Suzuki RG 500 Gamma von 1985
Power to the people

Hatte uns Zweitakt-Freaks schon die Yamaha RD 350 fieberhafte Alpträume vom rattenscharfen Grand-Prix-Renner mit TÜV beschert, wandelte sich dieser Zustand bei der Enthüllung der Suzuki RG 500 Gamma 1985 in gesundheitsbedrohende Wahnvorstellungen. Wir wollten am Gas drehen wie Barry Sheene, die vier Drehschieber singen hören, im dichten Ölnebel die Bewusstseins erweiternde Droge aus verbranntem Superbenzin und Rizinus inhalieren. Wir waren verrückt danach.

Ein Sprichwort behauptet: »Der Schwabe wird erst mit Vierzig klug.« Womit der eher strebsame und häusliche Süddeutsche weniger abenteuerliche Jugendsünden verbindet, sondern meist muss das Sprichwort als Legitimation für gutbürgerliche Entgleisungen herhalten. Im Suff den Wagen verschrottet, dem Nachbarn im Streit eine »g’scheuert«, dem Dorfpolizisten den Vogel gezeigt. Kann alles passieren, der Schwabe wird eben erst mit Vierzig klug. Doch daneben gibt es auch noch die Sorte, von der behauptet wird, sie ändere sich nie. Weit über vierzig - und immer noch ein Kindskopf.
Zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, mitten im Gäu, werkelt ein Vertreter exakt dieser Gattung, vornehmlich an Suzuki. Damit verdient Rainer Vater in Bondorf seine Brötchen. Und wenn er keine Motorräder repariert und tunt, dann fährt er damit. Nein, nein, er fährt nicht einfach Motorrad, eine Gamma 500 hat er im Stall und eine ganze Sammlung von Motoren dafür im Regal. Doch eigentlich gehört so ein Gamma-Motor nicht ins Werkstattregal, sondern ins Wohnzimmer. Als Monument höchster Zweitakt-Kultur, quasi der Zenit einer von Ventilherstellern, Nockenwellenkonstrukteuren und staatlichen Abgas-Detektiven zerstörten Epoche.
In der Grundkonstruktion entspricht der Suzuki-Square-Four-Motor ziemlich exakt den Grand-Prix-Motoren der 80er Jahre. Alles drin, was auch bei den RGB-500-Werksmaschinen von Ex-Weltmeister Barry Sheene und Konsorten drinsteckte. Nur eben nicht mit mehr als 100 PS, sondern lediglich 95 PS aus 500 Kubikzentimeter. Das sind, um die GSX-R 1000-Fraktion in ihrer PS-Herrlichkeit in die Schranken zu weisen, 190 PS aus dem vollen Liter Hubraum. 1985, wohlgemerkt. Damals quetschten japanischen Konstrukteure mit allen Mitteln um die 120 PS aus einer fünfventiligen Yamaha FZR 1000.
Und die RG-Pferde wollten gefüttert werden, denn von nix kommt nix. 28-Millimeter-Flachplattendreher, ähh Plattenschieber- nein: FLACHSCHIEBERVERGASER blustern ihre brandgefährliche Mixtur durch die Plattendreher, sorry Flachplattenschieber, aääh: PLATTENDREHSCHIEBER in die Tiefen der Kurbelgehäuse. Weil das Vollgas durch 28er-Vergaser zwar fluchs, aber nicht ganz so fluchs wie durch 32er hindurchschlüpfen kann, waren sich die Tuner in den Hinterhöfen schnell einig. Riesige Vergaser und gnadenlos beschnittene Drehschieber sollten noch mehr vom heiß begehrten Vollgas in die Zylinder schleusen und dort für gehörigen Druck sorgen. Gesagt, getan.
