Mit den Unantastbaren kennen sie sich aus im Freistaat. Der Kaiser, der Kini, sogar der Papst - alles Bayern. Jetzt wollen sie dem Sportmotorrad die Krone aufsetzen. Die HP4 tritt an, um alle zu überstrahlen.
Mit den Unantastbaren kennen sie sich aus im Freistaat. Der Kaiser, der Kini, sogar der Papst - alles Bayern. Jetzt wollen sie dem Sportmotorrad die Krone aufsetzen. Die HP4 tritt an, um alle zu überstrahlen.
Es ist Dynamik drin, im BMW-Betrieb. Und sogar Raum für ein wenig Lässigkeit. Albert Wagner, Mastermind hinter der BMW-Traktionskontrolle, gönnt seinem Weber-B-frakturierten Sprunggelenk auf einem Stuhl Ruhe. Dr. Uwe Schatzberger, Projektleiter Dynamic Damping Control, ist eigentlich schon im Urlaub und schaut trotzdem mal kurz rein. Und Rudi Schneider, Projektleiter HP4, hat sein Baby gleich mitgebracht, weil er kaum noch absteigt. Gips und Leder statt Schlips und Kragen, Montagehalle statt Konferenzraum - diese Jungs sind voll bei der Sache.
HP4 heißt der jüngste Coup aus Bayern, ihr semiaktives Fahrwerk DDC ist nach dem bärenstarken Reihenvierzylinder und den Rundum-sorglos-Assistenzsystemen ABS und DTC (Dynamic Traction Control) der nächste Stachel im Fleisch der Konkurrenz. Ein Fahrwerk, das von kuschelweich bis bretthart alles im Programm hat, so das Versprechen. Aber wie bitte funktioniert das?
Der Ortstermin soll klären helfen. Zunächst mal theoretisch, bevor sich die HP4 dem gewohnten MOTORRAD-Testprozedere stellt. Was kann man messen, wie kann man es darstellen, worauf muss man achten? „Ausprobieren, einfach ausprobieren!“ Die drei Experten lachen. Denn auch wenn man dieses System vorrangig für die schnelle Runde auf der Rennstrecke entwickelt habe, seien es vor allem die schlechten Wegstrecken, auf denen die Vorteile im Alltag offensichtlich würden. „Der Komfort auf der Landstraße war ein angenehmer Nebeneffekt. Aber auch das ist natürlich nicht zu verachten.“
Szenenwechsel: die brutale MOTORRAD-Kickback-Teststrecke, ein trüber Herbsttag. Der satte (aber keineswegs überlaute) Sound der serienmäßigen Akrapovic-Komplettanlage aus Titan beschallt Wiesen und Wälder, kündigt die HP4 an, noch ehe sie zu sehen ist. Zweiter, dritter, vierter Gang, der Reihenvierer kreischt in höchsten Tönen - dann fliegt der weiß-blaue Bayern-Kurier vorbei. Mit unglaublichem Speed. Noch nie war ein Supersportler hier schneller unterwegs, auch die zum Vergleich mitfahrende S 1000 RR muss 15 km/h früher die Segel streichen. Warum? Weil die Lenkerenden bei diesem Tempo trotz Lenkungsdämpfer so nervös zucken, dass selbst abgebrühten Testern mulmig wird. Die HP4-Gabel hingegen „schwebt“ im Sport-Modus über -diesen Rübenacker, federt grobe wie feine Verwerfungen souverän weg, bleibt stabil auf Kurs. Das ist erstaunlich - vor allem, weil das -semiaktive Fahrwerk aus München im Gegensatz zum Ducati-System der neuen Multistrada auf einen Federwegsensor am Vorderrad verzichtet.
