Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel, die Luft flimmert, verwischt das in die karge, gleißende Wüstenlandschaft hineingepinselte Asphaltband zu
einer unwirklichen Kulisse. Zwischen akkurat angelegten rot-weißen Curbs wedelt die Yamaha YZF-R6 durch das Zickzack-Labyrinth des Losail-Circuit im orientalischen Qatar. Fast wie im Videospiel rast die synthetische, aber höchst trickreiche und hinterhältige Grand-Prix-Strecke aufs Visier zu. Nur gut, dass die neue 600er-Yamaha zuverlässig auf jedes Kommando reagiert und sich in untertänigster Ergebenheit auch dann auf der Bahn halten lässt, wenn sich der Reiter auf der extrem breit angelegten Piste vergaloppiert.
Die nervöse Flatterigkeit des Piloten kommt jedoch nicht nur von der fremden Strecke, sondern auch das Motorrad trägt zur atemlosen Spannung bei. Yamaha
hat mit der jüngsten Ausgabe der R6 in
der ohnehin rasanten Weiterentwicklung der 600er-Supersportler mindestens zwei Schritte auf einmal genommen. Riss die YZF-R6 schon bei ihrer Premiere 1999 die Sportfreaks aus den Stiefeln, kippt das 2006er-Modell auch ganz abgebrühte Race-Fans aus dem Sattel – Herr, was für ein Gerät! Von vorn bis hinten, von oben bis unten komplett neu und in der Zielrichtung noch radikaler, noch rücksichtsloser auf Rennsport getrimmt.
Markantes Zeichen dafür ist die angegebene Maximaldrehzahl des Vierventilers: 17500/min – in Worten: siebzehntausendfünfhundert. Und genau so hört sich das Biest beim Einbiegen auf die gut 1000
Meter lange Zielgerade an. Unter 6000/min eher phlegmatisch, ab 8000/min munter, bei 10000/min mit ordentlich Kraft und über 12000/min derart explosiv, dass sich der Dunlop D 209 GP-Reifen in den ersten drei Gängen mit feinen schwarzen Strichen auf dem glühend heißen Asphalt zerreibt. Die Szene untermalt vom schrillen, metallischen Plärren aus der vor dem Tank
montierten Airbox. Der passende Sound zum Film, denn die neue R6 dreht wirklich wie der leibhaftige Teufel. Flackert der Schaltblitz, stehen laut analogem Drehzahlmesser tatsächlich 17500/min an,
kurz vor 18000 (!) Touren steckt die Orgel
im elektronischen Begrenzer fest. Ob und
wie viel der Drehzahlmesser voreilt, ist nicht bekannt, doch eigentlich ist es
auch wurscht – ob 16500 oder 17800 Umdrehungen, solche Drehzahlen sind für ein
Serienmotorrad einfach der Hammer.
Und während sich der Pilot wundert, warum bei einem solchen Spektakel die
16 Titanventile mitsamt Kurbeltrieb nicht
in einem Urknall explodieren, rast die R6 mit imponierendem Druck und Speed über die lange Gerade. 127 PS bei 14500/min gibt Yamaha für den 11195 Euro teuren Überflieger an; gar 133 PS sollen es sein, wenn sich der Fahrtwind auf direktestem Weg durch den mittig angelegten Ram-Air-Kanal in das Luftfiltergehäuse presst.
Wobei der aufmerksame Fahrer schnell bemerkt, dass die Kraft des Yamaha-Vierzylinders auf ein gehöriges Plateau verteilt sein muss, da eine aggressive Leistungsspitze nicht auszumachen ist. Vielmehr erlaubt kontinuierlicher Schub, »bereits« bei 16500/min den nächsten Gang einzuschieben. Ein Akt, der im Vergleich zur alten
R6 helle Freude bereitet. Egal, in welcher Gangstufe, egal, bei welcher Drehzahl,
das komplett neue Getriebe schaltet sich kurz, knackig, trotzdem leichtgängig, mit perfekter Arretierung und ohne Klonk
und Krach. Der Grund: Die ersten drei Gangstufen rückten wesentlich enger zusammen, was die Schaltschläge reduziert.
Zudem drehen sich die Getriebewellen durch den geänderten Primärantrieb etwa drei Prozent langsamer.