Auch Rainer machte den Weg frei, aber mit Bedacht. Weil der Rainer mit der Rennerei nicht mehr viel am Hut hat, entschied er sich bei seiner RG 500 eher fürs gemäßigte, auf Durchzug getrimmte Wochenend-Setting. Fein angepasste Steuerzeiten und viel Arbeit im Detail. Damit klettert der wackere Schwabe über jede Menge Alpenpässe bis runter zum Mittelmeer. Tankrucksack drauf, und los geht’s. »Für die paar R1en und Fireblades, die sich dort rumtreiben, reicht die Gamma allemal«, entschuldigt sich der Suzuki-Händler für die schätzungsweise 110 PS seiner Zweitakt-Rassel. »Im Winter gibt’s neue Kolben und frisch gerichtete Kurbelwellen, dann springt sie wieder richtig.«
80000 Kilometer hat sein »Tourer« auf der Uhr, optisch serienmäßig, technisch besser. Viel besser. So viel besser, dass er die RG ohne Federlesens zu einer ausgedehnten Testrunde rausrückt. »Bis zwölf kann’sch sie drehn, Öl isch drin, 55 Grad sollt’s Wasser schon warm sein – aber dir als altem Yamaha-TZ-Treiber muss ich ja nix erklären.« Danke schön und tschüs.
Kickstarter raus, zweimal sanft getreten, und es ist wieder da, dieses blecherne Rätschen, das Knurren im Antrieb, der ölige Dunst, der dich wie eine Droge umwabert. Klack – Verbindung hergestellt, losgerollt, Rennkombi zurechtgezupft. Der Tag kann kommen. Knurrend raspelt das reichhaltige Sammelsurium an Zahnrädern – zwischen Kurbelwelle und Kupplung liegen nicht deren zwei, sondern fünf – lautstark vor sich hin. Ab 3000/min beruhigt sich die Lage. Zufall oder nicht, aber erst hier beginnt die Skala im weißen Drehzahlmesser. Haben sich die Resonanzschwingungen der Gassäule zwischen Vergaser und Auspuffbirne in harmonischer Eintracht zusammengefunden, an Rainers RG stehen dann knapp 8000/min auf der Uhr, bricht der reinste Wahnsinn los. Und befällt in Windeseile den Piloten, kriecht im ins Genick, lähmt die Vernunft, stichelt am Ego und macht ihn zum Hirsch.
Jede Rotlichtphase wird mit hektischen Gasstößen zum Vorstart, bei Grün der Gashahn bis zum Anschlag gespannt, und bereits am Ortsausgang liegt der Sportsmann flach unter der Verkleidungskuppel. Zu schnell? Was bleibt dir übrig, wenn Mamola, Roberts und Spencer im Windschatten hängen? Die Jungs verstehen nur eine Sprache: Gaaaaas – und sonst gar nix. Und bei Gaaaas geht die RG-Rätsche vorwärts, man glaubt es kaum. Ausgepresst bis zwölftausend, die hat Rainer ausdrücklich angemahnt, bleibt der Hahn am Anschlag, kurz die Kupplung gezupft, mit konsequentem Tritt die nächsten Gänge eingeklinkt, und unter ekstatischem Geplärr aus vier Rohren reißt es das Vorderrad vom Asphalt – hurra, die Gamma fliegt.
Wenn sie jetzt auch noch bremsen tät, wär’s klasse. Aber so richtig geht da nichts. Störrischer 16-Zöller auf dem Vorderrad, dürre Gabel, mickrige Scheiben, olle Zangen. Verwöhnte Neuzeit-Racer kommen ganz schön ins Schwitzen. Mit zusammengekniffenem Hintern und starrem Blick rudern Ross und Reiter in höchster Sturzgefahr zwischen Randstreifen und Straßengraben entlang. »Dir als altem Yamaha TZ-Treiber muss ich ja nix erklären«, hat der Rainer gesagt und mir vertrauensvoll auf die Schulter geklopft. Aber wie erklär’ ich’s dem Rainer? Und dem Chef? Und der Polizei? Und warum fädelt sich die Gamma jetzt doch noch mal ein, ohne sich im Graben zu zerknittern? Keine Ahnung. Aber vor 17 Jahren muss alles etwas anders gewesen sein. Auch die Bremspunkte.
