Test Kawasaki ZX-10R
Das Leben ist Grün

Das ist keine Wahlkampfveranstaltung, sondern ein Parforceritt in neue Dimensionen. So leicht, so zierlich, so stark war bisher noch keine 1000er. Willkommen in einer Welt ohne Kompromisse.

Das Leben ist Grün
Foto: Künstle

Innovation: das Stichwort des vergangenen Jahres. Oder das Unwort, ganz wie man will. Die politische Kaste ist
jedenfalls besessen davon. Redet viel, diskutiert noch mehr, nur mit den Taten hapert es. Weil man es am liebsten allen recht machen würde.
Bei den Grünen der Zweiradfraktion ist das anders. Schluss mit der Weichspülerei, haben sie gesagt, Schluss mit sowohl als auch. Die neue ZX-10R muss ein
radikaler Brenner werden. Alles andere gilt nicht. Und jetzt – jetzt ist richtig Feuer unterm Dach. Da steht ein Motorrad,
wie es die Welt in dieser Hubraumkategorie bisher noch nicht gesehen hat – die Präsentation der neuen Yamaha R1 steht allerdings noch aus. Zierlicher als die
aktuelle Suzuki GSX-R, kompakter als die jüngste Fireblade. Allein der Radstand: 1385 Millimeter unterbieten den bisherigen Klassenprimus, die R1, um satte zehn Millimeter, während die Räder der Vorgängerin ZX-9R beträchtliche 30 Millimeter weiter auseinander rollten. Breite, Höhe, Gewicht? Malen nach Zahlen ist möglich, doch es bleibt der Sitzprobe
vorbehalten zu offenbaren, was man erträumt, aber kaum zu hoffen gewagt
hatte: Willkommen auf einer 600er, und zwar einer der zierlichen Kategorie.
Sowie einer mit perfekter Ergonomie, jedenfalls, wenn einen die Faszination Rennsport nicht gänzlich kalt lässt.
Vor allem eingefleischte Kawa-Fans dürfen aufatmen und die Schenkel einklappen. Die Zeiten, als man auf den
grünen Sportboliden mit heftig gespreizten Beinen saß, sind dank der neuen Rahmenphilosophie Schnee von gestern. Nicht mehr außen an der Zylinderbank vorbei, sondern deutlich schmaler darüber hinweg führt die Alubrücke, um
danach massiv in die Tiefe abzutauchen. Mit der Folge, dass Oberschenkel und Knie kaum noch mit den Tankflanken, sondern eben mit diesem Rahmentrumm auf Tuchfühlung gehen, während sich dazwischen ein kurzer, aufregend geformter 17-Liter-Tank duckt.
Dazu passen die sportlich tief angeklemmten Lenkerhälften und die Position der Fußrastenanlage perfekt – für Fahrer beinahe jeder Statur. Derart mit allen
Fasern des Körpers zum Vorderrad hin orientiert, mit jedem Gedanken bei den künftigen Herausforderungen, wird der Druck aufs Knöpfchen fast vergessen. Oder aus Selbstschutz? Tatsache ist: Angesichts dieser Stand-Performance kann es selbst altgedienten Haudegen beim Gedanken an das, was da im Maschinenraum lauert, mulmig werden. Verifizier-
ten 198 Kilogramm vollgetankt stehen versprochene 175 PS an der Kurbelwelle und gemessene 166 PS (bei zirka zwei Prozent Verlustleistung zwischen Kurbelwelle und Kupplung und fünf Prozent Messtoleranz) gegenüber. Beides Klassenrekord, obendrein die PS-Ausbeute ohne leistungsfördernden Staudruck gemessen. Dann sollen es gewaltige 184 PS sein, generiert aus 998 Kubikzentimetern. Die sind das Produkt aus 76 Millimeter Bohrung und nur 55 Millimeter Hub, aus einer Verdichtung von 12,7 zu eins, einer Drehzahl von 11700/min. Kaum vorstellbar, in diesem grazilen Motorrad.
Bis die ZX-10R losbellt. Dann glaubt man jede einzelne Pferdestärke. Das ist kein hektisches 600er-Gekreische, das ist die Macht des Hubraums, dank modernster elektronisch gestützter Gemischaufbereitung von der ersten Kurbelwellenumdrehung eindrucksvoll vorgetragen und über den ovalen, hochgezogenen Schalldämpfer aus Titan zu Gehör gebracht. Gasstoß folgt auf Gasstoß, mit den Drehzahlen wachsen die Zweifel. Wen wird es zerreißen? Dich, die Kawa, die Asphaltdecke?
Nichts von alledem, jedenfalls zunächst. Geschmeidig flutscht das erste Zahnradpaar ineinander, gut dosierbar kommt die Kupplung. Wer schon auf den ersten Metern unkontrollierbare Kraftausbrüche erwartete, sieht sich enttäuscht. Die ZX-10R rollt dahin, wie – ja eben wie eine 600er. Genau so, nur ohne Schalten. Lässt sich mit der gleichen Leichtigkeit von einer Kurve in die andere werfen, folgt zielgenau selbst engsten Radien, drückt mit Nachdruck, aber ohne Überraschungen auch im letzten Gang aus
engen Ecken. »Geschmeidig«, möchte man sagen, doch das trifft es nicht ganz. Da ist dieses Harte, Fordernde, dieses eindeutige Statement, resultierend aus der unmissverständlichen Steifigkeit des Rahmen-Motor-Verbunds, der straffen Fahrwerksauslegung, des spontan, allenfalls etwas hart ans Gas gehenden
