Fahrbericht Ducati 999 (2002)
Das Feuer brennt weiter

Eine Nachfolgerin für die Ducati 916 zu bauen ist so ziemlich das Schwierigste, was man sich vorstellen kann. Doch mit der 999 hat Ducati es geschafft, die Flamme weiter zu tragen.

Beim Fahren legt sich die Nervosität, wie schön. Vertraut klingt der Motor; schön gedämpft, aber mit kräftigem, dumpfem Schlag ermuntert er mich, jetzt loszulegen. Nicht mehr daran zu denken, dass dies die erste Fahrt auf einem kostbaren, brandneuen Motorrad ist. Ich lasse ihn gleich richtig anziehen, und die 999 zieht mich in ihren Bann. Kurve fügt sich an Kurve, Runde an Runde, die Welt neben der Piste ist abgemeldet. Schon allein die Entschiedenheit, mit der die 999 mich zur Konzentration auf Wesentliche bringt, zeigt, dass sie zu Recht Ducati heißt.
Wurde ihre Vorgängerin, die tief geducte 916 stets mit einem sprungbereiten Raubtier verglichen, so ist die 999 jetzt schon mittendrin im Beutesprung. Hat sich mit großer stilistischer Schnellkraft vorwärts-aufwärts katapultiert, sich gestreckt, die Ohren angelegt. Die flacheren Linien von Tank- und Sitzbank lassen das Vorderteil der 999 in der Seitenansicht massiger und höher wirken als das der 916, von vorne gesehen wirkt sie nicht nur schmaler, sie ist es tatsächlich. Setzt damit ganz andere optische Akzente, doch sie tut es mit keiner geringeren Überzeugungskraft als die 916. Sie verfolgt auch dasselbe Ziel. Schnell zu sein, sportlich in hohem Grad. Nur eben auf andere, weiter entwickelte Art.
Das gilt für das Aussehen wie für die Technik. Und es gilt trotz der unverkennbaren Ähnlichkeit oder gar Gleichheit wichtiger Baugruppen – die Fahrwerksgeometrie blieb gleich, der Testastretta-Motor aus der Standard-998 bekam lediglich eine andere Airbox und einen Auspuff mit geregeltem Katalysator. Wichtigster und sofort spürbarer Unterschied: Bei aller Sportlichkeit ist die 999 komfortabler als die 916 und gefälliger im Handling. Durch die niedrige, nach vorn kaum abfallende Sitzbank und den sowohl schmaler, als auch flacher geformten Tank belastet der Fahrer seine Arme weniger mit dem eigenen Gewicht. Er rutscht nicht so leicht nach vorn und muss sich deshalb nicht so energisch nach hinten abstützen. So lässt sich die Strecke, locker und unbeschwert erkunden. Die Schräglagenwechsel in engen und weiteren Schikanen gehen relativ leicht vonstatten. Obwohl Ducati auch bei der 999 an der etwas befremdlichen Kombination von 5,50-Zoll-Felge und 190er-Hinterreifen festhält. Kaum mehr Arbeit macht der ganz schnelle Teil der Runde, wo die 999 bei Geschwindigkeiten von über 170 km/h zackig von rechts nach links und wieder nach rechts geklappt wird. Sie ist ein Motorrad, in das man sich schnell hineinfindet.
Auch weil der Motor gelassen-kräftig schon im mittleren Drehzahlbereich zu Werke geht, bei Bedarf aber auch rasant bis zur Begrenzerdrehzahl 10500/min schnalzt. Laut Auskunft der Ducati-Ingenieure drückt er trotz geregeltem Kat und der Erfüllung der EURO 2-Abgasnorm in der Spitze 124 PS und hat zwischen 4500 und 7000/min etliches an Drehmoment gewonnen. Nach dem Auftritt auf der Rennstrecke besteht kein Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln. Im Gegenteil, der Testastretta bleibt auch in der Standardvariante ein überzeugender Brenner.
