Rad an Rad jagen die beiden Italienerinnen über die perfekt geschwungene Straße in der nordspanischen Provinz. Die Ducati Panigale V4 S schießt vorweg, formatfüllend im Rückspiegel lauert die Aprilia RSV4 RF. Heute gilt es, heute entscheidet sich, welcher V4-Hammer den Siegerlorbeer erntet und welcher die Schmach des zweiten Siegers trägt. Damit geht der Streit um die italienische Vorherrschaft in eine neue Runde. Der besteht spätestens seit Ende der Neunziger, als Aprilia mit der RSV Mille sein erstes Superbike aus der Taufe hob. Seither gelten die beiden Werke als Lieblingsfeinde und liefern sich beharrlich gnadenlose Fights.
Lässt sich diese Power überhaupt beherrschen?
Dieses Jahr spricht zumindest die Papierform für die revolutionäre Duc, die wahnwitzige 214 PS bei gerade einmal 195 Kilo vollgetankt (Werksangaben) gelobt. Ergibt ein Leistungsgewicht von rund 1,1 PS pro Kilo – Weltrekord Nummer eins für Serienbikes! Eine Mischung aus Vorfreude und Nervosität bestimmt das Gefühlsleben der Tester: Lässt sich diese Power überhaupt beherrschen? Etwas gemäßigter tritt die Aprilia mit 201 PS bei 204 Kilo (ebenfalls Werksangaben) zum Duell an. Gleichwohl Traumwerte, doch ihr Leistungsgewicht fällt im Vergleich zur Ducati über zehn Prozent geringer aus. Steht der Champion damit bereits fest?

Dumpf bollern die beiden Vierlinge im Stand mit Leerlaufdrehzahl. Ins vertraute 65-Grad-V4-Grummeln der Aprilia mischt sich der neuartige Sound der Ducati. Wegen des Hubzapfenversatzes der Kurbelwelle um 70 Grad, und daher mit asymmetrischer Zündfolge ausgestattet, schnarrt die Duc nicht wie ein typischer 90-Grad-V4. Doch ebenso wenig donnert sie wie zu V2-Zeiten. Vielmehr klingt sie wie ein Mix aus beidem: anders, ungewöhnlich, neu. Annähernd geblieben ist ihr freilich das kräftige Poltern, zumindest bei niedrigen Drehzahlen. Wer das Geräusch liebt, schätzt garantiert auch den neuen Antrieb. Wer dem Rumpeln dagegen schon bisher kritisch lauschte und auf bahnbrechende Änderungen hoffte, könnte enttäuscht werden. Zumal der V4 trotz geringerer Einzelhubräume bei Gasbefehlen unterhalb von zirka 2.500/min mürrisch ruckelt. Dennoch legt er kräftig los, und mit steigenden Umdrehungen wandelt sich der 1100er in ein wunderbar kultiviertes Triebwerk, das nun typische V4-Vibes kreiert und genauso klingt – na also, geht doch!
Grinsen und Fassungslosigkeit im Dauerwechsel
Welches Feuer der Treibsatz mit seinen gemessenen 215 PS dann im fünfstelligen Bereich entfacht, lässt sich nur schwer beschreiben. Die Pani schiebt und drückt wie der Teufel, powert weiter, immer weiter und schießt ihren Treiber in ungeahnte Dimensionen. Grinsen und Fassungslosigkeit im Dauerwechsel. Selbst bei 150 km/h im zweiten Gang strebt das Vorderrad ohne Zuhilfenahme der Kupplung noch Richtung Sterne. Kurze Verschnaufpause, Darbietung sacken lassen. Ein Blick auf die Fahrleistungen attestiert der Ducati einen Wert von null auf 200 km/h in 7,1 Sekunden. Damit rennt sie immerhin drei Zehntel schneller als die Aprilia, doch den Rekord knackt sie so nicht. Dazu müsste sie unter sieben Sekunden beschleunigen, was sie sicher könnte, ihr jedoch die stark rupfende Kupplung bei rennmäßigen Starts verwehrt. Hat Bologna das Teil etwa unterdimensioniert? Das müssen weitere Tests zeigen. Bei normalem Gebrauch funktioniert die Kupplung jedoch anstandslos.

