.

Die beiden Yamahas bewiesen, dass sie nicht nur zuverlässig sind, sondern auch nach wie vor mit guter Performance punkten können. Rückblickend waren die vielen Kilometer auf Naturbelag für Chiara und Flo der Startschuss für weitere Motorradreisen, verrät Chiara: "Wir waren seitdem noch mal in den Westalpen, auf dem TET in Frankreich und in Tunesien – alles auf der TT 350."

Entspannter Auftakt in der Schweiz

Mit beherztem Kicken erwachen die beiden Motoren zum Leben, und die Reise in den Süden kann beginnen. Das Regenradar haben wir immer fest im Blick. Hügelige Landstraßen führen uns zwischen hochgewachsenen Feldern, grünen Wäldern und blühenden Wiesen zur holzverkleideten Grenzbrücke in Diessenhofen und damit in die Schweiz.

Bald darauf erreichen wir meine Familie in Rapperswil, unserem Tagesziel. Wir bekommen eine Stadtführung und verbringen einen schönen Abend am Ufer des Zürichsees.

Am nächsten Morgen schwingen wir uns voller Vorfreude auf die Maschinen und folgen der Empfehlung meines Opas: über den Etzelpass und Ibergeregg, Teufelsbrücke, Furkapass und quer durch das Walliser Tal in Richtung Italien und Frankreich.

Trotz eisiger Temperaturen auf dem Großen Sankt Bernhard bestaunen wir die schroffe Berglandschaft rund um den tiefblauen See am Gipfel. Fast noch besser ist die Aussicht, endlich auf die ersten unbefestigten Wege abzubiegen und unsere bepackten Enduros ins Gelände auszuführen.

Grob geschotterter Aufstieg ohne Ankündigung

In all der Aufregung hatte sich in den letzten Tagen auch etwas Frust über die teils widerwillig anspringende TT angestaut. Auf einem kleinen Bergsträßchen gipfelt dies im ersten Dämpfer der Reise. In einer steilen Linkskurve würge ich die 350er-Yamaha erst ab und bekomme sie dann nicht mehr angetreten. Dann merke ich, dass ich sie auch nicht mehr in den Leerlauf bekomme. Nach dem ersten Schreck stellen wir fest, dass sich die Einstellschraube des Kupplungszugs gelockert hat und die Kupplung deswegen nicht mehr trennt.

Das Problem ist schnell behoben, und es geht weiter – das Ankicken in stressigen Situationen bleibt aber manchmal noch eine Herausforderung für mich.

Kurz darauf die nächste Überraschung: Der grob geschotterte, teilweise geröllige Aufstieg startet ohne Ankündigung hinter einer unscheinbaren Kurve. Nur eine Linie aus Pflastersteinen markiert das Ende des Asphalts. Um das Motorrad (samt Gepäck!) in Balance zu halten, stellen wir uns auf die Fußrasten, den Blick weit voraus, und lassen die Maschinen unter uns arbeiten.

Auf dem Plateau angekommen, genießen wir stolz den atemberaubenden Blick auf das tief unter uns liegende Land. Eine alte Windmühle thront am Rand der Hochebene, wir entdecken einen kleinen Brunnen sowie einen Picknick-Platz. Unser Nachtlager ist gefunden. Das perfekte Ende eines herausfordernden Tages!

Weiterreise zu viert

Ein Morgen heißt uns mit einer großen Überraschung willkommen. Kaum fünf Meter neben unseren Maschinen parken zwei weitere, in ähnlichem Alter wie unsere eigenen, lediglich ein bisschen schwerer. Schnell lernen wir auch die beiden Fahrer dazu kennen: Ruben und Noah, zwei Brüder aus der Schweiz, wie wir Mitte 20.

Die Gruppe scheint perfekt, und so machen wir uns zu viert auf die Weiterreise. Die Honda Transalp 600 voran, gefolgt von der Yamaha Ténéré seines Bruders, dahinter ich mit meiner TT 350 und an letzter Position Flo auf der XT 500. Hier oben fühlen wir uns wie Wanderer – eins mit der Natur, nur eben mit Motorrad.

"Vergangenen April haben wir hier wegen eines Schneebretts umkehren müssen", erinnert sich einer unserer neuen Weggefährten. Umso mehr genießen wir die Fahrt über die ruhigen, anmutig aus dem Nebel ragenden Berge.

Retro-Enduros ziehen Blicke auf sich

Die Retro-Enduros ziehen immer wieder Blicke auf sich: Am Gipfel des Sommeiller sammelt sich eine staunende Traube um die XT 500 und die TT 350. Dass wir "junge Leute" mit diesen historischen Maschinen im Jahr 2022 auf dem Gipfel des Colle Sommeiller anzutreffen sind, beschert uns viele lobende Worte.

Manche äußern auch Bewunderung, obendrein mich als selbstfahrende junge Frau mit einer solch "alten" Geländemaschine vorzufinden. Er hätte selbst mit diesem Modell im Geländesport begonnen, berichtet uns einer der Hardenduristen stolz. Erst auf Nachfrage bemerkt er die Verwechslung mit der großen Schwester TT 600 …

Einstieg in den Colle de Sommeiller

Wir schlängeln uns zum Einstieg in den Colle de Sommeiller. Der erste Teil der Auffahrt führt über mittlerweile vertrauten Schotter. Ein paar Pfützen weiter werden die Steinchen auf dem Boden vor uns größer und enge Serpentinen führen uns weiter hinauf.

Auf halber Höhe muss unser Ténéré-Fahrer das Zelt zweimal wieder ausrichten und sein Gepäck festgurten. Die XT 500 schafft es, die Gepäckrolle so lose zu rütteln, dass die Tasche in die Kette gezogen wird. Glück im Unglück, denn außer einem daumengroßen Loch im Oberstoff der Tasche ist nichts passiert.

Wir verzurren die Ausrüstung so fest, wie es nur geht, und schaffen die restliche Strecke ohne Zwischenfälle, obwohl die letzten Serpentinen über lockeres Geröll einige Herausforderungen bereithalten.

Oben auf unglaublichen 3.000 Metern angekommen, bietet sich ein spektakulärer Blick über die umliegenden Bergketten von Bella Italia und La France. Mit der Strada dell’Assietta und dem Colle delle Finestre sammeln wir weitere unvergessliche Kilometer auf Schotter.

Müde, aber glücklich checken wir abends im Hotel ein und genießen noch einmal das Dolce Vita in den italienischen Westalpen, bevor es am nächsten Tag 730 Kilometer im kalten Regen auf der Straße zurückgeht.

Fazit