Abgehakt, was nicht geht, geht eben nicht. Dann biegen wir die Gamma halt auf den Ohrlappen um die Ecken. Hmmmm? Auf den spindeldürren Gummis im Trennscheibenformat? 120 Millimeter hinten, das, was aktuelle Sportler vorn spazierenfahren? »Ich hab’ dir vorsichtshalber neue Reifen draufgezogen, hinten und vorn in griffiger CompK-Mischung natürlich.« Danke Rainer, das beruhigt ungemein.
Das angeknackste Rennfahrer-Ego erhält seine Salbung, als tatsächlich die Knieschleifer zart übern Asphalt zischen. Endlich. Und das war noch nicht alles. Unglaublich, wie sich die Gamma umlegen lässt. Ritsch, ratsch, von links auf rechts und umgekehrt. Aaah, jetzt funkt die RG 500 schon vor Freude mit dem Seitenständer, und die Metzeler-Gummis malen sanfte schwarze Striche in die Landschaft. So Buben, es ist so weit, ihr könnt jetzt kommen. Stellt’s euch hinten an, schön der Reihe nach.
Ein flüchtiger Blick über die Schulter – niemand da? Kein Spencer, kein Roberts, kein Mamola? Rennabbruch Oder was? Oh je, ich hab’s schon immer geahnt, Rizinus bringt nicht den Darm in Aufruhr, sondern auch deine Sinne gewaltig durcheinander. Halluzinationen nennt der Mediziner so was. Nein, das gelbe Schild ist nicht die Boxentafel, Bondorf steht da drauf, und in Bondorf fährt man fünfzig. Rechts, links, da vorn am Suzuki-Schild Zündung weg und ausrollen lassen. Wozu? Zum Kerzenbild kontrollieren natürlich, und die Übersetzung ist auch noch einen Zahn zu lang. Hallo! Aufwachen!
»Und? Wie war’s?« »Geil, einfach geil, bin mindestens 20 Jahre jünger – und genauso bescheuert wie damals.« Rainer kontrolliert mit kurzem Blick die Reifen, aufgerubbelt wie Radiergummi. Er grinst. »Stimmt.« Und ich kenne jetzt das Rezept für seine fidele Ausstrahlung. Denn eigentlich ist der ehemalige Zuvi-Rennfahrer und Nordschleifen-Experte bereits stramme 60 Jahre jung. Eigentlich. Die Wahrscheinlichkeit eines verspäteten Anfalls schwäbischer Klugheit ist somit auszuschließen, die Leidenschaft zur RG 500 hält hoffentlich bis ins hohe Alter an. Auf das Angebot, gegen eine paar Liter Castrol Rennöl einmal im Jahr mit der Gamma ausreiten zu dürfen, hat er sofort eingeschlagen. Der Termin ist im Kalender 2002 bereits vermerkt. Kommt jemand mit?

Unsere Highlights

Technische Daten

Motor: Wassergekühlter Vierzylinder-Zweitaktmotor in quadratischer Anordnung, vorderes Zylinderpaar nach unten versetzt (RGB Bauart), vier Plattendrehschieber mit je einem 28er Mikuni-VM 28 SS-Vergaser, Getrenntschmierung, Leistung 95 PS bei 9500/min, Sechsgang-Kassetten-Getriebe.Fahrwerk: Doppelschleifenrahmen aus Vierkant-Aluprofilen, XXmm-Telegabel mit progressiver Dämpfung, Aluschwinge mit Full-Floater-Zentralfederung, Doppelscheibenbremsen vorn, 0 260 mm, Bereifung vorn 110/90 V 16, hinten 120/90 V 17, Gewicht vollgetankt zirka 180 kg, Höchstgeschwindigkeit zirka 225 km/h. Preis 1985: 11999 Mark

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023