Schade nur, dass die anspruchsvolle Piste ständige Aufmerksamkeit fordert, denn ab und zu würde man schon gerne einen Blick auf all die schönen Details werfen, die Ducatis Neue ihrem Fahrer präsentiert. Die geschmiedete, ausgefräste Gabelbrücke zum Beispiel, den neuen Lenkungsdämpfer mit gefrästem Dämpferkörper oder aber die Radialpumpen für die hydraulische Kupplungs- und Bremsbetätigung. Wenigstens lässt sich Letztere auch dann genießen, wenn man sie nicht sehen kann, weil man gerade Bremspunkt und Kurve anpeilt. Denn sie beschert der Ducati eine perfekt lineare Steigerung des Bremsmoments mit dem Hebelweg sowie einen unverrückbaren Druckpunkt. Im Zusammenspiel mit den Brembo-Zangen der neuesten Generation lässt diese Armatur keine Wünsche offen.
Die Tatsache, dass die 999 als erstes Serienmotorrad über eine in der Längsachse verschiebbare Tank-Sitzbank-Kombination verfügt, ist an sich schon eine kleine Sensation. Wie sich eine Verschiebung auf die Fahreigenschaften auswirkt, überrascht erst recht. Ergonomisch ist kaum ein Unterschied auszumachen, doch mit der aus der Mittellage nur um zehn Millimeter nach hinten gerückten Sitzposition fährt und bremst die 999 noch stabiler. Sie lenkt zwar nicht mehr so leicht ein, lässt aber aggressiver in die Ecken pfeffern. Selbst der arme Hinterreifen, bei Lufttemperaturen von fast 40 Grad ständig am Rand des Hitzekollaps, bietet auf einmal mehr Grip. Zwar müssen die Effekte der Tank-Sitzbank-Verstellung noch genau getestet werden, doch eine verlockende Aussicht eröffnet sich schon jetzt: Ohne Schrauberei könnte man die 999 einfach durch Verschieben der Position in einer halben Minute unterschiedlichen Anforderungen anpassen. Schmale Sträßchen im Schwarzwald sind angesagt? Kein Problem, Sitz und Tank ganz nach vorne stecken, Handlichkeit genießen. Oder für einen heißen Ritt über die Nordschleife nach hinten rücken und ungerührt über die Kuppen brettern. Wer es braucht, kann auch die Fußrasten rasch auf sich einstellen.
Die bisher genannten sind die Änderungen und Innovationen, die ein Fahrer der 999 unmittelbar zu spüren bekommt. Doch das Bild dieses intelligent gemachten Motorrads wäre damit unvollständig. Man beachte als weiteres Beispiel für viele andere clevere Detaillösungen nur die in schier endlosen Versuchen entstandene Auspuffanlage. Das kurze, dünne Krümmerrohr des stehenden Zylinders produziert dieselben Druck- und Strömungsverhältnisse wie das lange, dicke des liegenden Zylinders. Eine aufwändige Kreuzung der beiden Krümmer wie bei der 998 ist nicht nötig, das spart fast einen Meter Stahlrohr und jede Menge Platz. Oder die Elektrik, die auf dem Prinzip der modernen Datenbus-Technik aus dem Automobilbau beruht und viel komplizierte Elektroinstallation spart. Insgesamt besteht die 999 aus 28 Prozent weniger Teilen als die 998. Natürlich senkt das die Produktionskosten, doch trägt es auch zu besserer Qualität bei.
Neben der Monoposto-Version, die MOTORRAD fahren konnte, kommt auch eine zweisitzige Variante der 999. Und mit dem Motor der jetzigen 998 S – das ist der mit den Titan-Pleueln – sowie Öhlins-Federelementen wird es eine 999 S geben. Für 20900 Euro. 17000 Euro kostet die Standard-Version. Schon ein großer Haufen Geld, aber ein faires Angebot. Auch ganz wichtig: Für diejenigen, die anderer Meinung sind, wird die 998 weitergebaut.

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