Ebenso wie bei der Durchzugsübung von 50 bis 150 km/h im sechsten Gang, die die Panigale in unglaublichen 6,9 Sekunden absolviert: Serienbike-Weltrekord Nummer zwei! Und ein weiteres glasklares Indiz für den immensen Punch, den der V4 liefert. Ferner kratzt das drehfreudige Triebwerk an der 15.000/min-Marke, bis dato zumindest bei Superbikes ein unerreichter Wert. Insgesamt eröffnet der Antrieb zweifelsohne ein neues Kapitel im Serienmotorenbau. „Schiebung“, rufen Kritiker nun laut, „mit über 1100 Kubik ist die Leistungsausbeute kein Kunststück.“ Ein berechtigter Einwand, denn umgerechnet auf einen Liter Hubraum stemmt die Duc „nur“ 195 Pferde und damit fünf weniger als die Testmaschine von Aprilia, die exakt 200 PS auf unseren Prüfstand presst. Rüstet die komplette Konkurrenz hubraummäßig bald auf? Unter Zugzwang gerät sie nun auf alle Fälle.
Ducati im Stand lauter, Aprilia beim Fahren
Die Diskussion über fair oder unfair überlassen wir derweil Gegnern und Befürwortern des jeweiligen Antriebs und widmen uns lieber wieder den Facts. Beispielsweise jenem, dass die RSV4 im Angriffsmodus immer einen Gang tiefer gefahren werden muss als die Ducati, die ihren Punch ausgesprochen souverän serviert. Das liegt an der Gesamtübersetzung der Aprilia, die die Konstrukteure wegen des geringeren Drehzahlniveaus (Maximaldrehzahl 14.000/min) entsprechend lang wählten.

Ab zirka 4.500/min begleitet zudem übermäßig lautes Donnergrollen das Treiben. Ab dieser Marke öffnen die Auspuffklappen komplett, wodurch der Schalldämpfer seinen Namen nicht mehr in vollem Umfang verdient. Das mag gesetzeskonform sein, besonders sozialverträglich ist es nicht. „Die Ducati ist im Stand deutlich lauter, die Aprilia beim Fahren“, bringt es Kollege Steinmacher auf den Punkt. Immerhin vermittelt die RSV bei Sound und Beat durchweg astreines V4-Feeling. Außerdem lässt sie sich trotz ihres geringeren Punchs nicht abhängen, im Gegenteil. „Auf der Aprilia bleibe ich easy an dir dran“, strahlt besagter Kollege. „Umgekehrt muss ich mich mit der Ducati ordentlich strecken, um nicht abreißen zu lassen.“
Woran liegt das?
Hauptsächlich am Terrain, denn auf der Landstraße kann die Ducati ihre zusätzliche Power kaum umsetzen. Das funktioniert höchstens auf ewig langen Geraden oder auf der Autobahn. Auf der bevorzugten Spielwiese – kurvige Strecken aller Art – zählen andere Eigenschaften wie etwa Handling, Feedback, Präzision. Hier schlägt die Stunde der RSV4 RF. Zwar beherrscht auch die Duc die Ballerei formidabel und lenkt leichtfüßig ein, trifft die Wunschlinie und zieht stabil ihre Kreise. Doch an die überirdische Vorstellung der Aprilia reicht sie nicht heran: Kurve denken, abwinkeln, durchziehen, fertig. Dabei berichtet sie haarfein von der Straße, eine noch direktere Rückmeldung vom Vorderrad ist kaum vorstellbar. Dazu liegt die RSV in Schräglage wie das sprichwörtliche Brett und zieht die Radien bei Bedarf beliebig eng – Racing-Feeling at it’s very best! Und der Haken? Gibt’s keinen. Zumindest nicht auf topfebener Bahn. Kommen Furchen ins Spiel, sieht die Sache jedoch etwas anders aus. Denn für Buckelpisten ist das konventionelle Fahrwerk speziell am Heck deutlich zu straff ausgelegt. Komplettes Öffnen der Dämpfung bringt zwar Linderung, doch auch damit absorbiert das Federbein Unebenheiten nur bedingt. Heißt: Das Geholper auf miesem Asphalt muss der RSV-Treiber über sich ergehen lassen.

Das macht die V4 S mit ihrem elektronisch gesteuerten, semiaktiven Fahrwerk deutlich besser. Zwar sind Gabel und Federbein werksseitig ebenfalls recht straff ausgelegt, speziell in den Modi „Sport“ und „Race“. Doch die Federelemente lassen sich entweder unter Beibehaltung der semiaktiven Steuerung in Richtung härter oder weicher justieren („Custom Dynamic Suspension“). Änderungen können aber auch als feste Einstellung („Custom fixed Suspension“) gespeichert werden, eine Art elektronische Klicks. In den Setup-Tipps im Datenkasten haben wir uns für letztere Variante entschieden. Experimentierfreudigen bietet das System jedoch eine Fülle an Einstellmöglichkeiten. Auch weil die Elektronik auf Wunsch separate Einstellungen fürs Anbremsen, bei Kurvendurchfahrt und fürs Herausbeschleunigen ermöglicht. Praktisch: Falls man sich verirrt hat, setzt der Menüpunkt „Default“ die Werte zurück auf die Werkseinstellung.
Vollausstattung bei der Elektronik – mehr geht nicht!
Wie sämtliche moderne Supersportler bieten auch unsere beiden Kontrahentinnen zahlreiche elektronische Fahrhilfen: ABS, Traktions- und Wheelie-Kontrolle, unterschiedliche Fahrmodi, Wahl der Gasannahme respektive der Leistungsentfaltung, Schaltautomat. Sowohl bei der Aprilia als auch bei der Ducati befinden sich diese Features an Bord, und selbstverständlich sind sie allesamt mehrfach einstellbar. Das Bologna-Bike bietet darüber hinaus eine justierbare Motorbremse sowie eine Slide-Control. Letztere soll die V4 S beim Anbremsdriften zuverlässig in der Spur halten – irre!