Motors, der sich gerade mal in mittleren Drehzahlen tummelt, sowie der mächtig zubeißenden, fein dosierbaren Bremsanlage. »Dafür bin ich nicht gebaut«, lautet die Botschaft, die die bei diesem Tempo arg strapazierten Handgelenke ebenfalls unmissverständlich mitteilen. »Gib Feuer!«
Wohlan, so muss es sein, höhere
Aufgaben rufen. Vorher jedoch empfiehlt
die Vernunft, ein übersichtliches, nicht
zu enges Geläuf zu lokalisieren und auf notorische StVO-Bewahrer zu überprüfen. Denn das, was dann kommt, hat mit Vernunft nicht mehr viel zu tun, sondern tendiert eindeutig Richtung Wahnsinn. Ein Wahnsinn, der für alle, die abgebrüht genug sind, einen Blick auf den schlecht ablesbaren digitalen Drehzahlmesser zu werfen, irgendwo zwischen 9000 und 10000/min seinen Anfang nimmt. Dann reißt es – je nach gerade anliegender Fahrerhaltung – bisweilen noch im dritten Gang das Vorderrad gen Himmel und die ZX-10R nach vorne, als gäbe es kein Morgen. Dann steht die Welt da draußen still, während der Motor dreht und dreht und dreht. Und dreht.
Brrrrrrrrrr, Begrenzer. Irgendwo jenseits von 13000/min holt er einen zurück in die reale Welt. Die fliegt in diesen Drehzahlregionen, die ersten beiden Gänge ausgenommen, im Idealfall und unter wildem Aufbäumen nach spätestens 7,5 Sekunden immer weit jenseits der 200-km/h-Marke an einem vorbei. Der im oberen Geschwindigkeitsbereich jedoch beträchtlich voreilende Digitaltacho signalisiert beim Schalten in den fünften Gang bereits 280 km/h und hört bei 299 km/h zu zählen auf. Und dann steht
immer noch der sechste Gang mit enger Spreizung zum fünften parat.
Wird er eingelegt, katapultiert sich
die ZX-10R sogar unter schlechten Bedingungen – teilweise nasser Piste und recht kurzem Anlauf – auf echte 288 km/h, unter idealen Bedingungen sollten über 290 km/h locker drin sein (Werksangabe 295 km/h). Und zwar, ohne dass beim Fahrwerk auch nur Anflüge von
Instabilität zu registrieren sind und –
noch wichtiger – ohne dass selbst auf
Betonplattenautobahnen wie der A 81 ein zuckender Lenker den Adrenalinpegel in ungesunde Höhen treibt. Es rührt sich
etwas, okay, und wer die unteren Gänge richtig durchlädt, wird unter widrigen
Umständen den einen oder anderen Ausschlag registrieren. Von dem kritischen Verhalten der letzten Fireblade- oder
R1-Generation aber ist die ZX-10R weit entfernt. Auch auf Landstraßen dritter Ordnung. Sicher ein Verdienst des eigens für leichte und leistungsstarke Motorräder neu entwickelten Dunlop D 218, der mit hoher Eigendämpfung vieles wegfedert und bis auf minimales Shimmy zwischen 80 und 100 km/h wunderbar mit der Kawasaki harmoniert. Trotzdem würde man sich einen Lenkungsdämpfer wünschen, und sei es nur für die Psyche.
Weitaus dringlicher allerdings manifestiert sich auf mäßigem Belag der Wunsch nach etwas mehr Komfort. Speziell das Federbein zeigt sich straßenbaulichen Unzulänglichkeiten gegenüber unnachgiebig und gibt diese nicht nur
umgehend ans Steißbein des Fahrers weiter, sondern leitet die daraus resultierenden Aufstellmomente in Kurven mit Bodenwellen zudem nahezu ungefiltert
in das Fahrwerk ein. Ein runder Strich
fällt unter diesen Bedingungen schwer, ständig sind Korrekturen nötig, die dank des federleichten Handlings zwar locker von der Hand gehen, aber trotzdem alle Aufmerksamkeit verlangen.
Ein Vorwurf, der in der unerbittlichen MOTORRAD-Punktewertung seinen Niederschlag finden muss. Genau wie der spärliche Windschutz, der als Soziusplatz getarnte Folterstuhl, die schlechte Sicht
in den Rückspiegeln, das im Vergleich zur Vorgängerin mittelmäßige Licht. Abseits der reinen Fakten jedoch gilt: Auf dieser ZX-10R bestimmt das Bewusstsein das Sein. Die Gewissheit, auf einem der heißesten Eisen zu sitzen, die je-
mals für den öffentlichen Straßenverkehr zugelassen wurden, doch keinesfalls für irgendwelche Trampelpfade. Diese Gewissheit führt zurück auf den rechten Weg. Gut ausgebaute Landstraßen, besser noch die Rennstrecke. Dieses wunderbar handliche und dennoch stabile Fahrwerk genießen, die fulminanten Bremsen, eine tadellos funktionierende Anti-Hopping-Kupplung, das glasklare Feedback. Die insgesamt besten Durchzugswerte erleben, die MOTORRAD bei einem Serienmotorrad jemals gemessen hat, die Leistungsreserven wenigstens
ab und zu mal ankratzen. Das Leben kann so grün sein.