„Für die Fahrsituationen, auf die wir reagieren wollten, brauchen wir den Vorderradsensor nicht“, hatte das Trio in München erklärt. Heftige Bremsmanöver, voll durchgezogene Beschleunigungsphasen, schnelle Schräglagenwechsel in Schikanen - diese typischen Rennstreckensituationen seien im Lastenheft gestanden, nicht die Bordsteinkante oder das Schlagloch. Wer verstehen will, warum das DDC trotzdem auch hier so gut funktioniert, muss sich mit der grundsätzlichen Funktionsweise auseinandersetzen. Mit den vier Fahrmodi (Rain, Sport, Race, Slick), mit drei daraus resultierenden Basissettings für das Fahrwerk (Rain und Sport haben ein identisches Set-Up). Und vor allem damit, dass die drei Einstellungen eben nicht wie beim herkömmlichen ESA eine feste Kennlinie markieren, sondern einen weiten Einstellbereich. In diesem Einstellbereich reagieren die Dämpferventile innerhalb von Hundertstelsekunden auf die eingehenden Parameter. Im konkreten Fall sieht das - ganz grob, denn zu tief wollen sich die Münchner nicht in die Karten schauen lassen - in etwa so aus: Weit geöffnete Drosselklappen und rapide steigende Geschwindigkeit signalisieren die Notwendigkeit zunehmender Dämpfung am Hinterrad, das Dämpferventil schließt - natürlich auch in Abhängigkeit vom hinteren Federwegsensor - im Rahmen des definierten Einstellbereichs. Vorne hingegen erlauben eben jene Parameter - nämlich rasch steigende Geschwindigkeitszunahme, die weit geöffneten Drosselklappen und die steigende Drehzahl - auch ohne Federwegsensor das Öffnen des Dämpferventils bis an den unteren Rand des Einstellbereichs, weil das Vorderrad in dieser Situation weitgehend entlastet ist. Mit den beschriebenen komfortablen Folgen an der HP4-Front, während das Federbein in der Stresssituation doch straffer, aber ebenfalls nicht bockelhart daherkommt.
Für eine Sportlerin mit solchen Ambitionen hält die neue HP4 also einen erstaunlichen Komfort bereit. Und mit der Einstellung „Sport“ (wie gewohnt vorbildlich einfach vom rechten Lenkerende aus anzuwählen) für alle vorstellbaren Alltagssituationen die richtige Einstellung. Das Fahrwerk so komfortabel wie möglich, die Traktionskontrolle früh (aber nicht zu früh) regelnd, das ABS mit unbedingter Bremsstabilität und dennoch ausreichend kurzem Bremsweg. Derart behütet macht es nicht nur auf topfebenem Geläuf (dann haben die Assistenzsysteme in der Regel ohnehin Pause) Spaß, richtig anzugasen, sondern auch dann, wenn es mal ein wenig zweifelhafter wird. Und sogar wenn es regnet, weil der Regen-Modus ABS und DTC nochmals feinfühliger justiert und den Drehmomentanstieg des Motors linear moderiert, aber neuerdings nicht mehr die Spitzenleistung kappt.
Nominell 193 PS also, gemessene 200 PS - in dieser Hinsicht hat sich bei der -Metamorphose von der S 1000 RR zur HP4 nicht viel geändert. Die Leistungs- und Drehmomentkurven hingegen weisen wie versprochen mehr Druck im mittleren Drehzahlbereich aus. „Mapping und Abgasanlage“, heißt es dazu lapidar in München.
In der Praxis bedeutet dieser auf dem Prüfstandsdiagramm marginale Vorteil einen durchaus nennenswerten Leistungsschub genau dort, wo es auf der Hausstrecke gilt, nämlich zwischen 4000/min und 8000/min. In dem Bereich lässt die HP4 ihre zivile Schwester mächtig alt aussehen, was sich nicht nur in den reinen Durchzugswerten, sondern auch in den beeindruckenden Testparcours-Zeiten niederschlägt. Egal ob schneller oder langsamer Slalom, ob Kreisbahn oder Bremsmessung: Die HP4 schneidet überall noch besser ab als die ohnehin schon sehr gute S 1000 RR, die zum Vergleich immer dabei ist.
Dieser Vorsprung wäre nicht möglich ohne die neue Fahrwerkstechnologie, die im Parcours selbst im Sport-Modus - weit mehr jedoch im Race- oder Slick-Modus mit der entsprechenden, deutlich strafferen Abstimmung - überzeugt. Er wäre mit Sicherheit auch nicht möglich ohne die konventionellen Mittel, mit denen BMW die Performance steigerte. Gesamtgewicht spürbar runter (von 209 auf 203 Kilogramm), leichte Schmiederäder, Brembos Monoblock- statt der zweiteiligen Bremszangen, neu angepasste Beläge - das spürt man nicht nur im Parcours, sondern erfreulicherweise auch im Alltag. Die HP4 lässt sich leichter von einem Eck ins andere werfen, folgt den Lenkbefehlen noch präziser (woran auch Pirellis Supercorsa SP statt der Metzeler Racetec K3 auf der S 1000 RR ihren Anteil haben) und bremst zwar nicht heftiger, aber spürbar besser dosierbar.
Alles in allem also ein absolut überzeugendes Paket. Aber auch ein mächtig teures, denn das Testmotorrad kommt inklusive Competition-Paket (siehe Daten) auf knapp 25 000 Euro. Die Basis-HP4 hingegen ist mit 20 500 Euro ein Angebot, das auch S 1000 RR-Interessenten schwer ins Schwitzen bringen dürfte. Schließlich bekommen sie dafür nicht nur das eindeutig bessere BMW-Superbike, sondern auch das erste, das den bislang unmöglich erscheinenden Spagat zwischen Landstraße und Rennstrecke derart glänzend meistert. Und damit bis auf Weiteres in diesem Segment -unantastbar bleiben dürfte.