Aus diesem Fundus greifen wir zwei Systeme heraus, bei denen uns große Unterschiede zwischen den Bikes aufgefallen sind. Zum einen betrifft das die Wheelie-Kontrolle. Vorbildlich offeriert die Duc acht unterschiedliche Stufen, die entweder früh (Positionen 6 bis 8) oder spät (Stufen 1 bis 3) eingreifen. 4 und 5 bilden ein Mittelding, wobei sich Position 5 perfekt für erste Gehversuche künftiger Wheelie-Spezialisten eignet. Die RSV4 bietet dagegen nur drei Stufen, die im Gegensatz zu den sanften Eingriffen der Ducati obendrein grobschlächtig regeln und das Vorderrad hart auf den Boden zurückholen. Außerdem sind kaum Unterschiede zwischen den Einstellungen wahrnehmbar.
Bremsgefühl auf der Duc besser
Vorteile verbucht der Noale-Sportler hingegen bei der Fahrhilfe Nummer zwei, dem Schaltautomaten. Im Gegensatz zum Quickshifter der Ducati, der zudem bei Testende seinen Dienst verweigerte, ermöglicht das System kupplungsfreies Runterschalten auch bei geöffnetem Gas. Eine top Eigenschaft, wenn man beim Überholen einen zu hohen Gang gewählt hat. Wie in vergangenen Tests bereits mehrfach erwähnt, gilt für elektronische Helfer allgemein: von früh eingreifenden Stufen sich an seine bevorzugte Einstellung herantasten.

Apropos tasten. Der Begriff führt uns direkt zum Bremsenkapitel. Ein Gefühl der Extraklasse vermitteln die Ducati-Anker. Dazu tragen die brandneuen Bremssättel „Stylema“ von Klassenprimus Brembo bei. Wie seinerzeit die M50-Sättel, steckt das neue Material zunächst exklusiv am aktuellen Ducati-Superbike, in diesem Fall an der Panigale V4. Ihre Stopper lassen sich haarfein dosieren, benötigen nur geringe Handkräfte, bieten eine hohe Transparenz und verzögern wie Hölle – sagenhaft! Auch die Anlage der Aprilia beißt kräftig zu, doch an das Bremsgefühl der Duc reicht sie nicht ganz heran.
Besondere Abschleppmethoden zur Rettung des V-Day
Supersportlich geht es hingegen bei der Sitzposition der RSV zu. Sie platziert ihren Piloten sehr kompakt. Außerdem ragt ihr Sitz 15 Millimeter höher, was bei nahezu identischer Lenkerhöhe dazu führt, dass der Aprilia-Treiber mehr Druck aufs Vorderrad ausübt. Wer von der Ducati mit ihrem überraschend alltagstauglichen Arrangement von Bank, Rasten und Lenker auf die RSV4 umsteigt, wähnt sich mitten in der Startaufstellung zu einem Superbike-WM-Lauf.

Sportlich haben wir auch die beiden nicht gerade alltäglichen Ereignisse im Laufe des Tests gesehen. Nach nur wenigen Kilometern am ersten Tag überraschte die Aprilia mit Zündaussetzern, schließlich ging nichts mehr. Die Suche nach der Ursache brachte eine lose Steckverbindung des Seitenständerschalters zutage. Stecker sauber einrasten, fertig.
Überraschung Nummer zwei bescherte uns die Ducati. Auf dem Weg zur Tanke ging ihr der Sprit aus – nach immerhin 48 Kilometern auf Reserve. Die letzten Kilometer überbrückte die Abschleppmethode „Rechter-Fuß-des-Aprilia-Piloten-an-linke-Raste-der-Ducati“. Ins 16-Liter-Fass der Duc passten exakt 15,69 Liter. Der V-Day war gerettet!
Fazit
1. Ducati Panigale V4 S
Ihre immense Power bei gleichzeitig geringem Gewicht hebt die Dynamik in neue Dimensionen. Auch fahrwerksseitig agiert die V4 S auf Topniveau. Ob ihr Gesamtpaket auch auf der Rennstrecke brilliert, zeigt das nächste Heft. Dann muss die Duc gegen die gesamte Superbike-Konkurrenz ran!
2. Aprilia RSV4 RF
Zweiter Sieger, aber kein Verlierer. Handling, Feedback und Präzision setzen den absoluten Maßstab. Zudem vermittelt kein anderer Sportler einen derartigen Racing-Spirit. Doch speziell das knüppelharte Federbein funktioniert nur auf topfebenem Belag.