Damit nicht genug, spendierten die Yamaha-Techniker der YZF-R6 fürs neue Modelljahr eine Anti-Hopping-Kupplung, die lästiges Hinterradstempeln beim Bremsen mit gleichzeitig derbem Zurückschalten unterdrückt, dabei aber ein ausreichendes Motorbremsmoment bereitstellt, um den Einlenkradius exakt hinzuzirkeln. Bislang gab es solche Schmankerl nur bei Kawasakis ZX-6R oder als Zubehör, jetzt ist die feine Rennsport-Technik auch bei Yamaha zum Listenpreis erhältlich.
Als direkte Anleihe der MotoGP-Renner ist außerdem die elektronische YCC-
T-Steuerung der Drosselklappen zu sehen (siehe Seite 21). Befürchtungen, der Gasbefehl des Fahrers werde verzögert oder verfälscht umgesetzt, sind absolut unbegründet, im Gegenteil: Der R6-Motor geht fein dosierbar, spritzig und spontan zur Sache. Allerdings schafft es die aufwendige Regelung wie bei vielen Einspritzmotoren nicht, die Lastwechsel bei langsamer Fahrt und niedrigen Drehzahlen ruckfrei zu gestalten.
Obwohl der Kurbeltrieb für eine optimale Beschleunigung und Drehfreude erleichtert wurde, glänzt das Triebwerk mit
seidenweicher und vibrationsarmer Laufkultur. Was möglicherweise auch damit
zusammenhängt, dass das neue Rah-
menkonzept den ultrakurzen Vierzylinder umfassender und mit vor dem Zylinder-
kopf platzierten Motorverschraubungen integriert. Das verhilft dem Rahmen zu mehr Steifigkeit und zu einem den MotoGP-Rennern nachempfundenen Design.
Ob sich die erhöhte Stabilität von
Rahmen und Schwinge auf das Fahrverhalten ebenfalls auswirkt, bleibt abzuwarten, denn die topfeben asphaltierte Rennstrecke von Qatar ist keine wirkliche Herausforderung für ein 600er-Sportmotorrad. Schon eher lässt sich in den lang gezogenen Kurvenradien einer Schwäche des Vorgängermodells nachspüren. Beim Beschleunigen aus Schräglage knickte bislang das Heck aufgrund einer zu flach
angestellten Schwinge in Verbindung mit
einer weichen Druckstufendämpfung ein, und die 600er tanzte aus der Spur. Das ist nun Geschichte, da der hoch angebrachte Schwingendrehpunkt (425 statt 405 Milllimeter, gemessen ohne Fahrer) und die
satte Lowspeed-Druckstufendämpfung der dynamischen Achslastveränderung stand- und die Yamaha besser im Lot halten.
Gleiches gilt für die Frontpartie, die beim brutalen Ankern weniger schnell abtaucht, glasklare Rückmeldung liefert und dank der prächtig dosierbaren Vierkolbenzangen mutigen Spätbremsern ein prä-
zises Einlenken auf der letzten Rille ermöglicht. Eine mit 52 Prozent frontlastige Gewichtsverteilung sorgt für eine solide Rückmeldung und hohe Lenkpräzision in schnellen Kurven. Dazu passend die entspannte, trotzdem engagierte Sitzposition und ein griffiges Sitzpolster mit rennsporttauglicher Härte – so gehört sich das.
Ein Fragezeichen bleibt: Die für den Rennstreckentest im brütend heißen Wüstenstaat aufgezogenen Dunlop-GP-Reifen mussten mit kräftigem Lenkimpuls auf
die enge Linie gezwungen werden, was in
Sachen Handlichkeit keine Euphorie aufkommen lässt. Zudem überkam die Frontpartie bei knackigen Schräglagen in der Rollphase, also ohne Gas, ein kurzes, leichtes, hochfrequentes Stempeln, neudeutsch Chattering. Inwieweit sich dieses Verhalten mit der Serienbereifung (Dunlop Qualifier oder Michelin Pilot Power) ändert, kann erst beim Top-Test geklärt werden.
Und weil der pfeilschnelle Losail-
Circuit nur ansatzweise Rückschlüsse auf
die Landstraßentauglichkeit zulässt, darf man außerdem gespannt sein, wie sich
die neue, radikale Yamaha YZF-R6 im echten Leben schlägt. Doch vernunftbetonte Alltagstauglichkeit hin, radikales Racing-Feeling her, wer diese 600er-Granate live zu Gesicht bekommt, sollte ganz schnell seine Kreditkarte sperren lassen – bevor
es zu spät ist.
Technik Transparent
Die Yamaha YZF-R6 im Detail. Bei diesem Supersportler lohnt ein Blick hinter die Kulissen allemal.