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Was sonst noch auffiel - Kawasaki ZX-10R

Was sonst noch auffiel
Getriebe mit rennmäßiger Abstufung,
sehr langer erster Gang, enge Spreizung
zwischen den Gängen fünf und sechs
Perfekt funktionierende, einstellbare
Anti-Hopping-Kupplung
Radial verschraubte Vierkolben-Bremszangen, 300-Millimeter-Wave-Bremsscheiben
Programmierbarer Schaltblitz, Laptimer
für 99 Runden
Serienmäßige Wegfahrsperre
Kleines Staufach unter dem Soziussitz,
Gepäckhaken


Fahrwerkseinstellungen:

im Test
Gabel
Federbasis: sechs Ringe sichtbar
Druckstufe: sieben Klicks offen
Zugstufe: neun Klicks offen
Federbein
Federbasis: 13 Gewindegänge sichtbar
Druckstufe: drei Umdrehungen auf
Zugstufe: 1 ¾ Umdrehungen auf
Reifenluftdruck im Test: 2,3/2,5 bar
(Landstraße), 2,5/2,9 bar (Autobahn)

Technische Daten - Kawasaki ZX-10R

Motor: wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, je zwei oben liegende, kettengetriebene Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Tassenstößel, Nasssumpfschmierung, elektronische Saugrohreinspritzung, Ø 43 mm, Motormanagement, ungeregelter Katalysator, E-Starter, Drehstromlichtmaschine 424 W, Batterie 12 V/10 Ah. Bohrung x Hub 76,0 x 55,0 mmHubraum 998 cm3Verdichtungsverhältnis 12,7:1Nennleistung 128,4 kW (175 PS) bei 11700/minMax. Drehmoment 115 Nm (11,7 kpm) bei 9500/minSchadstoffwerte (Homologation) CO 1,680 g/km, HC 0,380 g/km, NOx 0,060 g/kmKraftübertragung: Primärantrieb über Zahnräder, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, O-Ring-Kette, Sekundärübersetzung 39:17. Fahrwerk: Alubrückenrahmen, Motor mittragend, geschraubtes Rahmenheck aus Aluminium, Upside-down-Gabel, Gleitrohrdurchmesser 43 mm, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Alu-Zweiarmschwinge, Zentralfederbein mit Hebelsys-tem, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 300 mm, Vierkolben-Festsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 220 mm, Einkolben-Schwimmsattel. Alugussräder 3.50 x 17; 6.00 x 17Reifen 120/70 ZR 17; 190/50 ZR 17Bereifung im Test Dunlop D 218 JFahrwerksdaten: Radstand 1385 mm, Lenkkopfwinkel 66,0 Grad, Nachlauf 102 mm, Federweg v/h 120/125 mm. Service-Daten Service-Intervalle alle 6000 kmÖl- und Filterwechsel alle 12000 km/3,0 lMotoröl SAE 10 W 40 Telegabelöl SAE 10 W Zündkerzen NGK-CR9EIA-9Kette 5/8 x 5/16, 110 RollenLeerlaufdrehzahl 1100±50/minVentilspiel Ein-/Auslass 0,17–0,22/0,15–0,24Reifenluftdruck vorn/hinten 2,5/2,9 barGarantie zwei Jahre ohne KilometerbegrenzungFarben Grün, Schwarz, BlauPreis 12995 EuroNebenkosten zirka 105 Euro

MOTORRAD-Messungen - Kawasaki ZX-10R

Fahrleistungen
Höchstgeschwindigkeit1 295 km/h
Beschleunigung
0–100 km/h 3,2 sek
0–140 km/h 4,7 sek
0–200 km/h 7,5 sek
Durchzug
60–100 km/h 3,6 sek
100–140 km/h 3,2 sek
140–180 km/h 3,1 sek
Tachometerabweichung
effektiv (Anzeige 50/100) 48/96 km/h
Kraftstoffart Super
Verbrauch im Test
bei 100 km/h 5,0 l/100 km
bei 130 km/h 5,8 l/100 km
Landstraße 5,9 l/100 km
Theoretische Reichweite 288 km
Maße und Gewichte
L/B/H 2050/750/1110 mm
Sitzhöhe 820 mm
Wendekreis 6380 mm
Gewicht vollgetankt 198 kg
Zulässiges Gesamtgewicht1 380 kg
Zuladung 182 kg
Radlastverteilung v/h 52/48 %
Tankinhalt1 17 Liter

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023