Test Suzuki GSX-R 600
Rauschmittel

Das Beste an der GSX-R 600 ist – dass sie Straßenzulassung hat.

Schnallt euch an, Leute. Wir nähern uns dem äußersten Zivilposten der Supersport-Sphäre: gemessene 113 PS, 257 km/h Topspeed und – Achtung, jetzt kommt’s – 192 Kilogramm vollgetankt! Damit nagelt die brandneue GSX-R 600 ihre Konkurrenz – patsch – an die Wand. Genau das wollte Suzuki. Rache, Drama, Highrisk – ohne Rücksicht auf die Wald- und Wiesenfraktion.
»Own the racetrack«, schrieben sie der »R« ins Fahrtenbuch. Und bei ihrer Feuertaufe auf der Grand-Prix-Strecke von Valencia, nachzulesen in MOTORRAD 23/2000, ließ die Sportskanone derart den Rauch rein, dass selbst den abgefeimtesten Testfahrern der Atem stockte. Es müsste mit dem Teufel zugehen, ginge die Krone der Rennstrecke beim nächsten 600er-Showdown nicht an Suzuzki.
Doch bei allem Respekt: Das richtige Leben spielt auch für dieses hochkarätige Bike größtenteils in den Niederungen des öffentlich-rechtlichen Straßenverkehrs. In einer Welt ohne Reifenwärmer, Rundenzeiten und Auslaufzonen. Wo acht Kilo weniger, fünf PS mehr und eine megaschlaue Einspritzanlage vielleicht gar nicht so dringend nötig gewesen wären. Engere Ventilwinkel, höhere Verdichtung, steilere Einlasskanäle – schön und gut. Den größeren Luftfilterkasten nehmen wir auch. Den neuen Rahmen sowieso. Die Frage ist nur: Was haben wir davon – zwischen Schwäbisch Hall und Wüstenrot?
Ganz einfach: Ein verdammt gutes Gefühl. Freilich nix für Bausparer. Für die gibt’s ja die GSX 600 F. Günstig, wohnlich, zeitlos im Design. Eine GSX-R aber wendet sich ausschließlich an bekennende Speedfreaks. Wer ohne Verzicht von A nach B kommen will, scheitert bereits beim Aufsteigen. Denn erst mal gilt es, seine Gräten unterzubringen, zwischen tief montierten Lenkerhälften, steil nach oben weisendem Heck, breit bauendem Höcker und mächtigem Tank. Angetan, deine Hausstrecke in Brand zu setzen, bietet das Heizeisen alles – nur keinen Langstreckenkomfort . »R« fahren ist Sport. Basta. Und behaupte später keiner, wir hätten ihn nicht gewarnt.
Wie sie glüht, wie sie faucht, wie leicht er dreht und dich permanent anstiftet, Stoff zu geben: 8000, 9000, 10000/min – puuuh, schon wieder viel zu schnell. Großhirn an Gashand: abbrechen, sofort! Bauch an Großhirn: Memme. Mach weiter. Bei 11000 fackelt da unten ein Feuerwerk ab, das dich in null Komma nichts auf 14500 Umdrehungen und damit in den Begrenzer katapultiert. Nicht zu fassen, welchen Wirbel der kleine Vierzylinder veranstaltet. Und durchziehen tut er auch. Subjektiv sogar besser als sein Vorgänger. Laut Tellert-Messgerät schlechter. Was kausal mit den Witterungsbedingungen bei den Testfahrten zusammenhängen könnte: stark böiger Wind.
Jedenfalls nötigt die 600er im gutbürgerlichen Straßenverkehr kaum mehr Schaltarbeit auf als die GSX-R 750. Die haargenau gleich aussieht und ähnlich fährt. Ein bisschen träger vielleicht – wobei auch die »Sechser« keine Ausgeburt an Handlichkeit ist. Man muss sie schon ein bisschen zwingen. Aber genau das macht dieses unbeschreiblich präsente, racingmäßige Schräglagenfeeling aus. Du fühlst dich wichtig. Verkommst nicht zur Begleiterscheinung, im Fahrstuhl eines Vollautomaten. Die GSX-R braucht dich. Und sie braucht deinen Plan. Wenn der gut ist, geht sie mit der Präzision eines Kurvenscanners ans Werk.
