Man kann zu dieser Marke stehen, wie man möchte. Doch eines müssen selbst die größten Kritiker zähneknirschend anerkennen: Was BMW mit der S 1000 RR gezeigt hat, ist in jüngster Vergangenheit einzigartig. Reihenweise Testsiege, seit Jahren mit großem Abstand bestverkauftes Superbike. Dieser Höhenflug animierte die Bayern offenbar dazu, vollends nach den Sternen zu greifen und mit der HP4 Race die ultimative Waffe auf die Räder zu stellen. Kompromisslos auf Racing getrimmt, ohne Straßenzulassung, limitiert auf 750 Einheiten, 80.000 Euro teuer. Besonders stolz ist man in München auf den komplett in Karbon gefertigten Hauptrahmen. "Er wiegt nur 7,8 Kilo und ist damit ganze vier Kilo leichter als das Serienpendant der S 1000 RR aus Alu", schwärmt Gesamtprojektleiter Christian Gonschor. "Außerdem können wir ihn maschinell in gleichbleibend hoher Fertigungsqualität und dazu wirtschaftlich herstellen. Für den Serienbau ein unschätzbarer Vorteil." Aha! Planen die Bayern etwa, diesen Werkstoff künftig vermehrt auch im Großserienbau einzusetzen? Eindeutige Antworten gab's auf diese Frage nicht, doch das ist hier auch nicht das Thema. Schließlich sind wir auf den "Circuito do Estoril" nach Portugal gereist, um der HP4 Race ordentlich die Sporen zu geben!
Aufsitzen. Deutlich Vorderrad-orientierter als die S 1000 RR und mit weit nach außen gestellten Lenkerstummeln (einstellbar) platziert die Race ihren Piloten. Eindeutige Angriffshaltung, aber nicht unbequem. Die Füße finden wie von selbst auf die ebenfalls einstellbaren Rasten, der Allerwerteste ruht auf perfekt dimensioniertem Moosgummi und das Rahmenheck bietet drei unterschiedliche Sitzhöhen. Links und rechts am Lenker sitzen allerlei bunte Knöpfchen, das schwarze startet den Motor. Wie das ganze Bike wird auch der Antrieb in feiner Handarbeit in einer eigens eingerichteten Manufaktur im Berliner Werk aufgebaut.
Brammm, brammm, brammm! Schon die Gasstöße im Stand lassen mördermäßigen Punch erahnen. 215 PS gibt BMW für den Mix aus Langstrecken- und Superbike-WM-Aggregat an. Damit will man den idealen Kompromiss aus großer Leistung und hoher Zuverlässigkeit gefunden haben. 5.000 Kilometer Garantie geben die Bayern selbstbewusst auf das Triebwerk – einmalig für ein Rennmotorrad! Und danach? "Bis dahin braucht der Motor keinerlei Wartung, selbst ein Ölwechsel ist nicht unbedingt nötig", erklärt Gonschor. "Danach bauen wir einen komplett neuen Motor ein." Wie bitte? Alle 5.000 Kilometer ein nagelneues Aggregat? Über die Kosten schweigt sich München aus, offiziell ist noch nichts kalkuliert. Doch nimmt man die Werksmotoren-Preisliste für die WM als Basis, dürfte die Summe knapp fünfstellig ausfallen. Ganz schön happig! Andererseits: 5.000 Rennstrecken-kilometer in den Asphalt zu brennen, braucht seine Zeit.
Einstellmöglichkeiten der Elektronik? Unendlich
Ersten Gang einlegen, mit leichtem "Klack" greifen die Zahnräder ineinander. Einkuppeln. Anschließendes Drücken des Starterknopfs im ersten Gang aktiviert den Boxengassen-Limiter, brabb-brabb-brabb-brabb. Den ersten Zehn-Runden-Stint fahren wir auf "Intermediate", einem von insgesamt vier Fahrmodi. Er dient zum Eingewöhnen, gibt nicht die komplette Leistung frei und auch die voreingestellte Traktions- und Wheeliekontrolle regeln defensiv. Nächster Turn, Modus "Dry 1". Jetzt dreht die HP4 obenrum deutlich freier aus und schiebt, drückt und presst weiter, immer weiter – stets begleitet vom infernalischen Schreien des Racingauspuffs. Bei jedem Beschleunigen nimmt die Race einer ebenfalls nicht gerade untermotorisierten Serien-S 1000 RR deutlich Meter ab. Diese kann sich auf der Start-/Zielgeraden nicht einmal im Windschatten halten. Schierer Wahnsinn!
Dabei präsentiert der Treibsatz seine Power wunderbar gleichmäßig, der Pilot bekommt exakt das, was er mit der rechten Hand abruft. Dazu geht die HP4 ausgesprochen fein ans Gas, und auch das Mapping der restlichen Elektronik aus dem Superbike-WM-Bike ist perfekt abgestimmt. Beispiel Traktionskontrolle: 15-fach einstellbar, nimmt sie ausschließlich Zündungseingriffe vor. Erst stellt die ECU die Zündung auf spät. Genügt das nicht, folgen Zündstrom-Cuts. Diese herrlichen Donnersalven kennt jeder Racing-Fan live oder vom TV. Schnelle Piloten orientieren sich an dem Geräusch und passen die Gasgriffstellung darauf an: mehr Gas bei niedriger Frequenz, weniger Gas bei hoher Intensität. Die TC der HP4 Race ist wesentlich schärfer abgestimmt als bei der Serien-S 1000 RR, lediglich die Einstellskala ist identisch. Sie reicht von plus sieben (frühes Regeln) bis minus sieben (minimale Eingriffe). Selbst namhafte BMW-Test-piloten stellen sie nicht tiefer als auf Position drei. Vielfach justierbar sind ebenfalls das Motorbremsmoment und die bereits genannte Wheelie-Control.
Auch im Chassis steckt feinstes WM-Material
Gleiches gilt für das komplett einstellbare Chassis. Der Lenkkopfwinkel ist ebenso variierbar wie das Gabelbrücken-Offset oder die Höhe des Schwingendrehpunkts. Außerdem steckt zwischen dem Umlenkhebel des Federbeins und der Schwinge eine Zugstrebe, über die sich die Heckhöhe stufenlos regulieren lässt. Das garantiert eine gleichbleibende Feder- und Dämpfungsarbeit bei unterschiedlichen Heckpositionen.
Werksseitig ist die HP4 Race jedoch schon hervorragend ausbalanciert, Änderungen erscheinen unnötig. Das laut Hersteller vollgetankt nur 171 Kilo schwere Superbike winkelt unerhört easy ab, trifft die Wunschlinie hundertprozentig und bleibt selbst in großer Schräglage überaus stabil. Welch ein göttliches Gefühl! Gabel, Federbein und Bremsen stammen aus der Superbike-WM und arbeiten ebenfalls sensationell. Lediglich beim Brutalo-Ankern Ende Start/Ziel aus knapp 300 km/h vibriert die Front unserer Testbikes spürbar. Laut BMW eine Folge der Stopper, die offenbar sehr behutsam eingebremst werden müssen. Trotzdem brennt die HP4 Race der Standard-S 1000 RR bei gleichem Einsatz drei Sekunden pro Runde auf. Auch deshalb ist BMW mit diesem Racing-Bike ein echter Coup gelungen – ein Coup Bavaria.