Motor: Komplett neuer, extrem kurzer Vierzylinder mit übereinander liegenden Getriebewellen. Die Titanventile mit 4,5 Millimeter dicken Schäften (Stahlventile des 2005er-Modell 4,0 Millimeter) und Aluminium-Federtellern stehen steiler im Zylinderkopf (Einlass 11,5 Grad, Auslass 12 Grad, 2005er-Modell beide 14 Grad) und wuchsen im Durchmesser einlassseitig von 25 auf 27 Millimeter, auslassseitig von 22 auf 23 Millimeter. Mit einem Bohrung-Hub-Verhältnis von 67 zu 42,5 Millimetern liegt die neue R6 exakt auf den Werten von Honda und Suzuki. 13 Gramm leichtere, geschmiedete Kolben und geringere rotierende Massen am Kurbeltrieb tragen den hohen Drehzahlen Rechnung.
Zwei Einspritzdüsen, eine im 41 Millimeter großen Ansaugkanal, die zweite, die sich ab 6000/min zuschaltet, über den Ansaugtrichtern positioniert, füttern den Motor mit Kraftstoff. Der große Abstand der oberen Düse sorgt
dafür, dass sich die eingespritzten Kraftstoffpartikel optimal mit der Ansaugluft vermischen, was vor allem bei hohen Drehzahlen wichtig ist, da die zur Gemischbildung benötigte Zeit extrem kurz ist.
Beim YCC-T (Yamaha Chip Controlled Throttle) führen die Gaszüge (ein
Öffner-, ein Schließerzug) zu einem Potentiometer, der den Drehwinkel, also den manuellen Gasbefehl in Sekundenbruchteilen an einen elektrischen
Stellmotor weitergibt. Dieser öffnet über einen Antrieb aus Kunststoffzahnrädern die Drosselklappen nicht analog zum Gasgriff, sondern berücksichtigt je nach Motorenparametern die auf einem Rechner hinterlegten Daten. Dabei wird die Drehmomentkurve abhängig von Drehzahl, Gangstufe, Gasstellung und weiteren Parametern geglättet, ungewollte Leistungsspitzen gekappt
und somit eine möglichst lineare Leistungsentfaltung beim Beschleunigen
erreicht. Doch keine Angst, der Stellmotor kann nicht mehr Gas geben, als der Fahrer vorgibt. Dafür sorgt eine am mechanisch angesteuerten Potentiometer gelagerte Hebelverbindung zur Drosselklappenwelle, die dort einen
Anschlag betätigt. Dreht der Fahrer den Gasgriff zu, schließen sich in jedem Fall die Drosselklappen.
Die elektronische Regelung über Stellmotor und Zahnradantrieb zu den Drosselklappen steuert auch automatisch die Leerlaufdrehzahl des Motors durch das ISC (Idle Speed Control).
Der unter dem Motorgehäuse gelagerte Edelstahl-Schalldämpfer arbeitet
jetzt mit dem von der YZF-R1 bekannten Exup (Exaust Ultimate Power Valve), einer elektronisch angesteuerten Klappe im Titan-Endschalldämpferrohr,
die durch eine Veränderung des Staudrucks Drehmoment, Abgas- und Geräuschverhalten verbessert.
Fahrwerk: Der neue Hauptrahmen aus verschweißten Guss- und Form-
pressteilen verfügt nun über kurze Ausleger, die vom Lenkkopf direkt zum
Zylinderkopf führen und somit eine höhere Biege- und Torsionssteifigkeit
bewirken. Die Schwinge mit dem neuem Umlenksystem zum Federbein
(Progression: 8,4 Prozent) ist ebenfalls biegesteifer, die Kettenspanner sind
ähnlich wie beim MotoGP-Motorrad gestaltet.
Vorn wie hinten lässt sich die Druckstufendämpfung in Low- und Highspeed getrennt einstellen. Eine konische Nadel regelt die Dämpfung bei langsamen Federbewegungen, schnelles Eintauchen wird durch den mit Federstahlblättchen (Shims) bedeckten Kolben kontrolliert. Eine mehr oder weniger vorgespannte Schraubenfeder verändert dabei die Dämpfungscharakteristik.
Kleine Spoiler an der Verkleidungsfront, so genannte Winglets, leiten den Fahrtwind hinter den Kühlluftaustritt und sorgen dort für einen Unterdruck, der die Durchströmung und somit die Kühlleistung des beim 2006er-Modell bogenförmigen Kühlers erhöhen soll.