Klar sind die Federelemente in alle Richtungen verstellbar. Unter Supersportlern trägt man heutzutage nichts anderes mehr. In vorbildlicher Manier lässt sich die Dämpfung der hochsensiblen Komponenten auf jeden Fahrstil, Gewichts- und Straßenzustand programmieren. Doch Vorsicht, rackzack gerät das harmonische Gefüge aus der Balance. Von wegen Lug- und Trugstufen: Eine halbe Umdrehung an den unscheinbaren Einstellschräubchen kann über sportlich straff oder kuschelweich entscheiden.
Die Bremsen sind anders. Eher hemdsärmelig: reinlangen und wohlfühlen ist eins. Wer jahrelang im Zweifingersystem gestoppt hat, wird zunächst zwar über den hohen Anfangswiderstand erschrecken. Bald aber möchte man das deftige Miteinander von Hebel, Belägen und Scheiben nicht mehr missen. Zumal die Wirkung stimmt. Das Feedback der Reifen stimmt auch. Pirelli Dragon Evo Corsa S steht drauf. Dahinter steckt jede Menge Grip. Selbst bei arschkaltem Asphalt plus Nässe sorgen die Italo-Pneus für eine gute Beziehung zur Umwelt.
Beim Motor übernimmt PAIR diese Rolle. PAIR – wie »pulsed secondary air injection«. Die hauseigene Suzuki-Abgasnachverbrennungsanlage. Katalysator is nich. Trotz Einspritzung und Motormanagement. Dafür weiß sich das neue Triebwerk im Umgang mit dem Brennstoff zurückzuhalten: 5,3 Liter auf der Landstraße, 3,8 bei konstant 100 km/h. Respekt, Respekt. Es geht also doch. Suzuki hat die Tücken der modernen Gemischaufbereitung im Griff. Allerdings haben die Leute in Hamamatsu während der letzten Jahre auch nicht in der Nase gebohrt, sondern SDTV erfunden. Das »Suzuki-Dual-Throttle-Valve-System«, bei dem zwei Drosselklappen pro Ansaugkanal zum Einsatz kommen.
Man muss diese Technik nicht unbedingt verstehen. Wichtig ist, was unterm Strich rauskommt. Neben dem niedrigen Verbrauch, sind das so schöne Sachen wie tadelloses Ansprechverhalten, lineare Leistungsentfaltung und homöopathisch dosierte Lastwechselreaktionen – zumindest bei sittlichem Umgang mit dem Gasgriff. Nervöse Gemüter dürfen hingegen mit diversen Zuckungen seitens der Antriebseinheit rechnen, wenn sie im Himmelreich fünfstelliger Drehzahlen am Hahn herumspielen.
Wie – Windschutz? Ach so. Stimmt. Wir waren ja eigentlich beim richtigen Leben. Fünfstellige Drehzahlen kosten dich, wenn’s dumm läuft, Wochen den Führerschein. Windschutz also: gar nicht schlecht. Passt bis grob 210 km/h. Soziuskomfort? Dürftig. Ginge es ums Sitzen allein, wäre die Sache okay. Aber irgendwie fehlt es hinten an Halt. An Gepäckhaken hat Suzuki gedacht. Benzinuhr? Fehlanzeige. Zeitmesser? Vorhanden. Kaltstart? Tadellos. Licht? Und wie! Für die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens ist also immerhin gesorgt. Mehr haben wir nicht erwartet, von einem Motorrad, das eins zu eins aus dem Unterholz auf die Waldgerade von Hockenheim einbiegen kann.

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Erscheinungsdatum 15.09.2023