Motor
Die einzige Schwäche ausgemerzt: Unter dieser Überschrift muss man das Kapitel Motor wohl sehen, denn hinsichtlich der Beschleunigung und des Topspeeds gab es ja ohnehin auch bei der S 1000 RR nichts zu kritteln. Und so ist es der signifikant bessere Durchzug, welcher der HP4 zwei Punkte mehr einbringt als der S 1000 RR.
Fahrwerk
Die Stunde der Dynamic Damping control: Auch wenn es die Punktewertung in dieser Deutlichkeit nicht zeigen kann, bedeutet das Fahrwerk der HP4 einen riesigen Fortschritt. Das präzisere Lenkverhalten und vor allem die gelungene Fahrwerksabstimmung vorn muss man dem DDC gutschreiben, den Federungskomfort ebenso. Die gesteigerte Handlichkeit hingegen geht auf das Konto des insgesamt geringeren Gewichts und der leichten Räder.
Alltag
Die HP4 und das Kapitel Alltag: Das schließt sich keinesfalls aus, sondern geht im Gegenteil eine überzeugende Symbiose ein. Die Ausstattung überzeugt ebenso wie die Verarbeitung und die hochwertigen Komponenten, das geringere Gewicht ergibt zusammen mit dem geringfügig erhöhten zulässigen Gesamtgewicht eine höhere Zuladung.
Sicherheit
Es ist nur ein Punkt mehr, aber die spürbar bessere Dosierbarkeit der neuen Bremsanlage mit Brembo-Monoblocksätteln und neu abgestimmten Belägen ist auch im Alltag ein echter Gewinn. Und ein Genuss obendrein.
Kosten
Hier tat sich nichts: Wer einen Supersportler wie die HP4 oder S 1000 RR fahren will, muss tief in die Tasche greifen.
Preis-Leistung
Der Eindruck täuscht ein wenig. Die HP4 fällt in der Preis-Leistungs-Note nur deshalb so deutlich zurück, weil sie das teure Competition-Paket (3200 Euro) trägt.
Max. Punkte | HP4 | S 1000 RR | Gesamtwertung | 1000 | 730 | 713 |
Preis-Leistungs-Note | 1,0 | 4,0 | 2,7 |
Fazit
Die Quadratur des Kreises ist es nicht ganz. Aber fast! Jede Wette: Wer als begeisterter Sportfahrer auf die neue HP4 steigt, wird euphorisiert wieder absteigen. Weil dieses Motorrad alles draufhat, was man sich wünschen kann. Sie schüttelt die komode Landstraßentour ebenso locker aus dem Ärmel wie eine Spitzenzeit im Top-Test-Parcours. Und auf der Rennstrecke genügt ein Knopfdruck, und sie wird zur Racing-Queen. Garantiert!
Stramme 17 Punkte beträgt der Vorsprung, den die HP4 auf ihre zivile Schwester einfahren kann (siehe Punktewertung). Das ist ein für Supersportler-Verhältnisse enormes Polster. Und beinahe unglaublich angesichts der radikalen Ausrichtung, mit der die bayerische Edelsportlerin daherkommt.
Die alte Formel „Folterstuhl im Alltag, schnell auf der Rennstrecke“ aus seligen Ducati-Zeiten hat endgültig ausgedient. Im Gegenteil: Der HP4 schreiben ihre -Macher ohne Modifikationen IDM-Tauglichkeit zu (mehr dazu im nächsten Heft im ausgiebigen Rennstrecken-Test). Und MOTORRAD hohe Alltagstauglichkeit. Ein Beispiel: Die HP4 zieht spürbar besser durch als ihre Standard-Schwester (zwei Punkte mehr!), ohne nur einen Hauch an Spitzenleistung zu verlieren. Sie ist handlicher (ohne an Stabilität einzubüßen), lenkt präziser, bremst feiner dosierbar. Und ist bei alldem sogar komfortabler als die S 1000 RR, bei der sich zwar ebenfalls unterschiedliche Fahrmodi anwählen lassen, die jedoch auf das Fahrwerk keinen Einfluss haben.
Es sind also neue Elektronik-Zeiten angebrochen, die sich auch in weiteren Features der HP4 zeigen. Zum Beispiel in der Launch Control, die auf Knopfdruck aktivierbar ist und Drehzahl/Drehmoment beim Raketenstart so regelt, dass selbst Amateure ebenso schnell beschleunigen wie der MOTORRAD-Tester. Dafür gibt es allerdings in der MOTORRAD-Punktewertung noch keine Punkte. Sonst wäre der Vorsprung noch größer.
Keine Kennlinien, sondern breite Kennfelder - das ist der Vorteil des semiaktiven HP4-Fahrwerks. Entsprechend dem vorgewählten Modus variiert die Dämpfung der Zugstufe (oben) wie auch der Druckstufe (unten) aktiv innerhalb dieser Felder.
Schneller Schräglagenwechsel im Top-Test-Parcours: Im Sport-Modus federt die HP4 weiter und heftiger ein als im radikalen Slick-Modus. Und ist messbar langsamer.
So sieht Komfort aus: Auf der Kickback-Strecke federt die HP4 im Sport-Modus deutlich tiefer ein - und damit die harten Schläge auch deutlich besser weg als im Slick-Modus.
Motor
Wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, zwei obenliegende, kettengetriebene Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Schlepphebel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, Ø 48 mm, geregelter Katalysator, Lichtmaschine 350 W, Batterie 12 V/7 Ah, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung (Anti-Hopping), Sechsganggetriebe, Kette, Sekundärübersetzung 45:17.
Bohrung x Hub 80,0 x 49,7 mm
Hubraum 999 cm³
Verdichtungsverhältnis 13,0:1
Nennleistung 142,0 kW (193 PS) bei 13000/min
Max. Drehmoment 112 Nm bei 9750/min
Fahrwerk
Brückenrahmen aus Aluminium, Upside-down-Gabel, Ø 46 mm, verstellbare Federbasis, elektronisch verstellbare Zug- und Druckstufendämpfung (DDC), Lenkungsdämpfer, Zweiarmschwinge aus Aluminium, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis, elektronisch verstellbare Zug- und Druckstufendämpfung (DDC), Doppelscheibenbremse vorn, Ø 320 mm, Vierkolben-Festsättel, Schei-benbremse hinten, Ø 220 mm, Einkolben-Schwimmsattel, teilinte-gra--les Bremssystem, ABS, Traktionskontrolle.
Alu-Schmiederäder 3.50 x 17; 6.00 x 17
Reifen 120/70 ZR 17; 200/55 ZR 17
Bereifung im Test Pirelli Supercorsa SP, vorne „C“
Maße + Gewichte
Radstand 1423 mm, Lenkkopfwinkel 66,0 Grad, Nachlauf 99 mm, Federweg v/h 120/130 mm, zulässiges Gesamtgewicht 408 kg, Tankinhalt/Reserve 17,5/4,0 Liter.
Service-Daten
Service-Intervalle 10000 km
Öl- und Filterwechsel alle 10000 km 3,9 l
Motoröl SAE10W 40
Leerlaufdrehzahl 1200 ± 50/min
Reifenluftdruck solo (mit Sozius) vorn/hinten 2,5/2,9 (2,5/2,9) bar
Farben Weiß/Blau
Preis 20500 Euro
Preis Testmotorrad* 24 750 Euro
Nebenkosten zirka 269 Euro
Modus-Einstellungen
Rain | Sport | Race | Slick | E-Gas |
Leistung (kW/PS) | 142/193 | 142/193 | 142/193 | 142/193 | Drehmomentkurve | linear | maximal | maximal | maximal |
Race ABS | Race-ABS | • | • | • | • (IDM-Einstellung) |
Bremsverzögerung | auf Stabilität ausgerichtet | auf Stabilität ausgerichtet | auf Leistung ausgerichtet | alles, was geht | Hinterrad-ABS | • | • | • | – |
Stoppie-Kontrolle | • | • | – | – | Dynamische TraktionsKontrolle (DTC) |
Einstellmöglichkeiten | – | – | – | •* | Wheelie-Erkennung | • | • | < 25° | < 30° |
Launch Control | – | – | – | •** | Dynamische FahrwerksKontrolle (DDC) |
Einstellmöglichkeiten | • | • | • | • | Fahrwerkseinstellung | Road | Road | Dynamic | Track |
*sieben Stufen für mehr Unterstützung/sieben Stufen für weniger Unterstützung des DTC
**Launch Control aktiviert = DTC aus; DTC schaltet wieder ein: ab 3. Gang oder < 30° Schräglage oder beim Bremsen
Vier Einstellungen, aber viele Verknüpfungen: BMW setzt auf einfache Bedienbarkeit. Volle Leistung gibt es in jedem Modus, ABS auch. Im Slick-Modus allerdings nur am Vorderrad. Stoppies werden nur bei Rain/Sport verhindert, das DTC ist im Slick-Modus einstellbar, die Wheelie-Erkennung arbeitet bei Rain/Sport immer, bei Race/Slick abhängig von der Schräglage. Launch Control geht nur im Slick-Modus, das DDC ist immer aktiv.